Archiv

Militäroffensive der Türkei in Afrin
"Die Situation der Zivilbevölkerung ist katastrophal"

Schlimme Versorgung mit Wasser, kaum Medikamente und abgeschnitten von der Außenwelt: Die Situation der Menschen in der nordwestsyrischen Region um Afrin sei katastrophal, sagte Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker im Dlf. Die Bundesregierung forderte er auf, alles zu tun, um die türkischen Luftangriffe zu beenden.

Kamal Sido im Gespräch mit Christine Heuer |
    Türkische Militäroperation Olivenzweig in der Region um Afrin: Rauch steigt über den Wäldern auf
    Angriff auf Afrin: "Erdogan will Afrin über den Köpfen der Terroristen zerstören", sagt Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker (imago / Depo)
    Christine Heuer: Die Angst geht um in Afrin. Die türkische Armee bombardiert die Region. Am Boden ist die Freie Syrische Armee an der Seite türkischer Soldaten unterwegs. Die FSA, das ist ein Konglomerat verschiedener Milizen, darunter angeblich viele mit islamistischem Hintergrund. Wiederholt sich nun der Schrecken, den der IS verbreitet hat in Syrien und im Irak? Hat die Türkei wirklich Islamisten nach Afrin geschickt, vor denen sich die Kurden und die nichtmuslimischen Minderheiten - Jesiden und Christen leben in der Region – fürchten müssen? – Kamal Sido, Nahost-Referent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen, sieht das so. Wir sind jetzt am Telefon mit ihm verbunden. Guten Morgen, Herr Sido.
    Kamal Sido: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Sie stammen selbst aus Afrin und Sie haben dort noch Familie. Was hören Sie denn von Ihren Angehörigen und Freunden in Afrin in diesen Tagen?
    Sido: Bis zum 20. Januar, bis zu diesem großen Angriff der Türkei, hatten wir jeden Kontakt mit meiner Mutter, 90 Jahre alt, in Afrin per WhatsApp. Die türkische Regierung hat die Internet-Verbindungen gekappt. Während der Angriffe werden auch Telefonnetze gekappt. Es ist kaum möglich, mit der Mutter und der Schwester, den Brüdern zu reden. Es gibt Sprachnachrichten, "Hallo", dann müssen wir aufhören. Das ist aber immer seltener.
    Alle Telefonnetze und das Internet gekappt
    Heuer: Das heißt, Sie sind abgeschnitten von Ihrer Familie und Ihre Familie vor allen Dingen von Ihnen?
    Sido: Richtig. Wir sind abgeschnitten und hören dann Nachrichten über Dritte, wenn jemand gerade Glück hat, weil die syrischen Netze funktionieren nicht. Während die türkische Armee, die Luftwaffe die Menschen dort angreift, werden alle Telefonnetze und das Internet gekappt. Wie gesagt, wir reden immer seltener. Miteinander reden wir nicht mehr, sondern nur per Sprachnachrichten, oder über Dritte hören wir, wie es der Familie geht.
    Heuer: Und was sagen die Dritten? Wie ist die Situation in der Region Afrin im Moment?
    Sido: Die Situation der Zivilbevölkerung ist katastrophal. Afrin war sowieso bis zu diesem Angriff von der Außenwelt abgeschnitten, von der Türkei im Norden und Westen, im Süden und im Osten zum Teil von den radikal-islamistischen Gruppen. Die Versorgung mit Wasser war schlecht und jetzt, als die türkische Luftwaffe mit vielen Kampfflugzeugen die Region angegriffen hat, ist es noch schlimmer geworden.
    Es ist knapp, was Medikamente angeht. Gestern, vorgestern, einen Tag davor hat der Leiter des Krankenhauses in Afrin einen Appell an die Welt gerichtet, sie brauchen dringend Medikamente. Aber es ist sehr, sehr schwierig, dort hinzukommen. Alle Menschen, die dort sind, mit denen wir irgendwie reden oder andere irgendwie Kontakt aufnehmen, alle sagen mit einer Stimme, diese Luftangriffe müssen sofort beendet werden. Die kurdische Miliz YPG leistet zwar Widerstand, aber gegen die Luftwaffe haben die Menschen dort kaum eine Chance.
    Sorgen auch um das Schicksal der Jesiden
    Heuer: Wovor haben die Menschen am meisten Angst?
    Sido: Erst einmal vor den Kampfflugzeugen. Wenn die am Himmel sind, die bombardieren wahllos Ortschaften, Olivenhaine, zum Beispiel die Stadt Jindires (*) im Westen von Afrin ist zum Teil zerstört, ein Staudamm im Norden mit dem Stausee, der die Menschen in Afrin mit Trinkwasser versorgt, ist beschädigt. Wir machen uns Sorgen auch um das Schicksal der Minderheiten, der Jesiden, die am Rande der Stadt leben. Gerade in diesen Stunden wird ein Dorf der Jesiden, Qestel Jindu (*) im Osten von Afrin angegriffen, und dieses Dorf wurde bereits 2013 von dem Islamischen Staat und anderen Gruppen angegriffen.
    Sie wissen, was die Jesiden durchgemacht haben in den letzten Jahren, und wenn diese Gruppen noch mal kommen, wohin sollen die Jesiden fliehen. Viele haben Syrien vor vielen Jahren verlassen. Die letzten Jesiden am Rande Afrins sind in Gefahr. Die wenigen Christen, die in der Stadt sind, sind in Gefahr. Auch die kleine alevitische Minderheit, deren Stadt Mabata von der Luftwaffe angegriffen wird, ist in Angst. Der Appell lautet, die Luftangriffe müssen gestoppt werden.
    "Freie Syrische Armee ist ein Deckmantel"
    Heuer: Herr Sido, ich möchte aber noch mal bei den Minderheiten bleiben und bei dieser Freien Syrischen Armee, die an der Seite türkischer Soldaten in Afrin versucht, die Stadt Afrin einzunehmen. Sie haben über die Minderheiten gesprochen. Der IS ist dort jetzt nicht vor Ort. Was sind das denn für Soldaten oder Söldner in dieser Freien Syrischen Armee (FSA), vor denen sich gerade Minderheiten oder sehr gemäßigte Muslime jetzt so fürchten? Wie würden Sie die beschreiben?
    Sido: Die Freie Syrische Armee gibt es praktisch nicht. Die Freie Syrische Armee ist ein Deckmantel. Unter diesem Deckmantel verstecken sich verschiedene Namen. Wenn man die Namen anschaut, wenn man Videos von diesen Gruppen anschaut, wenn die sich in Marsch setzen – es handelt sich um islamistische, radikal-islamistische dschihadistische Gruppen. Die Namen dieser Gruppen, die Programme, was sie in Syrien vorhaben, die wollen einen Scharia-Staat in Syrien gründen. Es sind eindeutig islamistische, radikal-islamistische, dschihadistische Gruppen.
    Kehren wir zurück zur türkischen Armee selbst. Selbst die türkische Armee hat sich in den letzten Jahren unter dem türkischen Präsidenten Erdogan radikalisiert durch die Politik von Erdogan. Es handelt sich auch bei den türkischen Soldaten oft um Islamisten. Fragen Sie die Aleviten aus der Türkei. Auch sie haben vor dieser Armee Angst. Es handelt sich wirklich um Radikal-Islamisten, vor denen die Minderheiten, Christen, Aleviten, Jesiden, Angst haben.
    "Erdogan will dort Angehörige anderer Volksgruppen ansiedeln"
    Heuer: Herr Sido, was genau befürchten die Menschen? Was genau kann da passieren?
    Sido: Diese Angreifer, die werden die Zivilisten, die Jesiden, aber auch die moderaten Kurden nicht schonen, nicht verschonen. Das erklären die in den Videos ganz genau. Die Menschen werden als Ungläubige betrachtet und Afrin war historisch gesehen eine Oase, eine Insel, in der die moderaten Muslime gelebt haben. Meine Mutter ist Muslima, sie ist konservativ, aber für die türkische Armee, für Erdogan und für diese Gruppen ist sie nicht muslimisch genug. Die Menschen haben Angst, getötet zu werden.
    Heuer: Sie befürchten Massaker. Glauben Sie, das passiert mit Billigung der türkischen Regierung? Wissen die, was sie tun?
    Sido: Erdogan hat offen gesagt, hat erklärt, er will Afrin über den Köpfen der Terroristen zerstören. Und mit den Terroristen meint er die Söhne, die Kinder von Afrin, die ihre Heimat in diesem Krieg geschützt haben, Hunderttausende von arabischen Flüchtlingen dort aufgenommen haben. Er will die Region zerstören, die Menschen vertreiben. Das hat er ganz genau erklärt. Er will dort Angehörige anderer Volksgruppen ansiedeln.
    Heuer: Herr Sido, wir haben wirklich nur noch ein paar Sekunden. Aber ich bitte Sie trotzdem. Sagen Sie uns noch, was Sie sich von Deutschland wünschen.
    Sido: Wir wünschen von Deutschland, die Menschen in Afrin, die Jesiden in Deutschland wünschen von der Bundesregierung, alles zu tun, damit diese Luftangriffe beendet werden. Die Menschen werden nicht lange aushalten können. Wir müssen den Menschen helfen, diesen Krieg zu beenden, und zwar sofort.
    Heuer: Kamal Sido, Nahost-Referent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen. Herr Sido, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Sido: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) Unser Gesprächspartner Dr. Kamal Sido hat uns darauf hingewiesen, dass in einer ursprünglichen Fassung die beiden geografischen Bezeichnungen nicht richtig waren. Wir haben sie entsprechend korrigiert.