Um zu begreifen, dass die katholische Kirche Polens in der Krise steckt, muss man sich nur kurz mit Elzbieta Joachiniak unterhalten. Eine resolute Rentnerin Anfang 70, mit wachen Augen und Bestimmtheit im Ton. Anfang 2019 ist sie aus der katholischen Kirche ausgetreten. Dabei war sie ihr Leben lang gläubig, hat so auch ihre Kinder erzogen, ging jeden Sonntag in die Kirche und hörte auf das, was der Priester von der Kanzel predigte. Damit sei nun Schluss.
"Denn unsere Priester und Bischöfe sind der lebende Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt. Wenn diese studierten Menschen, die sich im Glauben und in der Kirche so gut auskennen, keine Angst haben, bestraft zu werden, weil sie Kinder sexuell missbrauchen - dann kann es Gott nicht geben! Dann geht es nur um Geld und Macht!"
Der Austritt fiel Elzbieta Joachiniak nicht leicht. Denn sie erinnert sich noch gut an die Zeiten, als dieselbe Kirche ihr Halt gab und sie beschützte. Es waren, wie sie sie nennt, die dunklen Jahre, nachdem 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde:
"Die Kirche war damals eine andere und deshalb ging ich hin. Ich erinnere mich an eine Prozession, an der ich teilnahm, am Ende sangen wir alle ‚Gott der du Polen‘, unsere zweite Nationalhymne - was habe ich da geheult vor Rührung! Das war so eine Kraft! Wir haben uns keine Gedanken gemacht, was die Pfarrer sonst so taten. Es ging um die Freiheit, die Kirche hat sich gegen das Regime gestellt – das zählte! Und heute? Heute lassen sie sich von der Regierung auch noch Geld in den Hintern blasen!"
Großer Vertrauensverlust in die katholischen Kirche
Die Stadt Poznan, in der Elzbieta Joachiniak lebt, liegt in Westpolen, hat 540.000 Einwohner und hat seit fünf Jahren einen bekennenden Atheisten als Bürgermeister: Jacek Jaskowiak. Ungewöhnlich genug für polnische Verhältnisse - und doch sagt auch seine Haltung etwas aus über die Rolle der Kirche im Land:
"Ich bin heute Atheist, obwohl ich früher zu den Jesuiten wollte. Auf meinem Schreibtisch liegt die Bibel, in der ich mehrmals die Woche nachschlage - neben der Thora und dem Koran. Ich bin befreundet mit Priestern, mit Dominikanern und Jesuiten. Und gleichgültig, was die Kirche in der Politik heute anstellt, die Zusammenarbeit mit der Kirche vor Ort ist mir sehr wichtig. Bei der Hilfe für Obdachlose zum Beispiel - mit der Caritas verteilen wir 1.500 Mahlzeiten an sie und andere sozial Benachteiligte, wir bieten zusammen ärztliche Versorgung für Obdachlose an."
Die katholische Kirche hat sich ihre Stellung und Autorität in der polnischen Gesellschaft über Jahrhunderte erkämpft. Sie ist nicht so einfach zu zerstören. Aber die letzten Umfragen weisen auf einen großen Vertrauensverlust hin. Wie das Marktforschungsinstitut IBRiS im September 2019 bekanntgab, vertrauen nur noch 20 Prozent der Polen hundertprozentig der katholischen Kirche. Das sind genauso viele wie die, die ihr gar nicht vertrauen. Der große Rest schwankt irgendwo dazwischen. Das bestätigt auch der Politologe Szymon Ossowski von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan:
"Weit über 90 Prozent sind offiziell katholisch, aber sonntags zur Kirche gehen weniger als 40 Prozent! Das ist ein Riesenunterschied zu früher. Es ist auch für viele Polen ein wichtiges Element ihrer Tradition: Man wird getauft, man geht zur Kommunion und man geht eben zum Religionsunterricht. Das ist einfach so! Und genau das ändert sich gerade."
Dokumentarfilm macht Missbrauch durch Priester öffentlich
Ein Grund dafür, dass sich das Verhältnis vieler Polen zur Kirche gerade ändert, ist der Dokumentarfilm "Sag es niemandem":
"Er berührte meine Brüste, masturbierte mit meinen Händen, küsste mich. Die ganze Zeit wiederholte er: mehr, mehr, mehr. Und als er fertig war, verließ er das Zimmer und tat so, als ob nichts geschehen war. Ich würde ihm gern klar machen, dass er mit dem, was er getan hat, mein Leben zerstört hat. Für mich verdient er es nicht, Priester genannt zu werden."
Sätze von einer Offenheit, die es in Polen bislang kaum gab. Anna Misiewicz ist eines von vielen Opfern, die im Film auftreten. Als sie sechs Jahre alt war, begann der Pfarrer aus ihrem Dorf sie zu missbrauchen. Mit acht hörte es auf. Im Film ist sie 39. Der Film des Regisseurs Tomasz Sekielski dauert über zwei Stunden und wurde über crowdfunding finanziert. Im Mai erschien er im Internet, auf Youtube, und schlug ein wie eine Bombe.
"Man kann die Wirkung des Films gar nicht überschätzen", sagt Roman Bielecki vom Dominikaner-Orden in Poznan. Er ist einer der wenigen Kirchenvertreter, die einem Interview für diese Radiosendung zustimmten:
"In Polen haben den Film mehr als 25 Millionen Menschen gesehen, und das nur in der polnischen Version! Bei den englisch und spanisch untertitelten weiß ich das gar nicht. Das, was ihn so wertvoll macht, ist, dass er die Opfer sichtbar macht. Sie werden konkret. Und das ist das, was am meisten in diesem Film schockiert. Mich zumindest, denn ich hatte damit bisher nichts zu tun – mich hat niemand missbraucht und ich kenne auch niemanden, dem das angetan wurde."
"Bisher waren Priester bei uns die besseren Menschen"
Über Missbrauchsskandale in der römisch-katholischen Kirche weltweit wird seit Jahrzehnten berichtet. Im Fall von Polen wurde lange Zeit nichts dergleichen bekannt. Der nahezu unverwüstbare Ruf der Kirche, erworben nicht zuletzt in der Zeit des kommunistischen Regimes, hielt, die moralische und geistige Deutungskraft der Kirche auch. Bis jetzt.
"Bisher waren Priester bei uns die besseren Menschen: Sie waren gläubiger, heiliger, sündigten nicht - aber das ist nicht wahr! Das hat der Film gezeigt! Auch wir sind Sünder, auch wir brauchen Hilfe!! Denn dieses Denken: ‚Alle Menschen sind gleich, nur Priester sind gleicher‘, ist falsch. Wir alle unterstehen einem Gott und gehören einer Gemeinschaft an."
Rentnerin Elzbieta Joachiniak ist zu Besuch bei ihrer Freundin Urszula Matuszewska. Beide haben die Doku "Sag es niemandem" gesehen:
"Ich wäre nach dem Film am liebsten zu den Pfarrern hin und hätte sie geschüttelt. Nicht nur einmal. Ich kann das gar nicht fassen. Was für eine Schuld lädt ein solcher Pfarrer auf sich. Und das Kind sagt es seinen Eltern nicht, weil sie es ihm nicht geglaubt hätten."
"Ich wäre nach dem Film am liebsten zu den Pfarrern hin und hätte sie geschüttelt. Nicht nur einmal. Ich kann das gar nicht fassen. Was für eine Schuld lädt ein solcher Pfarrer auf sich. Und das Kind sagt es seinen Eltern nicht, weil sie es ihm nicht geglaubt hätten."
Kindheit in Kirche und Kommunismus
Dass die Eltern ihren Kindern nicht glaubten, hat auch mit der Zeit zu tun, in der der Missbrauch stattfand. Vieles spielte sich vor der Wende ab, in den 80er Jahren. Als die freie Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc im Untergrund agierte, und die Kirche Teil dieser Bewegung war. Elzbieta und Urszula reden über die Zeit vor der Wende, wo klar war, was gut und böse ist.
Urszula Matuszewska: "Meine Mutter war gläubig, aber mein Vater war Offizier der polnischen Volksarmee. Als Tochter eines Offiziers durfte ich nicht in die Kirche gehen. Aber ich bin hin, mit meiner Mutter, heimlich, bei meiner Großmutter auf dem Land. Das hat mich geprägt. Weil mein Vater Atheist war, konnte er seine Karriere in der Armee machen. Ich bin also erzogen worden von einem ungläubigen Vater und einer gläubigen Mutter."
Elzbieta Joachiniak: "Ich habe diesen Glauben auch nicht infrage gestellt. Es war so! Mein Vater war auch Kommunist, meine Mutter ging in die Kirche und sie hat mich erzogen! Ich erzog meine Kinder auch so - was ich heute sehr bedaure! Ich ging hin und dachte nicht weiter darüber nach. So war das!"
Katholische Kirche lenkt von pädophilen Verbrechen ab
Der Film "Sag es niemandem" erschien im Mai, es gab eine Debatte von enormem Ausmaß in den polnischen Medien - und danach Stille. Niemand wurde bestraft, niemand strafrechtlich verfolgt. Stattdessen tauchte ein anderes Thema plötzlich auf der öffentlichen Agenda auf:
"Die rote Pest hat unser Land zum Glück nicht mehr im Griff, was nicht bedeutet, dass es keine neue gibt, die unsere Seelen, Herzen und unseren Verstand beherrschen will. Sie ist nicht marxistisch-bolschewistisch, aber aus dem gleichen Holz geschnitzt: Statt rot ist sie Regenbogenfarben."
Die "regenbogenfarbene Pest", so formulierte es der polnische Erzbischof von Krakau, Marek Jędraszewski, bei einer Predigt Anfang August. Damit meinte der Geistliche Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, abgekürzt LGBT. So wurden über Nacht die pädophilen Verbrechen der polnischen Kirche verdrängt.
"Die Hetzjagd auf die Gruppe LGBT, die wir zur Zeit haben, hat auch damit zu tun, dass die Kirche von den pädophilen Skandalen ablenken will. Zumindest kann man es so interpretieren, denn nachdem der Film erschien, begann die Hetzjagd auf uns."
Davon ist Jowita Wycisk überzeugt, 48, Psychologin. Zusammen mit Joanna Smiecinska hat sie 2018 die "Stiftung Regenbogen-Familien" gegründet. Die beiden sind befreundet, leben in lesbischen Beziehungen und kämpfen für Rechte, die in westeuropäischen Staaten akzeptiert sind:
"Es herrscht heute ein größerer Hass gegenüber Atheisten und LGBT als früher. Ich erinnere mich an meinen Religionsunterricht, das war noch zu Sozialismus-Zeiten. Da sagte der Pfarrer zu uns: Atheisten sind unglückliche Menschen, die die Gnade des Glaubens nicht erfahren haben. Und darin lag überhaupt keine Aggression. Heute vergleichen Pfarrer Atheisten öffentlich mit dem Bösen, mit dem Teufel. Vor einigen Jahren waren es die Flüchtlinge, jetzt sind wir es, LGBT-Menschen. Und Atheisten gehören dazu."
Die Amtskirche schweigt
Die Attacken gegen LGBT sind nicht nur verbal: Gewalterfahrungen sind genauso Alltag wie Angriffe auf den zahlreichen Gay Prides, die in diesem Sommer in Polen stattfanden. Joanna Smiecinska stammt aus einer Kleinstadt, die Mutter weiß, dass sie lesbisch ist, aber sie schämt sich dafür. Und will nicht drüber sprechen, auch nicht mit ihrer Tochter.
"Ich bezeichne mich als Atheistin, obwohl ich katholisch erzogen bin, aber den Glauben habe ich sehr schnell verloren. Ich wäre vielleicht sogar fähig - auch wenn ich intellektuell mit den Glaubensdogmen nicht einverstanden bin - mich der Kirche gegenüber neutral zu verhalten, wenn die Kirche der Welt neutral gegenüber stünde. Aber leider ist die katholische Kirche der Welt gegenüber total feindlich eingestellt - jedenfalls der Welt, die nicht katholisch ist."
Früher, vor der Wende, gingen viele Polen zur Kirche, weil sie sich zur Freiheit bekannten. Heute treten viele aus der Kirche aus, weil sie sich zur Freiheit bekennen. Dazwischen liegen nur 30 Jahre. Wie die Amtskirche dazu steht, ist schwer in Erfahrung zu bringen. Auf Interview-Anfragen kommen Absagen wie diese:
"Der Erzbischof entschied, dass wir über diese Themen nicht reden werden, weil die Kirche sich weder politisch äußert noch im Wahlkampf engagiert. Hochachtungsvoll, der Pressesprecher der erzbischöflichen Kurie in Poznan, Priester Maciej Szczepaniak."
Keine Debatte über Pluralismus und Freiheit
Eine Ausnahme bildet Mieczysław Polak, Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Poznan und Studiendekan – und der Amtskirche insofern verbunden, als die fachliche Aufsicht dem Erzbischof von Poznan untersteht. Auf die Frage, ob die polnische Kirche immer noch an der Freiheit als Wert festhält - immerhin galt Johannes Paul II. als der polnische "Papst der Freiheit" – antwortet der katholische Geistliche:
"Pluralismus ist okay, aber es gibt einige Grundwahrheiten im Evangelium, die nicht zu hinterfragen sind. Das ist schwierig, aber für die Kirche geht Freiheit nicht ohne Wahrheit. Und die heutige Kultur oder Moderne oder Postmoderne, wie sie auch genannt wird, hat ein Problem mit der Wahrheit. Zum Beispiel haben Ehe und Familie im Christentum eine dezidierte Form. Das steht so im Evangelium. Und wenn nun meine Freiheit dem entgegensteht, ich also sage, ich bin frei, mit einer Frau oder einem Mann zu leben, dann lebe ich nicht nach dem Evangelium. Und ich finde, der christliche Glauben darf nicht zulassen, dass die Freiheit sich so weit entwickelt."
"Das kann man nicht direkt aus dem Evangelium ableiten, das ergibt sich eher aus der Tradition", meint dagegen Dominikanerpater Roman Bielecki: "Das Thema ist ein weites Feld und momentan sehr politisiert, weil es im Wahlkampf von beiden Seiten instrumentalisiert wird. Was mich daran am meisten stört, ist, dass diejenigen verletzt werden, die ihre Homosexualität entdecken und gleichzeitig in der Kirche bleiben wollen. Ich kenne viele, die deshalb zu uns zur Beichte kommen. Ich sage ihnen, die Lehre der Kirche besagt, dass keine Veranlagung eine Sünde ist. Das Tragische ist, dass die beiden Gruppen nicht miteinander reden und stattdessen in ihren eigenen Blasen leben."
Paulina Dolatowska wohnt in einer Plattenbausiedlung in Poznan, in einem 18-stöckigen Hochhaus. Paulina ist katholisch und lesbisch. Und Mitglied bei "Glauben und Regenbogen", einer Organisation, die im August 2018 gegründet wurde. Es ist die erste und bisher einzige Gruppe in Polen, die sich als amtskirchen-kritisch und gleichzeitig gläubig versteht. Für Paulina war es ein Glücksfall, dass diese Gruppe entstand.
"Weil ich das Gefühl suchte, nicht allein zu sein. Wenn ich zur römisch-katholischen Kirche ging, fühlte ich mich oft ausgeschlossen, und bei der LGBT-Community ist die Haltung sehr oft anti-Kirche. Da fühle ich mich auch öfter ausgeschlossen. Bei "Glaube und Regenbogen" fühle ich beide Elemente meiner Identität. Ich glaube nicht, dass Gott so grausam wäre, jemanden dazu zu verdonnern, gegen seine Natur zu leben und seine Identität. Aus der Kirche auszutreten kam deshalb für mich nicht in Frage. Wenn ich diese Gruppe nicht gefunden hätte, wäre ich wahrscheinlich weiter zu der römisch-katholischen Kirche gegangen, wenn auch mit einem Unwohlsein."
Enges Band zwischen Kirche und Regierungspartei
Was die meisten Polen - unabhängig von ihrer politischen und religiösen Haltung - fordern, ist die Trennung von Kirche und Staat. In einer Umfrage Mitte September sprachen sich mehr als 70 Prozent der Befragten dafür aus. Das Gegenteil also von dem, was die Amtskirche und die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" praktizieren. Denn das Band zwischen katholischer Kirche und PiS ist nach wie vor eng.
Eine politische Alternative für all jene, die mehr Laizität fordern, gibt es zwar: Seit Februar dieses Jahres tritt der offen schwul lebende Politiker Robert Biedron mit seiner neuen linksliberalen Partei Wiosna unter anderem für dieses Ziel ein. Und doch ist aus der Europa-Wahl 2019 die Regierungspartei PiS als stärkste Kraft hervorgegangen. Und auch für die nun anstehende Parlamentswahl Mitte Oktober zeichnet sich bislang kein Umschwung ab.
"Wir brauchen ein anderes Denken"
Poznans Bürgermeister Jaskowiak und Dominikanerpater Bielecki aber sind sich ohnehin sicher: Tiefgreifende gesellschaftspolitische Reformen brauchen Zeit. Zunächst gehe es darum, den Wandel innerhalb der polnischen Kirche weiterzutreiben, finden beide.
"Wir brauchen keine Reformation, sondern die Kirche muss den Nächsten mit Liebe anschauen. Denn das fehlt momentan am meisten in Polen. Das Gebot der Nächstenliebe, das in der Kirche eines der wichtigsten ist, muss respektiert werden."
Dominikanerpater Roman Bielecki geht mit seiner Forderung weiter:
"Wir brauchen ein anderes Denken. Davon spricht Papst Franziskus, und ich glaube, dass das viele polnische Priester erschreckt, denn ihre Welt geht zugrunde, in der sie bisher lebten. Nun sollen sie auch noch Laien mitentscheiden lassen, zum Beispiel durch die Schaffung von Gemeinderäten. Das sehen die Priester als Angriff auf ihr Leben. Aber so ein Denken ist wie ein praller Luftballon, der jeden Moment zu platzen droht."