Archiv

"Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit"
Die Suche nach Hinterbliebenen

Umberto Pasolini porträtiert in seinem Film einen Beamten, der seit 22 Jahren die Angehörigen von anonym Verstorbenen recherchiert - bis seine Stelle wegrationalisiert wird. Ein Film über Einsamkeit und Tod und wie diese in der modernen Gesellschaft verdrängt werden.

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
    Mr. May sorgt sich um die letzte Ruhe seiner Fälle.
    Mr. May sorgt sich um die letzte Ruhe seiner Fälle. (© Piffl Medien)
    Unter dem Licht einer Schreibtischlampe ordnet ein Mann ein Fotoalbum. Die Fotos zeigen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Aber es sind weder seine Freunde noch Angehörige seiner Familie. John May hat einfach einen seltsamen Beruf:
    "London, Bezirksamt Kennington, Kundenservice. John May am Apparat. Vielen Dank für Ihren Anruf. Gut. Das ist ganz, ganz wunderbar. Wie Sie wissen, ist ihr Vater bedauerlicherweise verstorben. Ja, das war vor sechs Wochen. Aber Sie wurden kontaktiert? Also genau genommen kümmern wir uns in dieser Abteilung darum, die Angehörigen von Verstorbenen zu finden. Ja, ja, ihr Vater. Nein, die Familie ist nicht verpflichtet, die Kosten der Beerdigung zu tragen."
    Seit 22 Jahre organisiert er die letzte Ruhestätte der Toten und sucht Angehörige und Freunde von einsam Verstorbenen. Etwa die des Alkoholikers, der wochenlang tot in seiner Wohnung lag, die des anonymen Stadtstreichers oder der alten Dame, der am Ende nur noch die Gesellschaft der geliebten Katze blieb. Aber dann wird auch bei der Londoner Stadtverwaltung der Rotstift angesetzt:
    - "Angesichts der angespannten Finanzlage führt die Behörde Rationalisierungsmaßnahmen durch. Wir lassen Sie gehen."
    - "Sie lassen mich gehen?"
    - "Mr.May, in den zwei Monaten, die ich hier bin, konnte ich Sie bei der Arbeit beobachten. Zweifellos sind Sie sehr gründlich, aber wenn ich das so sagen darf, auch ausgesprochen langsam, um nicht zu sagen teuer."
    Die eigene Einsamkeit
    Mr. May ist ein schweigsamer, korrekter Mensch, der seine eigene Einsamkeit über die Arbeit für die Toten kompensiert. Er organisiert die meist einsamen Begräbnisse, sucht die Musik aus und schreibt die Trauerreden für den Prediger. Oft steht er als einziger Trauergast neben dem Sarg, ein Don Quijote der Pietät, der sein Leben dem Gedenken an die Toten verschrieben hat. Der stets korrekt gekleidete Beamte zwischen Melancholie und Verbissenheit wird wunderbar dargestellt durch den britischen Schauspieler Eddie Marsan. Er verkörpert den guten Menschen, dessen Einsatz nach Meinung seines Vorgesetzten für die moderne Gesellschaft nicht mehr notwendig ist:
    "Verzeihung, ich hab darüber nachgedacht über Ihren Job. Seien wir ehrlich, die Toten sind tot. Beerdigungen sind für die Lebenden. Und wenn da keiner ist, interessiert es auch keinen. Richtig? Ich denke, für die Lebenden ist es vielleicht besser, nichts darüber zu wissen. Also keine Beerdigung, keine Trauer, keine Tränen."
    Sein letzter Fall ist ein anonymer Trinker, direkt aus seiner eigenen unmittelbaren Nachbarschaft. Wie immer versucht er, vernachlässigte und zerstrittene Angehörige mit dem Toten zu versöhnen:
    - "Er hat mir nie geschrieben, ich war so wütend auf ihn, bin ich immer noch. Und dann eines Tages, es war mein Geburtstag, der 18., da hat er angerufen. Er hat meinen Geburtstag nicht erwähnt. Er muss es gewusst haben. Muss er doch.Glauben Sie nicht?"
    - "Natürlich, natürlich hat er sich erinnert."
    Kein einfaches Happy End
    Mr. May wirkt in seiner persönlichen Einsamkeit statisch, wie die stoischen Protagonisten aus den Filmen Aki Kaurismäkis oder eine Figur Franz Kafkas. Manchmal wünscht man sich etwas mehr Bewegung hinter dem gelassen traurigen Gesicht, oder wenn er starr wie ein Trauervogel an der Haltestelle auf den Bus wartet. Aber als er der Tochter seines letzten Toten etwas näher kommt, erhellt sich etwas in seinem Gesicht. Aber nur kurz, wie ein flüchtiger Sonnenschein, denn glücklicherweise verweigert sich Regisseur Umberto Pasolini dem einfachen Happy End. In dem Moment, als Mr. May beginnt sich aus dem Reich der Schatten zu lösen wird er gewaltsam dorthin zurückgeholt.
    Lachen und Tränen liegen in diesem sehr auf den Protagonisten konzentrierten Film nahe beieinander. "Mr. May und die Flügel der Ewigkeit" ist eine ebenso anrührende wie beklemmende Tragikomödie über Einsamkeit, Tod und die Erinnerung an die Verstorbenen. Er erzählt in gesättigten, fast bleichen Farben auch davon, wie Einsamkeit und Tod in der modernen Gesellschaft verdrängt werden.