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Nachtzug aus Lissabon
Vor 50 Jahren kam der "millionste Gastarbeiter"

Am 10. September 1964, vormittags kurz nach halb zehn, fahren zwei Züge in den Bahnhof Köln-Deutz ein. Hunderte Männer haben eine mehr als 48-stündige Reise aus Spanien und Portugal hinter sich. Müde und mit gemischten Gefühlen kommen sie als Gastarbeiter in das Wirtschaftswunderland. In einem der beiden Züge sitzt ein Mann, der noch nicht ahnt, dass er in einem fremden Land zur Ikone werden wird.

Von Marco Bertolaso |
    Der Portugiese Armando Rodrigues de Sá ist der vermutlich bekannteste Emigrant Deutschlands. Sein Bild ist in vielen Geschichtsbüchern. Das Moped, das er geschenkt bekam, steht heute im "Haus der Geschichte" in Bonn. Das Los machte ihn heute vor 50 Jahren zum "einmillionsten Gastarbeiter" in der Bundesrepublik.
    Immer wieder wurde spekuliert, ob es Zufall war, oder ob die Behörden und Wirtschaftsverbände damals jemanden aus einem "stabilen" Land ehren wollten. Dafür hielt man seinerzeit das Portugal des Diktators Salazar ohne Umschweife. Nahegelegen hätte die Auswahl eines Arbeiters aus Italien, das damals deutlich die meisten Arbeitskräfte geschickt hatte. Auch Türken oder Marokkaner waren schon im Land. Doch die Wahl fiel auf Armando Rodrigues de Sá.
    Das Bild mit dem Moped geht um die Welt
    Als sein Name auf dem Bahnsteig ausgerufen wird, da ist der 38-jährige Zimmermann aus dem kleinen nordportugiesischen Vale de Madeiros erst einmal verunsichert. Das zeigen die Bilder der Wochenschau. Er soll kurz an den langen Arm der Geheimpolizei Salazars gedacht haben. Dann tritt er vor, nimmt die Blumen entgegen und bekommt die Zündapp geschenkt. Dieses Bild eines hageren Mannes mit Hut und dem Moped geht am nächsten Tag um die Welt. Es schmückte Sondermünzen der Bundesbank und hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.
    Kaum jemand erinnert sich noch an Vera Rimski. Die Jugoslawin wurde im März 1972 als zwei-millionste Gastarbeiterin empfangen und bekam einen tragbaren Farbfernseher. Doch das Bild von Armando Rodrigues de Sá bleibt. Der wortkarge Mann sagte heute vor 50 Jahren, er wolle für seine Familie Geld verdienen und vielleicht später ein Häuschen bauen, zuhause. Damit fasst er die Motive fast aller Gastarbeiter zusammen. Zunächst war übrigens die Rede von Fremdarbeitern, aber dieser Begriff erinnerte dann doch zu sehr an die Jahre 1933 bis 1945.
    Die Zeit der Anwerbeabkommen
    Die Bundesrepublik Deutschland hatte 1955 ein erstes Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen, damit der boomende Arbeitsmarkt des Wirtschaftswunders nicht ins Stocken geriet. Ab 1960 folgten dann Schlag auf Schlag weitere Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, mit Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. In all diesen Ländern wurden die Bewerber oft unter deutscher Aufsicht ärztlich untersucht und dann einem Transport zugeteilt. Die Regierungen von Rom bis Belgrad konnten sich deutscher Gegenleistungen sicher sein, und in der Bundesrepublik waren die Wirtschaftsverbände der treibende Faktor.
    Für die Arbeitgeber sprach am 10.9.1964 bei dem kleinen Staatsakt auf dem Bahnhof Köln-Deutz der Fabrikant Manfred Dunkel. Auf die Frage eines Journalisten, was mit den ausländischen Arbeitskräften im Falle einer Krise passieren würde, hatte er eine klare Antwort: erstens, so schnell kommt keine Krise, zweitens, wir haben derzeit 500.000 unbesetzte Stellen und drittens, ja, natürlich gehen sie dann irgendwann zurück.
    Portugiesische "Gastarbeiter" verlassen den Bahnhof Harburg, 1965
    Portugiesische "Gastarbeiter" verlassen den Bahnhof Hamburg/Harburg, 1965 (Conti-Press/Museum der Arbeit)

    "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen"
    Da war sie, die Lebenslüge der frühen Bundesrepublik. Man hat Arbeitskräfte gerufen, so Max Frisch, und es kamen Menschen. Dass Frisch sich 1965 auf die Italiener in der Schweiz bezog, zeigt, dass dieser Irrtum etwas Universales hat. Es begann damals auch in Deutschland die Karriere des Begriffs "Integrationspolitik", leider oft verbunden mit dem Adjektiv "gescheitert". Doch das ist eine andere Geschichte.
    Der "millionste Gastarbeiter" hatte kein Glück
    Zurück zu Armando Rodrigues de Sá . In Köln blieb er nur wenige Stunden. Köln war einer der zentralen Ankunftsorte für Gastarbeiter in Deutschland. Auch wenn viele von ihnen in der Region blieben, galt das bei weitem nicht für alle. Züge oder Busse warteten auf die Ankommenden, mit denen sie dann ihre Reise fortsetzten in die Sammelunterkünfte größerer und kleinerer Firmen überall im Land.
    Armando Rodrigues de Sá hatte heute vor 50 Jahren noch eine recht lange Fahrt vor sich. Sie führte ihn über Stuttgart nach Blaubeuren. Dort arbeitete er, später in Sindelfingen und in Wiesbaden. Im Winter, wenn die Baustellen still lagen, war er oft zuhause. Ein Arbeitsunfall sorgte später für Komplikationen. Vielfach wurde der Unfall als Grund seines frühen Todes im Jahr 1979 genannt. Tatsächlich starb er aber an Magenkrebs. Der millionste Gastarbeiter hatte kein Glück, er wurde nur 53 Jahre alt. Das in Deutschland verdiente Geld überwies er weitgehend nach Hause. Damit kaufte die Familie das zur Hälfte geerbte Haus ganz. Viel Gespartes und die ausgezahlten Rentenbeiträge wurden für Ärzte und Medikamente ausgegeben.
    Gedenken in Deutschland - neue Auswanderung aus Portugal
    50 Jahre nach seiner Ankunft in Köln wird in Deutschland umfangreich an Armando Rodrigues de Sá erinnert. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der portugiesischen Gemeinde. Sie feiert in diesem Jahr noch ein zweites Ereignis, denn auch das Anwerbeabkommen mit Portugal stammt aus dem Jahr 1964. Eine kleine Gruppe engagierter Deutsch-Portugiesen hat einiges unternommen, um das Doppeljubiläum angemessen zu begehen. Die Familie des "millionsten Gastarbeiters" kommt am kommenden Samstag nach Köln, ebenso wie die für Integration zuständige Staatsministerin Aydan Özoğuz. Auf dem Bahnhof Deutz spielen Künstler die Ankunft von 1964 nach. Es wird eine Plakette enthüllt, die allen Einwanderern in Deutschland gewidmet ist. Ein Kongress zum Thema Integration rundet die Sache ab.
    Logo zum 50. Jahrestag der Ankunft des millionsten Gastarbeiters in Deutschland und zu 50 Jahre Portugiesen in Deutschland
    Logo zum 50. Jahrestag der Ankunft des millionsten Gastarbeiters in Deutschland und zu 50 Jahre Portugiesen in Deutschland ((Foto: Team Comunidade Alemanha))
    Dass die Portugiesen in Deutschland das alles ehrenamtlich auf die Beine stellen, das ist ein gutes Zeichen für Integration und Miteinander. In Portugal hat die Geschichte von Armando Rodrigues de Sá in diesem Jahr nicht so große Chancen auf Wahrnehmung. Allerdings wird es heute Abend auch in Lissabon eine kleine Feier geben. Der Enkel von Armando Rodrigues de Sá macht sich dann vom Bahnhof Santa Apolónia auf nach Köln, wie einst sein Großvater, den er auf diese Weise ehren will. Bei der Verabschiedung will auch der deutsche Botschafter sprechen. Ansonsten haben die Menschen in Portugal neue Sorgen. Euro- und Wirtschaftskrise haben dazu geführt, dass die Auswanderung längst wieder auf Hochtouren läuft. Der Unterschied ist, dass die Enkel des millionsten Gastarbeiters in der Regel einen Hochschulabschluss haben und dass sie mit dem Flugzeug ausreisen. Köln/Bonn also und nicht mehr Köln-Deutz - wenn es nicht direkt nach Angola oder Mosambik geht.
    Prekäre Lage vieler Gastarbeiter im Rentenalter
    Probleme gibt es aber auch in Deutschland, zum Beispiel für ehemalige Gastarbeiter im Rentenalter. Abgesehen von manchen sozialen und kulturellen Schwierigkeiten geht es dabei auch um Geld. Eine neue Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt: beinahe 42 Prozent der ehemaligen Gastarbeiter sind von Altersarmut bedroht. Dieser Wert ist mehr als dreimal so hoch wie unter Deutschen über 65 Jahren. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass viele Ausländer im Niedriglohnbereich tätig waren. In der aktiven Zeit konnte das noch mit vielen Überstunden in Teilen kompensiert werden, im Rentenalter schlägt das Problem dann voll durch. Ein weiterer Faktor ist, dass die frühen Gastarbeiter vor allem in den Leitindustrien der Nachkriegszeit gearbeitet haben, die später vom Strukturwandel hart erwischt wurden. So mancher Türke, Grieche, Italiener oder Portugiese konnte also nicht bis 65 arbeiten.
    An Armando Rodrigues de Sá wird in diesen Tagen allenthalben erinnert. Die Frauen und Männer, die vor 50 Jahren mit ihm kamen, sind heute hochbetagte Rentner. Die sozialen und wirtschaftlichen Umstände, unter denen sie leben, sollten die deutsche Gesellschaft mehr interessieren. Das haben diese Menschen verdient, die zu Wirtschaftswunder und Wohlstand beigetragen haben.