Über ein Dutzend Bücher hat Michail Gorbatschow geschrieben. Weil so viele Menschen zur Präsentation seines letzten Werkes gekommen waren, beschloss der ehemalige Präsident der Sowjetunion, das – Zitat – "Zwiegespräch mit den Menschen fortzuführen". Hinter seiner Vielschreiberei dürfte aber vielmehr der Wunsch stecken, sich zu erklären. Vor allem dem russischen Volk gegenüber, das ihn nicht versteht, weswegen er mit Lügen überzogen werde. Er melde sich aber auch als "Störfaktor für die heutige Regierung" zu Wort. Die aktuelle politische Elite habe einen Kurs eingeschlagen in Richtung ewiger Machterhalt, um ohne jegliche Kontrolle regieren zu können, um ihren eigenen materiellen Wohlstand zu sichern."
Doch, ehe der Leser erfährt, wie Gorbatschow heute über Präsident Wladimir Putin urteilt, muss er sich gedulden. Erst einmal arbeitet sich der Ex-Generalsekretär der KPdSU ab an alten Geschichten, an dem Verrat durch engste Verbündete, der Halsstarrigkeit der Genossen:
Gorbatschow malträtiert den Leser mit unzähligen Reden, Aufsätzen, Briefen. Der Hass auf seinen Nachfolger Boris Jelzin hat sogar dessen Tod 2007 überdauert. Gorbatschow dokumentiert, wie Jelzin ihn aus Kreml und Dienstwohnung warf, die Arbeit der Gorbatschow-Stiftung torpedierte. Was er dem Deutschlandfunk vor fünf Jahren in einem Interview zum 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung sagte, klingt in seinem jüngsten Buch nicht anders. Gorbatschow ist ein zum Teil verbitterter Mann, weil vielen Russen in ihm und in Jelzin einen Verräter sehen, die beide den Zerfall der Sowjetunion betrieben hätten. Dabei kämpfte kaum jemand so verzweifelt wie der letzte Präsident der Sowjetunion um deren Erhalt.
"Ich höre das jetzt 20 Jahre. Halten Sie doch ein öffentliches Tribunal ab, hängen Sie mich auf! Nur bitte, wenn Sie das schon tun, dann bitte nicht für das, was Jelzin angerichtet hat. Und bitte, wenn Sie mich aufhängen wollen, dann bitte weit von Jelzin entfernt!"
Dass Jelzin die Verfassung auf den Präsidenten zuschneidern ließ, den ersten Tschetschenienkrieg lostrat, sich mit den Oligarchen, die das Land plünderten, verbündete und von ihnen seine Wiederwahl finanzieren ließ, all das ist Schnee von gestern. Erklärt aber auch, warum Gorbatschow so lange Jelzins Nachfolger gegenüber milde gestimmt war. Der alte Widersacher war schachmatt, aus Sicht von Gorbatschow konnte es mit dem neuen Präsidenten Putin nur bergauf gehen.
Nach 187 Seiten wendet sich Gorbatschow ihm endlich zu, lobt dessen Kampf gegen die Armut der Bevölkerung, applaudiert, dass Putin das, so wörtlich "Terrornest in Tschetschenien" ausräucherte. Sorgt sich aber schon um Putins autoritäre Züge, die die Macht der Medien, des Parlaments und der Regionen schwächten. Für den Unternehmer Chodorkowskij, der unter Putin zehn Jahre im Gefängnis saß, hält sich Gorbatschows Mitleid in Grenzen, hatte der ehemalige Jukos-Chef doch Jelzins zweite Amtszeit mit ermöglicht.
Gorbatschows Bild in Deutschland könnte Kratzer bekommen
Das in Deutschland verklärte Bild von Gorbi könnte einige Kratzer bekommen, denn in seinem Buch zeichnet Gorbatschow im Selbstporträt einen wankelmütigen, unentschlossenen Alt-Politiker, der sich nicht der Opposition anschließt, weil – Zitat – "er dem Präsidenten lieber offen berichten möchte, was im Land vor sich geht." Und allzu viel Nachsicht übt – quasi von Präsident zu Präsident. Gorbatschow an einen Journalisten:
"Wenn du einmal in der Haut eines Präsidenten gesteckt hat, dem als Erbe ein Chaos hinterlassen wurde, ein Fast-Zerfall, dann würdest du verstehen, dass es hier nicht um Demokratie nach dem Lehrbuch geht, sondern darum zu retten, zu handeln."
Ermüdend ist die umfangreiche Zweitverwertung bereits geschriebener Texte, die nicht gestrafft oder neu zusammengefasst, sondern eins zu eins nochmal verwendet werden. Eine Arbeit, die die Lektorentätigkeit übersteigt, die ein Autor selbst leisten muss, soll der Leser bei der Stange gehalten werden.
Erst mit der Finanzkrise setzt Kritik ein. Die Banken hätten ohne demokratische Legitimation Geld für die Tilgung ihrer Auslandsschulden bekommen, obwohl viele keine Steuern zahlen würden. Geld, das man effektiver in Investitionen angelegt und so die russische Wirtschaft angekurbelt hätte.
2010 wird Gorbatschow erstmals mit fabrikmäßig erstellten Hassmails sogenannter Internet-Trolle überschwemmt, nachdem er die Regierungspartei "Einheit" mit der alten KPdSU verglichen hat. Seine schärfer werdende Kritik am System Putin formuliert er nicht neu, sondern zitiert sich aus einem Interview:
"Die sogenannte Machtelite nutzt alle Vorteile der Demokratie für sich – Marktwirtschaft, offene Grenzen usw. – und erklärt dem Volk, wie schädlich Demokratie sei."
Russland habe die Demokratie noch gar nicht ausprobiert. Rhetorisch fragt er in dem Interview:
"Warum haben die Machthaber Angst? Weil sie wissen, dass sie, wenn die Demokratie funktionieren würde, für vieles die Verantwortung übernehmen müssten. Die Gesellschaft aufzuteilen in die Eigenen und die Fremden – das ist ein direkter und verlockender Weg zu Repressionen. Hinzu kommt die Unfähigkeit, in einen Dialog zu treten, und die Versuchung, die Opponenten zu Feinden zu erklären."
Ab den gefälschten Parlamentswahlen 2011, in dem Buch hat man nun gut 300 Seiten hinter sich, kritisiert er Präsident Putin und dessen dritte Amtszeit unverhohlen und gibt zu, sich zu schämen, dass er ihn früher unterstützt hat. Winzige Kurskorrektur auch beim Thema NATO. Vor fünf Jahren wetterte er gegen die Osterweiterung.
"Das war ein großer Fehler. Über die NATO und ihre einseitigen Handlungen sollten viele Probleme gelöst werden. Das hat nicht funktioniert. Das ist typisch für viele westliche Politiker. Sie sagen irgendetwas ganz Allgemeines, erinnern daran ständig, was genau genommen, Blödsinn ist."
Heute erkennt Gorbatschow, dass Putins Propaganda-Maschinerie die NATO vor allem als "Gefahr von außen" beschwört und damit innenpolitisch in Russland instrumentalisiert.
Wie zuvor bei Syrien verlässt Gorbatschow bei der Ukraine die Urteilsfähigkeit fast vollständig. Über die russische Annexion der Krim verliert er kein Wort. Den Ukrainekrieg führt der Friedensnobelpreisträger auf die nicht durchdachte Auflösung der UdSSR vor fast 25 Jahren zurück. Schuld am Konflikt hätten auch die Radikalen in Kiew.
Schon einmal, in der Perestroika unterliefen dem Glasnost-Mann grobe Fehler bei der Einschätzung, damals ging es um seine Verbündeten, sie verrieten ihn. Weit besser als die Analyse beherrscht Gorbatschow das Versöhnen. Das erwies sich für Deutschland als Glück.
Michail Gorbatschow: "Das Neue Russland. Der Umbruch und das System Putin"
In der Übersetzung von Boris Reitschuster, Quadriga Verlag, 560 Seiten für 25 Euro.
In der Übersetzung von Boris Reitschuster, Quadriga Verlag, 560 Seiten für 25 Euro.