Peter Kapern: Eigentlich waren sie auf der Suche nach Beweisen für Preisabsprachen beim Stahleinkauf: Ermittler des Bundeskartellamts und des BKA. Aber was sie dann entdeckten, das waren Belege für den möglicherweise größten Kartellfall der Geschichte der Bundesrepublik. Jahrzehntelang sollen sich große deutsche Automobilkonzerne abgesprochen haben, um Zulieferpreise zu drücken und technologische Standards möglichst zu ihren Gunsten zu definieren. Dem Kartellamt sollen mittlerweile mehrere Selbstanzeigen vorliegen.
Bei uns am Telefon ist Professor Christian Kersting, Kartellrechtsexperte an der Universität in Düsseldorf. Kann man dann davon ausgehen, dass an den Vorwürfen wirklich was dran ist, dass es dieses Kartell gegeben hat?
Christian Kersting: Der erste Anschein spricht natürlich dafür. Aber die Unternehmen haben die Möglichkeit, durch Selbstanzeigen – man spricht von Bonusanträgen oder Kronzeugenanträgen – eine Kartellbuße entweder ganz zu vermeiden oder doch eine ganz erhebliche Reduktion zu bekommen. Vor dem Hintergrund spricht natürlich vieles dafür, dass man, wenn man einen begründeten Verdacht hat oder Hinweise in seinem Unternehmen findet, dass man zunächst hingeht und eigene Untersuchungen anstrengt. Und wenn diese hinreichend belastbare Hinweise liefern, bietet es sich an, zum Bundeskartellamt oder zur Europäischen Kommission zu gehen und dort einen Kronzeugenantrag zu stellen. Das heißt nicht zwingend, dass ein Verstoß vorliegen muss, aber es spricht doch eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, wenn die Unternehmen doch selbst so unsicher sind, dass sie einen entsprechenden Antrag stellen.
Absprachen auch auf Vorstandsebene?
Kapern: Ja, aber das klingt ja jetzt so, als könnte dort ein Konzern wie VW Teil eines Kartells sein, ohne davon zu wissen.
Kersting: Ja, das ist eine gute Frage. Irgendjemand im Konzern wird davon gewusst haben, und dann wird dem Konzern das auch zugerechnet. Es ist immer denkbar, dass auf mittleren Managementebenen, vielleicht auf der Ebene der Entwicklung oder des Vertriebs, verbotene Absprachen getätigt werden und dass davon die Konzernspitze nichts weiß. Allerdings sieht es hier so aus, als ob zumindest ein Teil der Absprachen auch auf Vorstandsebene getroffen wurde, so zumindest habe ich das einigen Berichten entnommen. Es scheint einen Teilkomplex zu betreffen. Und dann wusste natürlich auch die Spitze Bescheid. Und wenn es so weit zur Spitze geht, stellt sich natürlich auch die Frage nach einer persönlichen Verantwortung der betreffenden Vorstände.
Kapern: Jetzt haben wir gerade in dem Beitrag, den hat ja mein Kollege Frank Capellan noch mal aufgearbeitet, das bemerkenswerte Interview, das wir heute Morgen hier im Deutschlandfunk geführt haben mit dem ehemaligen Chefvolkswirt von BMW, Herrn Becker, der gesagt hat, dass es da ganz viele Arbeitskreise gibt der Automobilindustrie, die auch ganz legal sind und ganz legal Absprachen, koordinierende Absprachen über Technologien beispielsweise treffen. Herr Kersting, wo hört so eine legale Koordination auf und wo beginnt das Kartell?
Kersting: Das ist zum Teil gar nicht so einfach zu sagen. Natürlich gibt es Arbeitskreise und natürlich kann man sich auch mit den Wettbewerbern treffen und über allgemeine Fragen austauschen. Sobald es jedoch darum geht, dass wettbewerbsrelevante Informationen ausgetauscht werden, dass die Unsicherheit darüber beseitigt wird, wie wird sich mein Wettbewerber in Zukunft im Wettbewerb verhalten, ab dann ist es sicherlich eine verbotene Absprache. Es ist so, dass es Hardcore-Absprachen gibt, man nennt das bestimmte Vorfälle, wenn Preise abgesprochen werden, wenn Kunden aufgeteilt werden, wenn Gebiete aufgeteilt werden. Das sind Absprachen, die ohne Weiteres verboten sind und streng sanktioniert werden.
Kapern: Halten Sie es auch für möglich, dass dort Abgasreinigungstechnologien abgesprochen werden, und zwar so, dass sie möglichst billig, aber möglicherweise nicht besonders effizient sind?
Kersting: Da ist man jetzt in einem Bereich, wo die Sache nicht mehr ganz so eindeutig ist. Allerdings, wenn man sich darüber verständigt hat, bestimmte Innovationen zu unterlassen oder bestimmte mögliche technische Neuerungen nicht zu verfolgen, dann ist das aus meiner Sicht etwas, was nur sehr schwer zu rechtfertigen sein wird.
"Ohne Weiteres Milliardenstrafen denkbar"
Kapern: Was würde das bedeuten? Milliardenstrafen für die Industrie?
Kersting: Die Kartellbehörden können Strafen verhängen von bis zu zehn Prozent des weltweiten Gesamtumsatzes. Ich hab jetzt die Umsatzzahlen der betroffenen Konzerne nicht vor mir liegen, aber ich gehe davon aus, dass dann ohne Weiteres auch Milliardenstrafen denkbar sind.
Kapern: Das sind Strafen, die dann in die Staatskasse fließen würden, aber die Betuppten sind doch eigentlich die Verbraucher, die Autos gekauft haben, die nicht so gut oder so günstig waren, wie sie hätten sein können. Haben die eigentlich auch Ansprüche dann?
Kersting: Es ist so: Wir haben bei der Kartelldurchsetzung zwei Säulen: Die eine Säule ist die Durchsetzung durch Bußgelder. Da sollen Unternehmen durch Strafen abgeschreckt werden, sich an solchen illegalen Absprachen zu beteiligen. Die andere Säule ist die private Rechtsdurchsetzung durch Geschädigte. Das können dann auch Verbraucher sein, die argumentieren müssten, dass ihnen ein Auto verkauft wurde, was auf einem technischen Stand ist, der nicht dem entspricht, was möglich gewesen wäre. Aber Sie hören schon an meinen Formulierungen im Konjunktiv, dass hier viel Nachweisarbeit zu leisten ist. Wenn man nachweisen kann, man hat eine Preisabsprache vorgenommen und mir deswegen ein Auto teurer verkauft, als es bei Marktpreisen gewesen wäre, dann kann man zumindest in der Theorie relativ einfach sagen, da ist ein Schaden für den Verbraucher entstanden, und diesen Schaden kann der Verbraucher auch ersetzt verlangen. Das kennen wir aus dem Lkw-Kartell, wo ganz exorbitante Schadensersatzforderungen im Raum stehen. Wenn es darum geht zu sagen, wir haben eine Innovation verpasst und diese Innovation hätte ich zu einem günstigen Preis bekommen und jetzt habe ich zum selben Preis weniger Auto bekommen, ein weniger innovatives Auto bekommen als versprochen, wird man sich vor Nachweishürden sehen, die man nur sehr schwer überwinden kann.
"Bei Kartellverstößen wird nicht weggesehen"
Kapern: Herr Kersting, es heißt ja immer wieder in Deutschland, die Automobilindustrie wird von der Politik immer gehätschelt und getätschelt, damit sie gedeiht und Arbeitsplätze schafft, und dann will auch keiner so genau aus der Politik mehr hingucken, was sie da so treiben. Sie als Kartellrechtsexperte und als Beobachter der Szene: Ist das der Boden, auf dem dieses Bewusstsein der Omnipotenz wächst, aus dem heraus dann solche gigantischen Kartelle auf die Beine gestellt werden?
Kersting: Da kann ich wenig zu sagen, außer dass ich nicht glaube, dass bei Kartellverstößen weggesehen wird. Das ist auch gar keine Frage allein von deutschen Behörden. Natürlich, das Bundeskartellamt ist zuständig, genauso zuständig sind bei Verstößen dieser Größenordnung die Europäische Kommission, und die wird sicherlich nicht aus Opportunitätsgründen hinwegsehen, genauso wenig wie das das Bundeskartellamt tun wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.