Nach der Französischen Revolution waren sie noch beisammen - die geschnitzte und farbig gefasste Mariengruppe und der große Kalvarienberg. Bis zu den 1950er Jahren stand das Kunstwerk in der Schlosskapelle Saint-Martin-de-Place bei Angers. Dann wurden die beiden Skulpturengruppen über den Kunsthandel getrennt verkauft - wahrscheinlich, weil sich so höhere Gewinne erzielen ließen. Der Schweizer Privatsammler, in dessen Besitz die Mariengruppe gelangt war, konnte sich nicht so recht von den trauernden Frauen trennen. Nur kurz lieh er seinen Teil des Kunstwerks für eine Ausstellung 1968 in Köln aus. Dann reiste die Mariengruppe wieder zurück in die Schweiz. Allerdings konnte der Altaraufsatz ohne die trauernden Frauen nicht seine ihm vom Künstler zugedachte Funktion erfüllen, erklärt Moritz Woelk, Direktor des Museum Schnütgen:
"Die Kreuzigung Jesu, die kann man ja nicht direkt nachempfinden. Man kann sich ja nicht in den Gekreuzigten hineinversetzen. Aber man kann mitfühlen, mit denen, die unter dem Kreuz trauern und das dann auch auf sich beziehen und auf sein eigenes Leben. Und auf diese Weise wird zwischen dieser mystischen Botschaft des Christentums, die ja auch sehr abstrakt ist, mit der Sündhaftigkeit und dem ewigen Leben und der Erlösung und dem ganz konkreten eigenen Leben auch emotional vermittelt und das ist in der Entwicklung der Kunst ein ganz wichtiger Augenblick."
Die Mariengruppe fehlte dem Museum nicht nur, um diesen Entwicklungsschritt in der Kunst zu veranschaulichen. Der vollständige Kalvarienberg komplettiert gleichzeitig den großen Bogen, den man im Museum für Mittelalterkunst erleben kann: In der Entwicklung der Kreuzigungsdarstellung über rund 600 Jahre stellt der große Kalvarienberg den Höhepunkt und zeitlichen Abschluss dar.
Nach dem Tod des Schweizer Sammlers entschlossen sich seine Erben irgendwann doch zum Verkauf. Ein Londoner Kunsthändler hatte das vereinte Kunstwerk in Köln gesehen und erkannte die Plastik nach über vierzig Jahren auf der Kunstmesse in Maastricht wieder: Die Mutter des Gekreuzigten, wie sie unter dem Leichnam ihres Sohnes vor Schmerz ohnmächtig zusammenbricht – einzig an ihrem Ellenbogen zart von den anderen Marien gestützt. Er bot sie dem Museum Schnütgen zum Kauf an.
"Unsere Restauratorin hat die Farbfassung unter dem Mikroskop genau angeguckt. Und es gibt ganz genau Übereinstimmungen, bis hin in die Details wie die Augenlieder umrandet sind, wie ein ganz feines Craquelé schon beim Malen entstanden ist, wie der Aufbau der Farbschichten ist. Also sowohl das Schnitzwerk als auch die Farbfassung sind technisch vollkommen übereinstimmend in dem jetzt neu dazu erworbenen Teil und den Teilen, die wir schon zuvor im Museum hatten."
Auch das Holz der Kreuzigungsszene und der Mariengruppe wurde auf sein Alter geprüft: Identisch. Zwar überragen die trauernden Frauen in der Mitte unter dem Kreuz die seitlich stehenden Kriegsknechte und Reiter etwas. Doch auch das ist kein Beweis gegen die Zusammengehörigkeit der Figurengruppen. Im Gegenteil: Es entspricht der künstlerischen Praxis der Zeit, wichtige Figuren durch eine leichte Veränderung des Maßstabs hervorzuheben.
Nach erfolgreicher Prüfung der Echtheit gelang der Ankauf mit viel finanzieller Unterstützung: Die Kulturstiftung der Länder, die Irene und Peter Ludwig-Stiftung, die Sparkasse-Kulturstiftung Rheinland und der Freundeskreis des Museums legten zusammen, damit die Skulpturengruppe dauerhaft nach Köln zurückkehren konnte. Was hier komplettiert wurde, ist einer wahre Rarität.
"Das Besondere daran ist, dass es eines der ganz wenigen solcher Reliefs ist, die den Bildersturm in den Niederlanden überstanden haben, die heute noch erhalten sind. Eines der frühesten davon, in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden. Und es hat auch noch seine originale farbige Fassung, das ist etwas ganz Seltenes."
Die Original-Farbschicht ist noch erhalten und ermöglicht den Kunsthistorikern des Museum Schnütgen neue Einblicke in die Zusammenarbeit zwischen Schnitz- und Fasswerkstatt im Mittelalter. So ist auch die Forschung durch den Ankauf bereichert worden, nicht nur der Museumsbesucher. Der hat mindestens zwei Möglichkeiten, sich dem Werk zu nähern: Entweder, er macht es wie im Mittelalter und fühlt sich in die Sündhaftigkeit der Welt hinein, um sich selbst als reuigen Sünder zu erleben. Oder er betrachtet den mittelalterlichen Versuch einer medialen Gefühlsvereinnahmung distanziert, um über heutige Vereinnahmungen zu sinnieren. In jedem Fall: Der große Kalvarienberg löst etwas aus – und das durch seine Vollständigkeit.