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Nach Attentat in der Türkei
"Eine der größten terroristischen Szenen in der westlichen Welt"

Fast nirgendwo seien die Islamisten so nationalistisch wie in der Türkei, sagte Guido Steinberg im DLF. Nach dem Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara betonte der Politikwissenschaftler von der Stiftung Wissenschaft und Politik, man müsse angesichts des breiten Spektrums mit vielen neuen Dingen rechnen, was Anschlagsformen, Täter, aber auch Orte angehe.

Guido Steinberg im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Guido Steinberg, Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte, in einer Talkshow.
    Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Christiane Kaess: Am Telefon ist jetzt Guido Steinberg, Islam-Wissenschaftler und Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen, Herr Steinberg.
    Guido Steinberg: Guten Morgen.
    Kaess: Ein politisches Attentat in der Türkei, hatten Sie mit einem solchen Racheakt gerechnet?
    Steinberg: Nun, zumindest musste man in der Türkei mit weiteren Attentaten rechnen, und auch wenn in den letzten Wochen und Monaten die von Kurden in Zusammenhang mit der PKK verübten Attentate überwogen haben war doch klar, dass es auch mal wieder islamistische Attentate gibt. Dass es nun direkt so spektakulär ist, das war eigentlich nicht zu erwarten, und mir ist es tatsächlich auch ein Rätsel, wieso ein russischer Botschafter in einem Land, mit dem die Russische Föderation ja so problematische Beziehungen hat und in dem es einen ganz ausgeprägten Hass auf Russland gibt, nicht besser geschützt ist.
    Kaess: Was glauben Sie ist der Grund?
    Steinberg: Der Grund dafür, dass er nicht besser geschützt war?
    "Sicherheit des russischen Botschafters ist die Sache seiner eigenen Leute"
    Kaess: Ja.
    Steinberg: Ich bin mir nicht sicher, ob die russische These stimmt, dass da die Türken diese Veranstaltung nicht gut geschützt haben. Das kann in der Türkei immer passieren. Aber letzten Endes ist die Sicherheit des russischen Botschafters in einem solchen Land die Sache seiner eigenen Leute und ich kann nicht verstehen, dass die nicht direkt neben ihm standen, dass die, selbst wenn sie es nicht verhindert hätten, den ersten Schuss, dass sie den zweiten dann verhindert hätten. Das will mir nicht so recht in den Kopf.
    Kaess: Herr Steinberg, wie groß ist diese Szene an türkischen Radikalen, die den Syrien-Krieg rächen wollen?
    Steinberg: Diese Szene ist ungeheuer groß. Die Türkei insgesamt hat eine der größten und diversesten terroristischen Szenen in der westlichen Welt und es gibt zwischen verschiedenen Gruppierungen auch immer mal wieder Wechselwirkungen. Fast nirgendwo sind die Islamisten so nationalistisch wie in der Türkei und deswegen muss man auch damit rechnen, dass ein sehr breites Spektrum die Ereignisse in Syrien als Provokation empfindet, in irgendeiner Weise gegenüber den Russen reagieren will und dann, wie das ganz richtig gesagt wird, auch die in den letzten Monaten ja enorm verbesserten Beziehungen zwischen der Türkei und Russland schädigen will.
    Kaess: Wird dieses Attentat von der türkischen Regierung jetzt instrumentalisiert werden, um zum Beispiel gegen die Gülen-Bewegung stärker vorzugehen?
    Steinberg: Nein. Ich glaube nicht, dass die türkische Regierung da noch irgendein Attentat braucht. Nach dem Putsch und nach den Anschlägen, den jüngsten Anschlägen der PKK zieht die Regierung ja ohnehin schon alle Register. Ich denke, dass der Anschlag vielleicht nur ein Hinweis darauf sein sollte, wie gefährdet die Türkei ist. Mein Eindruck ist nämlich, dass der türkische Staat gerade aufgrund der Schwächung der Sicherheitsbehörden durch die Säuberungswellen der letzten Monate nicht in der Lage ist, mit so vielen diversen Terrorgruppen klarzukommen, und das zeigt sich schon an der Intensivierung der Gewalt in den Kurden-Gebieten, an den zunehmenden Anschlägen der PKK. Und jetzt kommt noch ein islamistischer Anschlag dazu, bei dem ja zumindest eine Möglichkeit ist, dass der IS dahinter steckt.
    "Organisationen sind sehr kreativ, neue Anschlagsformen zu entwickeln"
    Kaess: Der Attentäter gestern, der war im Anzug. Wir haben ja dieses Bild vom Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel und Maschinengewehr. Ist das eine neue Form von Terrorismus jetzt?
    Steinberg: Ja, es ist tatsächlich das Bild, das mich auch etwas stutzig gemacht hat und das einer Wertung ein wenig im Wege steht. Wir müssen aber sehen, dass die Organisationen, die in der Türkei in den letzten Monaten aktiv waren, vor allem der IS, ungeheuer professionell sind und sehr kreativ dabei, neue Anschlagsformen zu entwickeln und auch ganz unterschiedliches Personal loszuschicken. Das ist noch kein so wirklich überzeugendes Argument gegen den IS. Wir müssen bei dieser Organisation mit ganz, ganz vielen neuen Dingen rechnen. Sie hat uns, was die Anschlagsformen, die Täter, aber auch die Orte angeht, in den letzten zwei Jahren immer wieder enorm überrascht und deswegen darf es dann auch keine Überraschung sein, wenn hier vielleicht dann auch der IS dahinter steckt.
    Kaess: Wird dieses Attentat irgendwelche Auswirkungen auf den Konflikt in Syrien haben von russischer oder türkischer Seite aus?
    Steinberg: Bisher sieht es nicht so aus. Wenn tatsächlich eine Organisation dahinter steckt, wenn es kein Einzeltäter war, der sich lediglich rächen wollte, dann war sicherlich das Ziel, die verbesserten türkisch-russischen Beziehungen zu schädigen. Jetzt in den ersten Stunden gibt es überhaupt keine Hinweise darauf, dass das gelingen könnte. Beide Seiten wissen, wie wichtig sie füreinander sind. Für die Türkei ist das der Kampf gegen die syrische PYD, sprich die syrische PKK in Syrien, und für die Russen ist das die Bedeutung der Türkei als Unterstützer der Aufständischen. Da haben die sich ja in den letzten Monaten angenähert und so wie es scheint, wollen sie diese Annäherung in Syrien, aber auch darüber hinaus nicht durch einen solchen Anschlag gefährden lassen. Das könnte sich so ein wenig ändern, wenn sich denn herausstellt, dass die Hintermänner vielleicht nicht in Rakka sitzen, sondern dass die Hintermänner irgendwo im türkischen Staat sitzen, dass es da Leute gibt, die so stark islamistisch motiviert sind, dass sie jegliche Zusammenarbeit mit den Russen hintertreiben wollen. Das könnte dann auch die russische Position, denke ich, ändern.
    Kaess: Guido Steinberg, Islam-Wissenschaftler und Terrorismus-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Steinberg: Ich danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.