Die frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen im sächsischen Landtag kritisierte zugleich Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik. Es gebe immer noch kein Zuwanderungsgesetz. Zudem werde die Debatte um Zuwanderung zu emotional geführt und müsse wieder auf eine rationale Ebene gehoben werden, betonte Hermenau.
Sie kritisierte, dass zwar jeder "feuchte Augen" gehabt habe, "als Frau Merkel sagte, lasst die armen Menschen doch zu uns kommen." Das Problem bei der Sache sei, dass es bis heute keine Stunde im Fernsehen gegeben habe, in der die Kanzlerin detailliert erklärt habe, wie es weitergehe.
Was die beiden Bombenanschläge in Dresden betreffe, sagte sie, man sei vorsichtig mit Spekulationen, "aber vermuten Sie bitte, dass immer mehr Menschen aus Verzweiflung zur Gewalt greifen, und das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand in einer Demokratie."
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Bautzen, Heidenau, Freital, Meißen, Dresden - immer wieder Sachsen und immer wieder auch Dresden. Zwei Sprengstoffanschläge erschüttern einmal mehr die offizielle Weltoffenheit der barocken Stadt an der Elbe. Ein Anschlag galt einer Moschee, der zweite Sprengsatz ging vor dem Internationalen Kongresszentrum der Stadt hoch. Niemand wurde bei der Detonation verletzt. Die Polizei geht von einer ausländerfeindlichen Tat aus, das Ganze wenige Tage, bevor in Dresden der Tag der Deutschen Einheit gefeiert werden soll.
Die Sprengsätze in Dresden - Sachsen und die zunehmende Gewalt - das ist unser Thema jetzt mit der Unternehmerin und Politikberaterin Antje Hermenau, früher Spitzenpolitikerin der Grünen. Guten Morgen nach Dresden.
Antje Hermenau: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
Müller: Frau Hermenau, fühlen Sie sich in Sachsen noch wohl?
Hermenau: Natürlich. Ich fühle mich in Sachsen wohl, das ist meine Heimat und es gibt sehr viele interessante Menschen. Natürlich fühle ich mich wohl. Aber ich habe gerader Ihre Anmoderation entnommen, in der Sie sagten, immer wieder Sachsen, dass offensichtlich 15 Bundesländer der Meinung sind, sie haben kein Problem und können zufrieden auf Sachsen blicken, das dieses Problem hat. Ich wäre da vorsichtig. Gerade aus Unternehmersicht glaube ich, dass wir in Gesamtdeutschland ein Problem haben, und das ist eine Melange aus den unaufgearbeiteten Fehlern der letzten Jahrzehnte bei mangelhafter Integration vor allem im Westen Deutschlands und jetzt einer aufschwappenden zornigen Entladung im Osten, weil nicht öffentlich diskutiert wird, was die Zuwanderung bringen soll.
Es sind auch politische Versäumnisse da. Es gibt immer noch kein Zuwanderungsgesetz zum Beispiel, das die Notwendigkeit von Fachkräften verdeutlicht. Mein Problem ist, wenn ich das alles so sehe, dass wir mit moralischen Appellen versuchen, rationale und emotionale Dinge in einen Topf zu werfen, und das wird nicht funktionieren. Man muss das schon trennen.
"Es gibt Verdrängungswettbewerb"
Müller: Jetzt haben Sie ganz, ganz viel in der ersten Antwort schon zusammengefasst. Das ist auch Ihr gutes Recht. Da würde ich jetzt doch mal gerne reingehen. Das ist immer wieder umstritten. Die Medien behaupten das häufig, Sachsen sei es denn immer wieder. Wie auch immer, will ich jetzt gar nicht mit Ihnen diskutieren. Aber in Sachsen passiert relativ viel, was zumindest ja auch immer wieder ganz groß dann in den Medien berichtet wird, auch weil es passiert. Ich habe vor zweieinhalb Wochen hier über Bautzen auch noch ein Interview an dieser Stelle geführt mit dem Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft.
Hermenau: Ich weiß, ich weiß.
Müller: Ist Sachsen ein spezieller Fall oder nur Durchschnitt?
Hermenau: Es ist natürlich kein Durchschnitt, wenn Sie die Anzahl der registrierten Fälle nehmen, aber es ist eine besondere Entladung hier in Sachsen von einer Sache, die in ganz Deutschland aufblüht und der wir uns endlich mal stellen müssen, auch gesellschaftlich und politisch. Es gibt Verdrängungswettbewerb.
Müller: Warum ist Sachsen besonders? Warum ist Sachsen besonders bei der Entladung?
Hermenau: Nein, es gibt Verdrängungswettbewerb. Ich habe das beobachtet in den letzten Jahren, dass immer sich viele damit eskortiert haben, dass es in Sachsen noch schlimmer sei. Es gibt aber ein gesamtdeutsches Problem. Sachsen entlädt sich besonders stark aus unterschiedlichsten Gründen. Es gibt hier vielleicht Versäumnisse in der Landespolitik, das würde ich mal so einräumen. Es gibt vielleicht auch besonders starke Gegenbewegungen hier, die zum Beispiel nicht wollen, dass ganze Stadtviertel auf sie wirken, als wären sie im Ausland. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die Politik nicht in der Lage ist, die rationale Erzählung von einer vernünftigen Zuwanderung öffentlich zu führen. Wir werden jetzt mit Feierlichkeiten zur deutschen Einheit am Wochenende konfrontiert sein, die eine hohe Ernsthaftigkeit verlangen. Partylaune kommt jetzt nach den Anschlägen natürlich nicht mehr auf. Aber das entspricht auch dem Zustand, in dem wir alle miteinander sind. Das Emotionale in die Zuwanderungsfrage kam ja meiner Meinung nach dadurch, dass wir Erbarmen, was ja ein wirklich ganz wichtiges Grundgefühl für Christenmenschen ist, und Mitleid mit den Leuten, die von Krieg betroffen sind, hatten, alle miteinander. Jeder hatte feuchte Augen, als Frau Merkel sagte, lasst die armen Menschen doch zu uns kommen. Das Problem bei der Sache ist, dass es bis heute keine Stunde im Fernsehen gegeben hat, in der Frau Merkel detailliert erklärt hat, wie die ganze Lage jetzt weitergeht und wie sie sich entwickelt. Und das andere Problem ist, dass im Verborgenen jetzt zurückgenommen wird, was damals gemacht worden ist, aber die Erzählung zur Zuwanderung nämlich, die wir brauchen, um unsere Produktivität aufrecht zu erhalten, um Renten bezahlen zu können aus Steuerzuschüssen, die wird nicht geführt.
Müller: So viele Flüchtlinge im Vergleich zu anderen Bundesländern sind ja gar nicht nach Sachsen gekommen. Das ist auch meine Fragestellung.
Hermenau: Die sind wieder weggegangen!
Müller: Wie auch immer. Das ist ja eine Frage, die immer wieder gestellt wird. - Ich möchte aber vielleicht noch ein bisschen "Öl ins Feuer gießen", ohne jetzt weiter da polarisieren zu wollen. Sie sagen, die Feierlichkeiten zum 3. Oktober, wie offen, wie transparent, wie ehrlich sind die. Jetzt kommt der Bundespräsident, jetzt kommt der nach Dunkeldeutschland.
Hermenau: Das ist seine Wortwahl gewesen.
Müller: Das ist seine Wortwahl gewesen. - Jetzt kommt der nach Dresden. Das ist das Zentrum von Dunkeldeutschland, wenn wir das damals so richtig verstanden haben.
Hermenau: In seinen Worten ist das so, ja.
Müller: Ist das ein positiver Schritt, dass er kommt und sich der Sache stellt?
"Es wird eine Diskussion gesucht in der Bevölkerung - mit verbrecherischen Mitteln"
Hermenau: Ich meine, zu den Feierlichkeiten der deutschen Einheit in dem Bundesland, das dran ist, erwartet man den Bundespräsidenten prinzipiell. Der Anschlag am ICC, am internationalen Kongresszentrum, galt ja einem kleinen Quader auf der Außenfläche. Das ist eigentlich symbolisch, glaube ich, und soll bedeuten, dass man den ernsthaften Dialog will und keine Sprüche mehr wie Dunkeldeutschland. Es wird eine Diskussion gesucht in der Bevölkerung. Die wird inzwischen mit verbrecherischen Mitteln gesucht. Diesen Akt der Verzweiflung sozusagen muss man auch mal zur Kenntnis nehmen. Das heißt nicht, dass man diese Verbrecher nicht einsammeln und ins Gefängnis stecken muss, sondern das heißt, dass der Gefühlsstau so groß geworden ist, dass immer mehr entschlossene fanatisierte Leute von der einen Seite oder der anderen Seite zuschlagen. Gucken Sie sich München an, gucken Sie sich Ansbach an. Das ist die andere Seite, die auch fanatisierte und entschlossene Einzeltäter zum Hintergrund hat. Wir wissen noch nichts und sind vorsichtig mit den Spekulationen, was die zwei Bombenanschläge betrifft, aber vermuten Sie bitte, dass immer mehr Menschen aus Verzweiflung zur Gewalt greifen, und das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand in einer Demokratie.
Müller: Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit, eine halbe Minute. Ich möchte trotzdem noch fragen. Das heißt, das Ganze mit Dunkeldeutschland - Sie haben ja vom Versagen der Politik geredet - war ganz kontraproduktiv, dass im Grunde noch mehr Widerstand entsteht?
Hermenau: Aus meiner Sicht ist das so. Ich erwarte ein Zuwanderungsgesetz, das die positive Erzählung aufnimmt, dass wir Fachkräfte gerne integrieren wollen und die sich auch selber integrieren wollen. Wir wollen auch natürlich emotional diskutieren Erbarmen und Mitgefühl mit Kriegsflüchtlingen, aber genauso auch die Abschiebung von nicht Einwanderungserlaubten sozusagen, also von Leuten, die zu Unrecht hier sind. Deutschland muss aus der Überhöhung raus, aus einer moralischen Überhöhung. Wir müssen zum rationalen Diskurs zurück. Wir müssen zum rationalen Diskurs zurück.
Müller: Die Unternehmerin und Politikberaterin Antje Hermenau war das bei uns im Deutschlandfunk. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
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