Christine Heuer: Es ist schon wieder passiert: Ein islamistischer Attentäter hat am Freitag in Hamburg einen Mann erstochen und sieben weitere Menschen verletzt. Der Palästinenser war den Sicherheitsbehörden bekannt, er galt, wie gesagt, als Islamist, aber eben nicht als Gefährder, gleichwohl lief das Abschiebeverfahren gegen den Mann. Abgeschoben aber wurde er nicht, weil wieder einmal die Papiere fehlten. Erinnert an Anis Amri - ein bisschen schon. Und wieder diskutiert die Republik über mögliche Fehler der Sicherheitsbehörden und wie man sie künftig vermeiden kann. Matthias Zahn fasst das für Sie zusammen.
Wir wollen die Meinung von Boris Pistorius hören. Der Sozialdemokrat ist, wie gesagt, Innenminister in Niedersachsen, und er gilt als jemand, der besonders konsequent gegen Terrorverdächtige vorgeht, nachdem er im Frühjahr erstmals den Paragrafen 58a Aufenthaltsgesetz angewandt und so dafür gesorgt hat, dass zwei potenzielle Terroristen in Abschiebehaft genommen werden konnten, obwohl es keinen Strafprozess gegen sie gab. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht haben diese Praxis dann bestätigt. Wir erreichen Boris Pistorius in der Polizeidienststelle am Flughafen München. Guten Morgen!
Boris Pistorius: Ja, schönen guten Morgen, Frau Heuer!
"Immer wieder vor dem Problem, dass die Papiere fehlen"
Heuer: Die Sicherheitsbehörden, Herr Pistorius, hatten den Attentäter Ahmad A. auf dem Schirm, sie wussten auch von seiner Radikalisierung, aber er ist weiter frei rumgelaufen. War das ein Fehler?
Pistorius: Ich würde empfehlen, solche Sachverhalte immer erst dann zu beurteilen, wenn sie ausgewertet sind. Bislang hört es sich so an, als habe man ihn als radikalisiert erkannt. Man hat Hinweise bekommen, ist dem nachgegangen, hat aber keine Einstufung als Gefährder vorgenommen, was wir jetzt aus der Distanz schwer beurteilen können, und im Nachhinein sind eh alle schlauer. Es scheint so zu sein, dass es keine Anhaltspunkte dafür gab, dass er wirklich gefährlich ist. Also davor steht, eine terroristische Straftat zu begehen, und wenn das nicht der Fall ist, dann nützen auch die schärfsten Gesetze zur Inhaftierung, zur Gewahrsamnahme von Gefährdern nicht.
Heuer: Also kann man nur Gefährder abschieben. Die Schwelle dazu ist beim Islamisten noch nicht erreicht.
Pistorius: Na ja, es kommt immer darauf an. Sie können jeden abschieben, der ausreisepflichtig ist, und das passiert ja auch - leider nicht oft genug, weil es an Dingen scheitert, die die Länder nicht in der Hand haben. Also wenn Sie beispielsweise den Hamburger Fall nehmen oder auch andere, dann stehen wir immer wieder vor dem Problem, dass die Papiere fehlen. Dafür ist der Bund verantwortlich, dass die Abkommen mit den Herkunftsstaaten geschlossen werden, dass die ihre Leute zurücknehmen und auch die Ersatzpapiere ausstellen.
Da können die Länder wenig dran machen, und in diesem Falle, dem Hamburger Fall, stellt sich außerdem die Frage, er war ein sogenannter Dublin-Flüchtling - warum war er überhaupt noch hier, warum ist er nicht nach Norwegen zurückgebracht worden, wo er wohl das erste Mal die Europäische Union betreten hat. Das sind alles Fragen, die den Bund betreffen und weniger die Landesbehörden. Also zusammengefasst: Sie können selbstverständlich abschieben, jeden, der ausreisepflichtig ist, und bei Gefährdern müssen eben zusätzliche Dinge dazukommen.
"Noch nicht genügend Hinweise darauf, dass er wirklich gefährlich war"
Heuer: Aber wie definiert man dann Gefährder? Das scheint ja ausschlaggebend zu sein, auch in diesem Hamburger Fall, ob man Ahmad A. so eingeschätzt hat, dann hätte man nämlich mehr gegen ihn unternehmen können und vielleicht auch müssen.
Pistorius: Ja, das ist so. Wir haben jetzt gerade auf der letzten Innenministerkonferenz im Sommer in Dresden das Radar ITE beschlossen für alle Länder. Danach gibt es ein einheitliches System zur Einstufung von Gefährdern, das dann in allen Bundesländern gilt. Das hat eine Weile gedauert, bis BKA und andere das auch zu Papier gebracht haben, aber das ist jetzt einsatzbereit und wird angewandt und wird eben einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir einheitlich einstufen als Gefährder, aber ich sage auch, das schützt nicht davor, im Einzelfall jemanden nicht einzustufen als Gefährder, obwohl er kurz darauf gefährlich wird.
Heuer: Ja, aber dann sprechen wir noch mal ganz kurz über diesen Einzelfall. Herr Pistorius, mal Hand aufs Herz: Sie kennen sich ja nun wirklich aus mit solchen Fällen - hätten Sie Ahmad A. auch nicht in Abschiebehaft nehmen lassen?
Pistorius: Das kann ich, ehrlich gesagt, nicht beurteilen, auch selbst wenn ich die Hand aufs Herz lege, weil dafür würde ich gerne noch ein bisschen mehr wissen. In den Fällen in Niedersachsen, wo wir 58a angewandt haben bei zwei Gefährdern, kannte ich die gesamte Sach- und Aktenlage. Das tu ich hier noch nicht.
Heuer: Aber nach allem, was Sie hören.
Pistorius: Nach allem, was ich höre, gibt es offenbar immer noch nicht genügend Hinweise darauf, dass er wirklich gefährlich war, sondern dafür spricht ja auch die Tatbegehung, aus der Distanz jedenfalls, eine sehr spontane Entscheidung - nicht gesteuert, nicht gelenkt, nicht von langer Hand vorbereitet, sondern sehr spontan. Ob man das vorhersehen kann oder nicht, ist wirklich eine schwere Entscheidung, und da kann man sich im Zweifel natürlich nur falsch entscheiden. Das ist so.
Gefährder besser einstufen
Heuer: Ja, nun kennen wir das aber ja von anderen Fällen, dass radikale Islamisten auch psychische Probleme haben. Auch das ist ja eine gefährliche, hochexplosive Kombination. Muss da Politik, müssen die Behörden da nicht ganz besonders aufmerksam sein und entschieden handeln?
Pistorius: Also erstens würde ich immer sagen, jeder Terrorist, der sich auf irgendetwas beruft, von dem er glaubt, das rechtfertige Mord und Totschlag, ist psychisch gestört. Anders kann man es ja gar nicht erklären, nicht im juristischen Sinne, aber anders kann man es ja nicht erklären, warum man sich so verhält.
Heuer: Ja, aber darauf stellen ja die Behörden ab in Hamburg, dass sie sagen, na ja, der Mann hatte eben eher psychische Probleme als ein politisches Problem.
Pistorius: Ja, klar, wobei, ob das so eindeutig artikuliert wird, weiß ich nicht. Für mich ist klar, wenn man Anhaltspunkte dafür hat, dass jemand gefährlich ist, gefährlich werden kann, dann muss man ihn als Gefährder einstufen, und dann kann man im Zweifel auch besser einmal mehr jemanden als Gefährder einstufen, um eine andere Handhabe zu haben. Das birgt aber das Risiko dann in sich, dass man vor Gericht damit vielleicht mal verliert, aber das muss man dann halt mal eingehen.
Heuer: Also im Zweifel würden Sie schon dazu raten, lieber einmal falsch zu entscheiden, aber damit möglicherweise Menschenleben zu schützen, als auf Maßnahmen zu verzichten, die man ergreifen kann.
Pistorius: Im Grundsatz ja, aber mit der klaren Einschränkung, dass wir nach wie vor in einem Rechtsstaat leben und wir nicht einfach nur auf bloße Mutmaßung und Verdächtigung hin jemanden in Haft nehmen können. Es muss schon Anhaltspunkte geben, die das in irgendeiner Weise nahelegen.
"Wir können nicht von jedem erwarten, dass er einen Pass hat"
Heuer: Ahmad A. - Sie haben das selber schon angesprochen -, er hatte ja keine Papiere. Ist das eigentlich völlig unmöglich, so jemanden abzuschieben?
Pistorius: Na ja, es ist deshalb unmöglich, weil Sie ja jemanden ins Flugzeug setzen müssen, und in dem Ankunftsstaat müssen die Behörden dann auch bereit sein, ihn aufzunehmen ohne Papiere, wenn tatsächlich keine da sind, und deswegen ist ja die Beschaffung der Ersatzpapiere oder neuer Papiere eine ganz zentrale Aufgabe, für die der Bund in dem bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Herkunftsstaaten zuständig ist.
Heuer: Wieso dauert das denn immer noch so lange?
Pistorius: Das müssen Sie Thomas de Maizière oder die Bundesregierung fragen!
Heuer: Gerne, bei Gelegenheit ja, wenn er uns ein Interview gibt!
Pistorius: Aber das ist wirklich in der Tat das Problem, dass wir nach wie vor viel zu lange brauchen, um diese Papiere zu kriegen, und wir können in Deutschland nun mal nicht jemanden mal eben so für ein halbes oder für ein Jahr ins Gefängnis stecken, der noch nichts verbrochen hat, außer ausreisepflichtig zu sein und als Gefährder eingestuft zu sein, bis Sie ihn abschieben können.
Heuer: Aber nun, Herr Pistorius, sagt die CDU, die einfachste Lösung sei doch, Asylbewerber ohne Papiere gar nicht erst ins Land zu lassen.
Pistorius: Habe ich auch schon mal gefordert, klingt sehr plausibel, ist aber in der Praxis schwer umsetzbar, weil offenbar Herren wie Bosbach und andere davon ausgehen, dass es in allen Ländern dieser Welt üblich ist, dass jemand einen Pass hat. Das ist aber nicht so. Es gibt viele Länder …
Heuer: Muss er halt draußen bleiben, würde die CDU jetzt sagen, und die CSU sowieso.
Pistorius: Ja, das kann man ja auch alles so fordern, nur wir sind immer noch europäische, Völkerrecht unterworfen, und das Asylrecht ist nicht, wie soll ich sagen, geschaffen worden, um nur Leute aufzunehmen, die auch gültige Papiere haben. Ich bin sehr dafür, dass wir alle Mittel einsetzen, um Asylbewerber genau darauf hin zu prüfen, woher sie kommen, und gegebenenfalls auch auf Handydaten zuzugreifen. Da habe ich kein Problem mit, weil jeder hat eine Mitwirkungspflicht, um zu beweisen, woher er wirklich kommt und wer er ist, aber wir können nicht von jedem erwarten, dass er einen Pass hat, weil es viele Länder gibt, die keinen Pass ausstellen.
"Kein Problem damit, wenn der Bund die Abschiebung übernimmt"
Heuer: Die CDU fordert auch, die Länder sollten bereit sein, Kompetenzen an den Bund abzugeben, um Reibungsverluste, wie im Fall Anis Amri zum Beispiel, zu vermeiden in Zukunft. Da spricht doch einiges dafür. Klingt nach gesundem Menschenverstand. Was sagen Sie?
Pistorius: Klingt nach gesundem Menschenverstand, zeigt aber wieder mal, dass einige Innenpolitiker der CDU aus dem Bundestag einen etwas verklärten Blick auf die Kompetenzen der Bundesbehörden haben. Also weder im Fall Anis Amri kann man sagen, dass der Bund alles richtig gemacht hat, um es sehr deutlich zu formulieren, noch kann man sagen, dass der Bund es bislang geschafft hat, die sogenannte Clearingstelle, die in Potsdam entstehen soll oder entstanden ist, wirklich in vollem Umfang ihre Arbeit aufnimmt, damit unsere Unterstützung größer wird, die wir brauchen in den Ländern bei der Abschiebung von Menschen ohne Papiere. Also das wäre ja schon mal schön, wenn die zugesagten Unterstützungsmaßnahmen greifen würden seitens des Bundes, bevor man neue Kompetenzen fordert. Wenn das alles so läuft, können wir von mir aus gerne darüber reden. Ich habe kein Problem damit, wenn der Bund die Abschiebung übernimmt.
Heuer: Also Sie würden sagen, Sie geben eigene Kompetenzen ab, was die Abschiebung und was die Ermittlungen angeht, damit die Sache, also der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus flüssiger werden kann in Deutschland.
Pistorius: Wenn der Bund garantieren kann, dass er es besser macht als die Länder, dann müssen wir darüber reden, aber das sehe ich bislang nicht.
Heuer: Boris Pistorius, Innenminister in Niedersachsen, und Sozialdemokrat ist er auch. Ich danke Ihnen für das Gespräch heute Morgen, Herr Pistorius!
Pistorius: Sehr gerne, Frau Heuer! Schönen Tag!
Heuer: Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.