Der Armuts- und Reichtumsbericht wird alle vier Jahre erstellt. Nach monatelangen Verzögerungen hatten sich das Kanzleramt und Nahles Ende März auf eine Fassung geeinigt.
Sarah Zerback: Es wurde gefeilscht um jede Formulierung. Sieben Monate lang hat die Bundesregierung um den Armuts- und Reichtumsbericht gerungen. Peinlich nannten das die Sozialverbände, ein Spiel mit den Medien oder regierungsamtliche Schönfärberei. Nachdem sich die Große Koalition dann im vergangenen Monat auf eine Fassung einigen konnte, soll der Bericht nun heute final im Kabinett beschlossen werden.
Erarbeitet hat den Armuts- und Reichtumsbericht Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales der SPD. Guten Morgen, Frau Nahles.
Andrea Nahles: Guten Morgen, Frau Zerback.
Zerback: Jetzt, pünktlich zum Wahlkampf. Wir haben es gerade gehört. Hat da Ihre Partei die soziale Gerechtigkeit wiederentdeckt?
Nahles: Nein. Der Armuts- und Reichtumsbericht kommt einmal alle vier Jahre, immer gegen Ende der Legislaturperiode. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun, sondern das ist eine lange, aufwendige Arbeit, die auch auf Studien, die wir in Auftrag gegeben haben, basiert. Insoweit ein wichtiger Fakten-Check zum Thema Armut und Reichtum in Deutschland.
"Es gibt sehr wenige Daten über Reichtum. Es ist praktisch eine Black Box"
Zerback: Und dennoch ist die soziale Gerechtigkeit ja zufällig auch Wahlkampfthema der SPD.
Nahles: Ich habe mich direkt, als ich Ministerin wurde, mit der Frage beschäftigt, was wollen wir eigentlich mit dem Armuts- und Reichtumsbericht an Erkenntnissen noch mal in den Fokus nehmen. Dabei ist mir aufgefallen, es gibt sehr wenige Daten über Reichtum. Es ist praktisch eine Black Box. Deswegen hatten wir dann einige Studien in Auftrag gegeben, unter anderem auch direkte Interviews mit Menschen, die über eine Million frei verfügbares Vermögen haben. Daraus haben wir dann auch Schlussfolgerungen gezogen. Die waren durchaus diskussionswürdig in der Regierung. Aber die Fakten und die Daten, die Studien haben wir von Anfang an veröffentlicht. Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte dieses Reichtumsbericht alles, was wir erarbeitet haben, was wir an Daten hatten, auch öffentlich gemacht. Kann man bei uns auf der Homepage alles nachsehen. Es wurde also nichts verschwiegen und gekürzt. Das haben wir begonnen bereits direkt nach der Wahl und es geht jetzt mit dem Bericht zu Ende, und ich muss ausdrücklich betonen, dass das kein Wahlkampfthema in dem Sinne ist. Das ist weder der Movens dieses Berichts, noch ist es der Fokus, sondern wir machen hier etwas, was der Bundestag in Auftrag gegeben hat, und ich finde es auch eine wichtige Arbeit.
Zerback: Lassen Sie mich mal auf das Stichwort eingehen. Sie sprechen davon, eine Black Box zum Stichwort Reichtum in Deutschland aufklären zu wollen, da Licht ins Dunkel zu bringen. Nun wird aber genau das Ihnen vorgeworfen, und zwar fragt man sich doch, wo die Superreichen in Ihrem Bericht bleiben. Da sucht man vergeblich nach.
Nahles: Nun, das ist ganz simpel. Seit der Aussetzung der Vermögenssteuer gibt es schlicht keine Daten mehr. Wir haben einen sogenannten SOEP-Datensatz, Sozio-oekonomische Panel, und da stellt sich raus, bis 18.000 Euro Monatseinkommen haben wir Daten, darüber hinaus nicht. Ich war selber etwas überrascht als neue Ministerin, dass wir jeden Cent von Armen zweimal umdrehen und auch alles genau wissen in Deutschland über Menschen, die beispielsweise auf staatliche Leistungen angewiesen sind, aber sehr wenig auch aufgrund von über Jahren nicht erhobenen Daten über die am oberen Spektrum. Deswegen haben wir versucht, da Licht ins Dunkel zu bringen, wie Sie schon sagen, aber das würde ich noch nicht als abgeschlossen bezeichnen. Ich denke, wir haben da Forschungsnotwendigkeiten. Da müssten wir noch mehr machen, als das in einer Legislaturperiode möglich war.
Zerback: Aber dass man Sie noch überraschen kann, Frau Nahles.
"Insbesondere im Dienstleistungsbereich stellen wir fest, dass die Löhne stagniert haben seit 1995"
Nahles: Durchaus! So alt bin ich ja nun wirklich nicht.
Zerback: Nun sind Sie aber schon seit einer ganzen Weile im politischen Geschäft und die SPD seit fast zwei Jahrzehnten in Regierungsverantwortung, mit Unterbrechung. Da war ja nun die Gelegenheit da, diese Schieflage, die Sie bemängeln, zwischen Arm und Reich zu verringern. Warum haben Sie nicht?
Nahles: Nun, wir haben, das ist durchaus nachweisbar, dass es beispielsweise durch den Mindestlohn eine Stabilisierung bei den Löhnen gegeben hat, auch eine leicht ansteigende Tarifbindung. Wir haben auch insgesamt weniger Menschen, die wirklich an materiellen Entbehrungen leiden. Das ist wirklich das, was bedeutet, dass man sich keinen Urlaub leisten kann, dass man nicht angemessen heizen kann, Zahlungsrückstände hat. Das ist zurückgegangen. Das sind die guten Seiten.
Auf der anderen Seite ist das Auffälligste – und das kann man in dem Bericht auf Seite 62 sich mal angucken – die Lohnspreizung eigentlich. Das hat wirklich mir doch noch mal zu denken gegeben. Das bedeutet, dass wir durch den Mindestlohn diese Lohnentwicklung, die Reallohnentwicklung nicht wirklich gerecht ausgestalten konnten. Wir haben da zwar eine Haltelinie eingezogen, aber wir müssen, so würde ich es vorschlagen, einen Pakt für anständige Löhne auf den Weg bringen. Denn insbesondere im Dienstleistungsbereich stellen wir fest, dass die Löhne stagniert haben seit 1995, dass es teilweise sogar ein Minus gibt und dass wir keine gleichmäßige Reallohnsteigerung haben, und das ist etwas, was man politisch auf die Tagesordnung setzen muss und wo wir einiges gemacht haben, aber noch nicht genug.
Zerback: Sie schreiben wortwörtlich im Bericht, die unteren 40 Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 90er.
Nahles: Richtig.
Zerback: Ende der 90er ist die SPD in Regierungsverantwortung gekommen. Können Sie uns das erklären? Das klingt erst mal schwierig.
Nahles: Diese Entwicklungen haben damit zu tun, dass wir eine abnehmende Tarifbindung haben, seit 1981 schon massiv. Das ist etwas: Die Löhne werden in Deutschland nicht durch die Politik festgesetzt - der Mindestlohn ist, wenn Sie so wollen, eine Ausnahme -, sondern durch die Tarifpartner. Die Tarifbindung ist weiterhin am erodieren und wir haben jetzt gerade in dieser Legislaturperiode uns dagegen gestemmt. Die Daten, hoffe ich, werden besser, weil wir die Tarifautonomie über mehrere Gesetze gestärkt haben. Aber trotzdem ist die Lohnentwicklung und die Lohnspreizung eine Sache, wo wir auch politisch uns fragen müssen, können wir da nicht noch mehr tun, zum Beispiel, indem wir den Niedriglohnsektor weiter versuchen einzudämmen. Da gehören für mich auch ausufernde Befristungen zum Beispiel dazu. Es ist tatsächlich aus meiner Perspektive zu lange zu wenig gemacht worden, um den Niedriglohnsektor einzudämmen. Man hat mit 5,3 Millionen Arbeitslosen Anfang der 2000er-Jahre sicherlich erst mal den Fokus gehabt, Hauptsache Arbeit. Ich glaube, wir müssen mehr über die Qualität dieser Arbeit reden und auch über die Vergütung, die Entlohnung dieser Arbeit.
Zerback: Und wir müssen auch über diejenigen sprechen, die keine Arbeit haben. Da können wir am besten mal einen aktuellen Hartz-IV-Empfänger fragen, wie gerecht er es denn findet, dass der Regelsatz jetzt in diesem Jahr nur um fünf Euro erhöht wurde. Wem hat das geholfen? Dafür sind Sie ja verantwortlich.
Nahles: Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von 2007 bis heute von 1,7 Millionen Menschen auf unter eine Million gesunken. Es sind auch viele Leute, über 700.000 gerade in den letzten zehn Jahren in Arbeit gekommen. Das möchte ich auch mal sagen. Zum zweiten werden die Hartz-IV-Regelsätze ermittelt nach einem Verfahren, das 2014 noch mal vom Bundesverfassungsgericht überprüft wurde. Da wurden einige Sachen bemängelt. Das habe ich korrigiert. Und auf der Basis wird das berechnet.
Zerback: Vielleicht muss man sich dann fragen, ob die Berechnungsbasis die richtige ist.
Nahles: Ja! Die wurde ja überprüft durch das Bundesverfassungsgericht. Die wurde ja in Zweifel gestellt und das wurde im Kern für richtig befunden mit einigen Aufträgen, die wir dann auch umgesetzt haben. Zum Beispiel Mobilitätskosten waren zu gering veranlagt worden. Das haben wir korrigiert. Ich finde, wir sollten lieber darüber reden, wie wir die Primärverteilung verbessern können, nämlich wie die Löhne in dem unteren Bereich steigen sollen.
Nahles: Lassen Sie uns kurz ruhig dabei bleiben. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet zum Beispiel noch mal anders und sagt, er kommt da auf einen Betrag von 520 Euro, wo Sie nur auf 409 kommen. Warum dieser Sinneswandel? Sie haben diese Methoden Ihrer Vorgängerin selbst noch kritisiert.
Nahles: Ich muss ganz ehrlich sagen, ich halte sehr viel von den Methoden, wie wir die Transferleistungen hier berechnen. Die Menschen, die Steuern und Beiträge bezahlen, die sind auch darauf angewiesen, dass wir hier sorgsam und auch fair mit den Mitteln umgehen. Das sind ja keine Mittel, die ich jetzt irgendwo unter der Bettdecke habe, sondern die werden ja erarbeitet von anderen Menschen. Ich habe einige Punkte auch kritisiert an der Berechnung. Wir haben ja auch einige Punkte geändert jetzt an der Berechnungsmethode. Zum Beispiel haben Kinder von sechs bis 13 Jahren 14 Euro pro Monat mehr bekommen. Da gab es Auffälligkeiten, dass die unterfinanziert waren. Das haben wir korrigiert. Ich habe da jedenfalls keine schlaflose Nacht. Trotzdem ist das insgesamt sehr wenig Geld. Das ist absolut bitter, wenn man nur von diesen Transferleistungen leben muss, und deswegen muss unser Hauptfokus darauf liegen, die Leute aus dem Transferleistungsbezug rauszunehmen, und deswegen brauchen wir meiner Meinung nach – und das haben wir auch gemacht, aber noch ausbaufähig – ein Programm zum Beispiel für den öffentlichen Beschäftigungssektor. Für Menschen, die wirklich verfestigt in Langzeitarbeitslosigkeit sind, müssen wir mehr tun. Ich habe da ein Programm auflegen können, dafür habe ich die finanziellen Mittel gehabt, soziale Teilhabe. Das, finde ich, muss ausgebaut werden. Weil das Wichtigste ist, dass die Leute eine Chance haben, aus eigener Kraft wieder ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Zerback: … sagt Andrea Nahles von der SPD, Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Besten Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Nahles: Ja! Vielen Dank auch.
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