Archiv


Nah dran am Leben

Schon mit ihrem Debütroman "Herbstattacke" ist Nataly Savina 2012 der Sprung in die Liste der besten 7 Bücher für junge Leser gelungen, mit "Love Alice" wiederholte sie das Kunststück. Ihr jüngstes Werk ist eine Geschichte der Freundschaft.

Mit Ute Wegmann |
    Ute Wegmann: Viele Jugendromane der letzten Jahre handeln von Vampiren oder Untoten, oder sie sind Dystopien, erzählen von bevorstehenden oder gerade erfolgten Katastrophen: Viren, Epidemien, Klimadisaster, digitale Diktaturen, die die Unfreiheit des Einzelnen bedeuten. All das ist Fiktion. Alle diese Szenarien - erfunden oder die Gegenwart in die Zukunft gedacht - sind fern jeder Realität. Was aber, wenn da eine käme und schriebe über Jugendliche von heute, über ihre Ängste, Sorgen, Einsamkeit, erstes Verliebtsein, erste echte Freundschaft, erster Sex. Wenn sie über das Aufeinanderprallen von Temperamenten schriebe, oder von Kulturen, von sozialen Schichten. Und wenn da plötzlich ein neuer Ton wäre: spröde, knapper Stil, lebensnahe Dialoge. Mit sorgfältiger Beobachtung und einem feinen Gespür für Psychologie und Dramaturgie führt die Schriftstellerin ihr Personal durch die Geschichten. Sie hat den Mut zum offenen oder sogar zum Unhappy End, aber nicht Verzweiflung bleibt zurück, sondern eine Erkenntnis, eine Hoffnung, vor allem ein Gefühl. Diese Schriftstellerin ist heute mein Gast im Büchermarkt. Nataly Savina, zwei Jugendromane sind von Ihnen in den letzten beiden Jahren erschienen. "Herbstattacke" und "Love Alice". Aber Sie sind nicht nur Schriftstellerin, Sie sind auch Drehbuchautorin und Mutter. Was beschäftigt Sie gerade am meisten?

    Nataly Savina: Am meisten die Kinder. Ich arbeite natürlich tagsüber, wenn die Kinder in der Kita sind, an verschiedenen Projekten, einem weiteren Roman, einem Drehbuch. Ich lektoriere für Film- und Förderanstalten, für das Medienboard in Berlin zum Beispiel. Und wenn die Kinder zurück sind, bin ich ausschließlich mit ihnen beschäftigt.

    Wegmann: Ist das gut unter einen Hut zu bringen?

    Savina: Es ist schwierig. Ich halte mich nicht für eine so energiegeladene Person und es fordert mich sehr. Aber es ist auch schön. Ich bin Familienmensch durch und durch.

    Wegmann: Sie leben in Berlin, das war nicht immer so. Geboren in Riga, Hauptstadt Lettlands, gingen mit ihrer Mutter nach Helsinki, von dort nach Freiburg, studierten Angewandte Kulturwissenschaften in Hildesheim und später Drehbuch an der Film- und Fernsehakademie in Berlin. Ist einer dieser Orte Heimat und wodurch zeichnet sich Ihr Heimatgefühl aus?

    Savina: Ich habe als Teenager viel darüber nachgedacht. Ich bin ja in der Sowjetunion geboren und habe mich auch damit als Geburtsort identifiziert. Dann zerbrach die Sowjetunion und es waren ganz viele verschiedene Staaten, und ich musste mich fragen: Wer bin ich denn? Bin ich jetzt Russin oder Lettin? Sind wir auch Juden oder nicht? Und was bedeutet das? Ich bin dann irgendwann damit übereingekommen, dass es nicht so wichtig ist. Heimat ist für mich der Ort, wo ich mich zwischen meinen Freunden fühle. Und zu Hause fühle und das ist aktuell Berlin.

    Wegmann: Heißt das, dass der Heimatbegriff sich ändern könnte?

    Savina: Ja, ich denke, für die aktuelle Generation ist es schon längst so weit. Man definiert den Ort, wo man zu Hause ist, durch das Gefühl und weniger durch den Eintrag, dass man dort geboren wurde.

    Wegmann: Hat das auch etwas mit Mobilität zu tun?

    Savina: Mit Sicherheit. Aber es hat möglicherweise auch etwas damit zutun, dass der Begriff von Patriotismus auch durch die politischen Zuspitzungen einen negativen Anstrich hat. Auch für mich.

    Wegmann: Ihre Abschlussarbeit trägt den Titel: "Sehnsucht und Suizid im Film". Was reizte Sie an diesem Thema?

    Savina: Mich hat an diesem Thema gereizt, das die Romantisierung von negativen Gefühlen, wie ich es um mich herum wahrgenommen habe in der westlichen Gesellschaft, so einen hohen Stellenwert hat. Das ist mir aufgefallen, auch, dass zum einen ich davon selbst ganz angetan und fasziniert bin, und zum anderen, dass es sich in der Popkultur und in der Filmkunst wiederholt spiegelt. Und dem wollte ich nachgehen. Das behandle ich in meiner Arbeit und das kann eben auch in einer klinischen Depression münden. Ich habe mich damit beschäftigt, wie das ist, dass man zum Beispiel immer den Moment, wo sich eine der Hauptfiguren suizidiert, natürlich ganz ganz traurig findet, aber auch sehr erhaben. Weil im wahren Leben hat es nämlich nichts Erhabenes, Majestätisches oder besonders positiv Emotionales, wenn jemand den Freitod wählt.

    Wegmann: Auf Ihrer Webseite steht über den vorgestellten Filmprojekten: "Allen Geschichten liegt eine Vision zugrunde, alle sind fiktiv, alle sind biografisch."

    a) "Baden Baden Peng Peng" - russische Neureiche treffen auf dt. Bildungsbürger (komödiantische Familiengeschichte)

    b) "Vertrauen ist gut, Vergiften ist besser" - skrupelloser Betrüger wird von junger Freundin erst entdeckt, dann verraten.

    c) "Westend" - ein äthiopisches Waisenhaus steht im Mittelpunkt

    Das macht mich neugierig. Was ist wo wie biografisch?

    Savina: Grundsätzlich sind alle Geschichten, die ich schreibe, so geartet, dass es eine Collage ist aus einer fiktiven Dramaturgie und realen Erlebnissen, sowohl meinen als auch von Freunden. Und dann kommen natürlich noch dazu die recherchierten Elemente, je nach Geschichte, Informationen aus Gesprächen. Und so formt sich dann alles zusammen. Die Figuren, die die Geschichte bevölkern, da fließt viel von mir mit ein als Autorin. Das ist auch nicht abzustellen, selbst wenn man wollte. Das ist immer ein Teil Fiktion und ein Teil, ein geheimnisvoller Teil, von mir selbst.

    Wegmann: Die beiden ersten Projekte klingen eher komödiantisch oder kriminalistisch. Mit beiden Genres haben Ihre Jugendromane gar nichts zu tun. "Herbstattacke", 2012 erschienen, erzählt die Geschichte Leos und Farsanehs, die sich ineinander verlieben, sich aber nicht lieben dürfen. Farsanehs großer Bruder Malik ist der Aufpasser, der Macho, gleichzeitig Kopf einer tonangebenden Gang. Leo, 15 Jahre, ist der Neue, dem es gelingt, sich zu behaupten, Mitglied der Gruppe zu werden. (Antennen abknicken, Handys und Geld abzocken, rüde provozieren)

    Dem provokanten Verhalten gegenüber steht der liebevolle Umgang innerhalb der persischen Familie, vor allem mit dem achtjährigen Bruder. Aber der Kleine zeigt auch bereits unkontrollierte Aggressivität und Potenzgehabe.

    Spiegeln Sie in dem jüngsten Bruder die Zerrissenheit der jungen Männer und ihrer Rollen, mit denen sie kämpfen?

    Savina: Wenn es sich darin spiegeln würde, fände ich es ganz toll. Grundsätzlich habe ich nicht darüber nachgedacht, was ich mit der Figur bezwecke. Wie mit allen Figuren. Ich habe sie entwickelt und wie reale Menschen betrachtet und mich immer gefragt, was sie wünschen, warum sie das wünschen, und warum sie sich so verhalten wie sie sich verhalten. Natürlich entsteht so auch ein Gesellschaftsporträt, wenn man das ernst genug betreibt und an realen Personen anlegt. Aber ich habe das nicht im Hinterkopf beim Schreiben.

    Wegmann: Glauben Sie, dass diese Zerrissenheit ein Problem des Aufeinanderprallens der Kulturen, auch in Deutschland sein könnte?

    Savina: Das ist sicher ein Problem, wobei Problem ja nicht unbedingt negativ ist. Es ist ein Konflikt und damit muss man umgehen. Den erleben mit Sicherheit ganz viele Jugendliche. Auch ich habe in meiner Jugend viele Migranten und Immigranten verschiedenster Länder erlebt. Ich war mit Griechen befreundet, Iranern, Türken, Serben, also querbeet. Es ist immer entscheidend, wie geht man damit um und auch mit den Vorteilen, die man aus dem Elternhaus mitbringt. Denn Kinder selbst sind oft viel freier und mutiger als die Eltern.

    Wegmann: "Farsaneh erzählte ...", so leiten Sie die Kapitel ein, in denen wir Farsanehs Haltung und Alltag erleben. Sie erzählte, ihm, dem Icherzähler Leo. Dokumentiert das die Kommunikation zwischen den beiden Liebenden?

    Savina: Ja, das sollte es. Grundsätzlich stand ich beim Schreiben vor dem Problem, ich wollte Farsanehs intimes und soziales Leben zeigen, war aber dadurch begrenzt, weil mein Erzähler ein Junge ist. Einer, der knapp redet, ich habe mir vorgestellt, ein Junge, der Tagebuch schreibt, der um jedes Wort ringt und auch nicht gern in die Tiefe geht. Ich habe mich gefragt, wenn sie sich heimlich treffen, was tun sie denn dann. Und es ist so, sie reden ganz viel miteinander. Sie erzählt ihm ganz viel von sich. Das sind dann diese Kapitel. Was ich aber auch schön fand, dass ich mir das Buch wie ein Musikstück, wie ein Lied vorgestellt habe. Und die Passagen mit Farsaneh, das war der Refrain, das Leitthema.

    Wegmann: Kurze Kapitel, knappe Sätze, ein manchmal gehetzter Stil. Eine Liebesgeschichte, geprägt von Heimlichkeiten, so traurig, und doch voller Hoffnung und Zukunft.

    Was war Ihnen das Wichtigste: das Verbot dieser Liebe? Die Überschreitung? Die Zuversicht am Ende?

    Savina: Das Wichtigste war für mich die Idee, dass die Hauptfigur Freunde findet, auf einem ganz ungewöhnlichen Weg. Dass er Freunde findet, mit denen er Zeit verbringt, und die ihm ein wichtiger Halt sind in einer Zeit, in der seine Mutter unter der Scheidung leidet, und dass er auch eine Freundin in Farsaneh findet. Auch wenn er das erst später wahrnimmt, weil er zum ersten Mal verliebt ist. Aber dass Farsaneh ihm auch sehr sehr viel gibt.

    Wegmann: Also ist die Freundschaft wichtiger als die Liebe?

    Savina: Im Grunde ja. Dieses Buch ist thematisch sehr auf Freundschaft fokussiert.

    Wegmann: In beiden Romanen spielen schwache Erwachsene, vor allem psychisch angeschlagene Mütter eine große Rolle. Ist das eine Art Bestandsaufnahme einer Realität, ein Erklärungsversuch, warum Jugendliche nicht zurechtkommen oder ausbrechen, oder ist es eine Schuldzuweisung?

    Savina: Eine Schuldzuweisung ist es auf keinen Fall. Die Mutterfiguren in meinen Büchern sind sehr expressiv. Aber die Mutter im zweiten Buch würde ich nicht als schwach bezeichnen. Vielleicht egozentrisch, aber nicht schwach. Sie ist alleinerziehend und sehr tough, was in ihrem Beruf nicht so einfach ist. Ich denke, man darf auch nicht vergessen, dass Mütter und Väter durch die Augen eines Teenagers gesehen werden. Und die Augen eines Teenagers sind hart und bitter und nicht unbedingt auf der Seite der Erwachsenen. Aber natürlich machen auch Erwachsene, gerade Eltern viele Fehler und sind verantwortlich, wenn ihre Kinder straucheln.

    Wegmann: Jetzt haben Sie mir fast meine nächste Frage mitbeantwortet: Auch in dem neuen Roman "Love Alice" spielt die Auseinandersetzung mit den komplizierten, egoistischen Erwachsenen eine Rolle, aber auch mit Schuld.

    Kann man sagen: Vieles wäre nicht passiert, wenn die Erwachsenen ihre Rolle erfüllt hätten, sorgende Mütter und Väter zu sein?

    Savina: Das ist schwer zu beantworten, denn so funktioniert das Leben nicht. Man weiß nicht, was gewesen wäre ...

    Ich denke, es ist keine Schuldzuweisung, an keiner Stelle. Es ist die unglückliche Fügung der Situationen, die dann das Unglück mit hervorruft.

    Wegmann: Kurz zum Inhalt: "Love Alice" ist die Geschichte einer Freundschaft. Ein Roman über Einsamkeit, Verlust, Tod, Trauer und Trost durch ein Gedicht. Wer sich hier anfreundet, sind zwei Außenseiterinnen, zwei einsame Wesen. Erzählt aus der Perspektive der 14-jährigen Alice, die in der neuen Stadt Cherry kennenlernt.

    Auch in dieser Geschichte geht es - wie in "Herbstattacke" - um einen Neuanfang. Auch hier treffen zwei gegensätzliche Menschen aufeinander, die voneinander angezogen sind, auch hier ein hohes Maß an Aggressivität.

    Ist die Aggressivität Ihrer Figuren und ihre Unberechenbarkeit Ausdruck von Verzweiflung? Von dem Sich-nicht-geliebt-fühlen?

    Savina: Teilweise ist es sicher das. Das klassische Gefühl eines Teenagers ist ja, sich missverstanden zu fühlen. Teilweise ist es aber auch ein Ausdruck ihrer Energie, was ich auch sehr stark mit der Teenagerzeit verbinde. Eine Energie, die kanalisiert werden muss, die im Blick der Erwachsenen unbedächtig oder aggressiv ausgelebt wird oder gewalttätig. Ich möchte es aber selber gar nicht werten.

    Wegmann: Cherry liebt das Risiko. Und Alice liebt Cherry. So wie sie ist. Mit allen Abgründen. Alice sorgt sich nicht um Cherry, denn die Freundin kennt die wichtigste Regel aus dem Karatekurs: "Jedes Unglück geschieht durch Unachtsamkeit."

    Das Entdecken der Sexualität
    Wegmann: Sie beschreiben eine ganz wunderbare Intensität zwischen den beiden Mädchen! Es ist ja mehr als Freundschaft, sondern auch ein erstes vorsichtiges Entdecken von Sexualität. Wie sehr gehört die zarte Sexualität zu dieser Freundschaft?

    Savina: Ich denke, zu jeder intensiven Freundschaft in diesem Alter gehört ein gewisses Ausprobieren mit dazu, und das beschreibe ich auch. Es ist kein lesbisches Mädchenpaar, aber eine Beziehung, die stark durch Emotionalität und Intensität geprägt wird.

    Wegmann: Jedes Unglück geschieht nur durch Unachtsamkeit - das war die Karateregel.

    Dass ausgerechnet das Glück über die bestandene Prüfung Cherry auf dem dunklen Heimweg unachtsam macht, gibt der Geschichte für einen Moment eine bedrückende Schwere. Aber dann finden Sie, Nataly Savina, einen Trost für Alice und für ihre Leser durch das Schlusskapitel. "Am Abschiedsgrat".

    Das Gedicht von Paul Celan ist ein großer Trost, für Alice , für den Leser. Wie haben Sie das gefunden? Oder war das schon immer in Ihrem Leben?

    Savina: Das Gedicht war tatsächlich recht früh in meinem Leben. In der "Vogue" als Teenager, habe ich es gefunden, als die gesammelten Werke des Dichters erschienen. Ich habe mich sofort in das Gedicht verliebt und mir die gesammelten Werke gewünscht, und bekommen und bin seitdem Fan. Und als ich selbst in meinem realen Leben einen Verlust erlitten habe, wie der, um den sich mein Buch dreht, da war dieses Gedicht ein großer Trost für mich.

    Wegmann: Das heißt, auch dieses Moment hat autobiografische Züge.

    Savina: Ja, dieser Moment hat sehr deutliche autobiografische Züge.

    Wegmann: Die eigene Achtsamkeit wird Alices Leben bestimmen, aber auch Cherry wird Teil ihres Lebens bleiben.

    Danke, Nataly Savina, für diese wunderbaren Mädchenfiguren. Danke, dass Sie mein Gast waren.

    Wir sprachen über die Romane:

    "Herbstattacke", 137 Seiten, chicken house bei Carlsen Verlag für junge Leser ab 13
    "Love Alice", 157 Seiten, Beltz & Gelberg, ab 13 Jahre