"Dieses Land könnte in wenigen Tagen eine Union beenden, die mehr als dreimal so lange existiert hat, wie die heute älteste lebende Person. Die Auswirkungen auf jeden im Vereinigten Königreich, nicht nur in Schottland, werden absolut tief greifend sein. Als Nation wären wir in jeder Hinsicht gewaltig schwächer: moralisch, politisch und materiell."
Nicht nur John Major, früherer konservativer Premierminister Großbritanniens, ist alarmiert angesichts der Meinungsumfragen. Ein Sieg der Unabhängigkeitsbewegung scheint möglich. Die einzige Frage, die die Schotten im Referendum beantworten müssen, für das sich immerhin 97 Prozent als Wähler haben registrieren lassen, lautet:
"Should Scotland be an independent country?"
Sollte eine Mehrheit mit Ja stimmen, dann wäre es das Ende des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Es würde ein Drittel seiner Fläche und mit 5,3 Millionen Menschen mehr als 8 Prozent seiner Bevölkerung einbüßen. Übrig bliebe ein nicht länger Vereintes Königreich mit England, Wales und Nordirland und 58 Millionen Einwohnern. Es bräuchte einen neuen Namen und eine neue Flagge, aus der das schottische Blau im Union Jack entfernt werden müsste. Doch das sind noch die geringsten Probleme.
Erhebliche ökonomische und politische Folgen
Tatsächlich droht Rest-Britannien eine gewaltige Krise mit erheblichen ökonomischen und politischen Folgen. Es ist mit Turbulenzen an den Börsen zu rechnen, das Pfund geriete unter Druck ebenso wie britische Aktien. Das Land würde 90 Prozent seiner Öl-Einnahmequellen an Schottland abtreten, das Kreditrating dürfte sich verschlechtern und die wirtschaftliche Erholung verzögern. Natürlich würde man einen Schuldigen für die Malaise suchen, doch bislang hat Premierminister Cameron einen Rücktritt strikt ausgeschlossen:
"Ich halte es für sehr wichtig, dazu entschieden Nein zu sagen, aus folgendem Grund: Es geht hier nicht um diesen oder jenen Premierminister, um diesen oder jenen Parteiführer: Auf dem Spiel steht die Zukunft Schottlands."
Doch nach dem Referendum werden die Karten neu gemischt und bei einem Ja könnte David Cameron gezwungen sein, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Schließlich würde er in die Geschichtsbücher eingehen als der Prime Minister, unter dem das Unfassbare geschah und eine erfolgreiche Union von Nationen nach 307 Jahren ohne Not in Friedenszeiten aufgekündigt wurde. Die Sezessionsverhandlungen dürften bis zu fünf Jahre dauern und alles andere als friedlich verlaufen.
"England wird aufwachen und sich zurückgewiesen und verärgert fühlen. So wie wenn sich ein Paar scheiden lässt. Und wenn ich richtig liege, dass es auf englischer Seite großen Groll gibt, wird dies den Druck auf die Unterhändler Englands erhöhen, eine harte Linie zu verfolgen."
Vermutet der Verfassungsrechtler Professor Robert Hazell. Auf der Tagesordnung der Kontrahenten stehen komplizierte Fragen: Bleibt das Pfund gemeinsame Währung? Wie wird das Vermögen und wie die Staatsverschuldung von 1,4 Billionen Pfund aufgeteilt. Wer zahlt für die Entsorgung der Ölförderungsaltlasten, was wird aus der BBC? Wird London Schottlands Aufnahmeantrag für EU und NATO unterstützen? Wie werden Armee, Luftwaffe und Marine aufgegliedert und wie rasch kann der geforderte Abzug der Trident-Atomflotte aus dem schottischen Fjord erfolgen. Für Ex-Premier John Major ein Schreckensszenario.
"Es wäre desaströs für das ganze Vereinigte Königreich. Zunächst, weil wir die Trident-Atomflotte verlieren würden, die lange Zeit unser Schutz war; unsere Rolle in der NATO würde geschwächt; unsere Beziehungen mit den USA in der Folge beschädigt; das UK wäre schwächer in jeder internationalen Organisation; gewiss in der EU bei den bevorstehenden Verhandlungen; wir werden unseren Sitz als Vetomacht in der UNO verlieren."
Kein Zweifel: Ginge Schottland, wäre dies für das Rest-Königreich ein gewaltiger Verlust und es würde Abspaltungstendenzen auch in Wales und Nordirland schüren.
Doch die Schotten allein befinden über die Zukunft des Vereinigten Königreichs. 4,2 Millionen Wähler ab dem 16. Lebensjahr, die ihren Wohnsitz in Schottland haben.
Weder die in aller Welt verstreuten 18 Millionen, noch die dreiviertel Million Schotten, die im Rest-UK leben und arbeiten, dürfen abstimmen - ihnen bleibt nur ein Appell wie ihn das Model Kate Moss im Namen von David Bowie bei der Popmusik-Preisverleihung formulierte:
"Thank you very, very much and Scotland stay with us.
People in England, Northern Ireland and Wales - it's time to tell Scotland we care; let's stay together."
In einem Internetvideo bekunden britische Fernseh- und Filmschauspieler, wie sehr sie sich sorgen.
Über 200 britische Prominente unterzeichneten einen Brief, in dem es heißt: Was uns vereint ist so viel größer als was uns unterscheidet – let's stay together.
Mick Jagger unterschrieb, Paul McCartney, der Physiker Stephen Hawkins und die Schauspielerin Judi Dench.
Der englische Darsteller Simon Callow sinnierte auf einer Bühne in Edinburgh:
"Ich persönlich fühle mich sehr melancholisch. Wie ein Kind mit wunderbaren Eltern, von denen sich der eine scheiden lassen will und der andere nicht. In mir gibt es eine gewaltige Sehnsucht danach zusammenzubleiben."
Es sieht nicht so aus, als würden solche emotionalen Appelle viele Schotten erreichen. Im Gegenteil. Was aus einem Land wird, das sie verlassen, scheint etlichen ziemlich egal zu sein. In einem Glasgower Café erklärt der schottische Blogger und Gesellschaftswissenschaftler Gerry Hassan wieso.
"Das Vereinigte Königreich ist eine merkwürdige Einheit, eine Mischform. Es war tatsächlich nie eine Nation, wie man sie normalerweise versteht, etwa wie Frankreich, Spanien oder sogar Deutschland. Es ist eine Kombination aus vier Nationen und es ist ein Staat."
Viele Schotten sind von Großbritannien enttäuscht
Der britische Staat aber bedeutet vielen Schotten immer weniger. Ihre schottische Identität ist weit stärker als ihre britische. Seit Langem verfügt ihre Nation über eine eigene Fußballnationalelf, ein eigenständiges Rechtssystem, eine eigene Kirche, Kultur, Sprache, Flagge und Hymne. Die Zeiten, als Glasgow die zweitwichtigste Stadt des Empire und Werkbank der Welt war, sind lange vorbei. Schottland hat sehr unter der Deindustrialisierung gelitten, und Maggie Thatcher verschärfte das Leid noch. Die Konservativen, einst stärkste Partei, schicken nur noch einen von 59 Abgeordneten ins Westminster Parlament.
"Es gibt einen Anti-Tory-Konsens in Schottland, zugleich einen Rechtsruck in der britischen Politik und die oft übertriebene Überzeugung Schottland sei anders als England und das UK. Aber die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die die Engländer gut finden, lehnen die weitaus meisten Schotten ab. Ein Wunsch der Schotten liegt der ganzen Debatte zugrunde: Sie wollen eine fortschrittliche Nation und eine europäische Nation sein. Aber die britische Politik geht in die exakt gegensätzliche Richtung."
Seit 1999 bestimmt ein eigenes Regionalparlament in Edinburgh über Gesundheits- und Bildungspolitik, über Tourismus, Polizei und Umwelt. Die Schotten wollen mehr davon, mehr Selbstbestimmung in der Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sagt Gerry Hassan.
"Wenn man fragt, wem vertrauen sie mehr, sich für schottische Interessen einzusetzen, dann antworten zwei Drittel: dem schottischen Parlament; und nur 20 Prozent sagen der Regierung in Westminster. Und so ist es seit einem knappen Jahrzehnt. Hier vollzieht sich eine kleine Abkopplung."
Die hat der Ministerpräsident Schottlands und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung Alex Salmond betrieben und genutzt. Der machtbewusste und ehrgeizige Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei SNP macht seit jeher für alle Missstände London verantwortlich. Deshalb ist vor allem eines wahlentscheidend: Die nüchterne Abwägung, ob es einem unabhängigen Schottland wirtschaftlich besser oder schlechter gehen wird als heute.
Schlechter, behaupten die großen unionistischen Parteien Konservative, Labour und Liberaldemokraten, die sich in der Better-Together-Kampagne zusammengeschlossen haben. Ex-Labour-Finanzminister Alistair Darling.
"Schottlands Bevölkerung altert schneller als im restlichen Königreich und zur selben Zeit gehen die Erdölvorräte zurück. Das führt zu einer Haushaltslücke, die entweder mit höheren Steuern oder Ausgabenkürzungen geschlossen werden muss. Aber warum sollten wir die Risiken einer Unabhängigkeit eingehen, wenn wir die Chancen und die Sicherheit haben, die daher rührt, dass wir Teil von etwas Größerem sind, dem United Kingdom."
Eine Auffassung, die eine große Mehrheit der Schotten lange Jahre teilte. Noch vor einem Jahr sahen die Umfragen, die Unabhängigkeitsgegner bei über 60 Prozent und die Fans bei unter 30 Prozent.
Doch der Abstand begann im November letzten Jahres zu schrumpfen, als der Nationalist Alex Salmond mit einem 670-Seiten-starken Weißbuch eine positive Vision für die Eigenständigkeit eines reichen und sozialen Landes vorlegte.
"Ein unabhängiges Schottland könnte die achthöchste Wirtschaftsleistung und das zehnthöchste Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung weltweit schaffen. Wir haben Weltklasse-Universitäten, große Erfahrungen in den Biowissenschaften, ein erstaunliches kulturelles Erbe und immense Energie- und Natur-Ressourcen und eine ausgebildete und erfinderische Bevölkerung."
Schottland müsste sich auch vom Pfund verabschieden
Statt selbst eine überzeugende Vision für ein Schottland als Teil Großbritanniens zu präsentieren, beschränkten sich die Unionisten darauf, Ängste zu schüren und auf die vielen offenen Fragen einer Unabhängigkeit hinzuweisen; Schottland werde nicht so ohne weiteres EU- oder NATO-Mitglied werden können, hieß es. Und Liberale und Labour stimmten dem konservativen Finanzminister George Osborne zu, als der im Frühjahr erklärte:
"Das Pfund ist nicht kein Gut, das man zwischen zwei Ländern nach einer Trennung aufspalten kann, als ob es eine CD Kollektion wäre. Wenn Schottland sich vom Vereinigten Königreich verabschiedet, verabschiedet es sich auch vom Pfund."
Man wolle keine Währungsunion mit einem fremden Staat, der hochverschuldet sei und auf dessen Finanz- und Wirtschaftspolitik man keinen Einfluss mehr habe. Die trotzige Antwort des First Minister Alex Salmond:
"We keep the pound, because it belongs to Scotland as much as it belongs to England. It's our pound as well as your pound."
Wenn Schottland das Pfund nicht behalten dürfe, werde es eben auch seine Schulden nicht zurückzahlen, drohte Alex Salmond und verursachte damit besorgtes Stirnrunzeln bei Ökonomen. Dass er aber die konzertierte Aktion der Londoner Parteien für Bluff, Getöse und Drangsalierung hält, weil eine gemeinsame Währung im gegenseitigen Interesse liege, das sieht die Mehrheit seiner Landsleute genauso.
Rechnet die Better-Together-Kampagne vor, jeder Schotte werde jährlich umgerechnet 1.700 Euro mehr in der Tasche haben, wenn das Land im United Kingdom bleibe, so behauptet Alex Salmond, jeder Schotte werde sich im Falle der Unabhängigkeit um 1.200 Euro besser stehen als jetzt.
Warnen neutrale Experten vor schwankenden und auf Dauer sinkenden Steuereinnahmen aus dem Ölgeschäft, die jährlich zwischen drei und fünf Milliarden Pfund betragen dürften, so legen die Separatisten andere Analysen vor und rechnen mit sieben Milliarden. Die bräuchten sie auch, um die versprochenen Sozialausgaben und Steuerkürzungen umzusetzen und das Defizit nicht weiter zu vergrößern.
Egal welche Warnung vor den ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit veröffentlicht wird - Salmond und die Unabhängigkeitsbewegung brandmarken sie meist als perfiden Versuch der Angstmache und kontern mit eigenen Statistiken.
Kein Wunder, dass die meisten Schotten am Ende nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen. Die Ängste vor der Unabhängigkeit konnte Alex Salmond so zumindest teilweise neutralisieren.
Umso anziehender wirkt seine Vision, über die im ganzen Land diskutiert wird und die Schottland schon jetzt grundlegend verändert hat. Unabhängigkeit ist für viele längst kein Hirngespinst mehr, sondern jetzt eine realistische Option. Sie sind elektrisiert von Alex Salmonds wichtigstem Argument:
"Wir glauben, dass wir uns selbst besser regieren können als irgendjemand anders. Wir müssen uns nicht erst erheben und zu einer Nation werden. Wir müssen bloß dafür stimmen, an uns selbst zu glauben. Dies ist unsere Zeit, unser Moment - lasst ihn uns mit beiden Händen greifen."
Und so haben sich zehntausende Schotten seit Monaten aufgemacht und werben in jeder Straße leidenschaftlich für die Vision eines reichen, unabhängigen, sozial gerechteren und demokratischeren Landes. Vor allem jüngere Leute - Pazifisten, Linksradikale, Grüne und Nationalisten - sind regelrecht beseelt.
David ist 24 und bis zu viermal täglich mit Freunden und seinem Auto unterwegs, um Menschen in Ost-Glasgow mit Flugblättern und Gesprächen zu versorgen.
"Wir sind eine Basisbewegung, die nicht von Politikern geleitet wird. Keiner von uns ist Politiker oder gewählt."
"Wenn Sie mich vor sechs Monaten gefragt hätten, ob wir erfolgreich sind, hätte ich geantwortet, ein Ja-Votum wäre ein bisschen hochgegriffen. Aber jetzt bin ich sehr zuversichtlich, dass Schottland es packt."
Sein Mitstreiter Graham ergänzt:
"Wo wir heute hinfahren, da lagen wir im Januar noch mit fünf zu eins zurück. Heute sind die Menschen dort zwei zu eins für die Unabhängigkeit."
Ältere Frauen seien am schwersten zu überzeugen, sie hätten die meisten Vorbehalte gegen Veränderungen. Nach zehn Minuten Fahrt schwärmen die Aktivisten aus in eine in die Jahre gekommene Doppelhaussiedlung; anhand des Wahlregisters werden systematisch die Adressen abgeklappert.
Ein bislang Unentschiedener ist inzwischen zum Ja-Wähler geworden.Auch Tony, einen kräftigen Rentner mit kurz geschorenem Schädel, muss David gar nicht erst zutexten.
"Hi I'm from the Yes campaign..."
Tony wollte eigentlich mit Nein stimmen. Aber nun will er Nigel Farage, den englischen Führer der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei UKIP endgültig loswerden. Und deswegen ist er nun doch für schottische Unabhängigkeit, und man habe ja das Öl, und den Whisky und ihre Majestät. Erst in den letzten zwei Wochen sind die Unionisten aufgeschreckt, haben gemerkt dass ihr einst komfortabler Vorsprung dahingeschmolzen ist. Seither überbieten sie sich mit dem unausgegorenen Versprechen, das schottische Parlament werde mehr Gesetzgebungsrechte erhalten – ein Vorschlag der reichlich spät kommt und inhaltlich vage bleibt.
"Atmo Scotland says no - Sprechchöre"
Nahezu panisch brechen Spitzenpolitiker nach Schottland auf:
"We are here in solidarity because we are better together."
Es gehe nicht nur um den Kopf, sondern auch ums Herz, meint Premierminister David Cameron
"Mein Herz würde zerbrechen, wenn die Familie von Nationen, die so viel Erstaunliches gemeinsam geleistet hat, auseinanderbräche. Vielleicht denken hier manche, das hier ist so etwas wie eine Parlamentswahl. Wenn Du die Nase voll hast von den verdammten Tories, tritt ihnen in den Hintern! Doch das ist etwas völlig anders jetzt. Es ist eine Entscheidung nicht für die nächsten fünf Jahre sondern für das nächste Jahrhundert."
Ob die Auftritte irgendjemanden beeindrucken, ist fraglich. Schon eher könnte die Intervention etlicher Unternehmen Wirkung zeigen.
Viele hatten bislang klammheimlich auf die Fortsetzung des United Kingdom gehofft und nicht gewagt, sich öffentlich zu äußern. Erst in den letzten Tagen ändert sich dies. Schottland drohe eine ökonomische Katastrophe; Banken, Versicherungen, Ölkonzerne und Einzelhandelsunternehmen warnen vor Entlassungen, höheren Preisen und Unternehmensverlagerungen. Es sind so viele gewichtige Stimmen, dass es der SNP schwerfiel, sie wie üblich als Einschüchterung und Panikmache abzutun. Stattdessen droht der frühere SNP-Vizechef Jim Sillars BP und anderen mit Verstaatlichung.
"In diesem Referendum geht es um Macht. Und bei einem Ja sind wir das souveräne Volk, und dann werden sie uns zuhören müssen, anstatt uns zu belehren und zum ängstlichsten Volk der Welt zu machen."
In einem unabhängigen Schottland komme, sagt der Nationalist Sillars, der Tag der Abrechnung.