"Die Lage ist ernst" – das leugnet auch die NATO nicht: Auge in Auge stehen sich die Türkei und Russland gegenüber, nachdem das NATO-Mitglied einen russischen Kampfjet an der Grenze zu Syrien abgeschossen hatte. "Bloß jetzt keine weitere Verschlimmerung der Lage" – so lautet das Motto der Militär-Allianz in diesen auch für sie äußerst heiklen Stunden. "Ich rufe zur Ruhe und De-Eskalation auf. Diplomatie und Abkühlung des Konflikts sind wichtig, um die Situation in den Griff zu bekommen", erklärte NATO-Generalsekretär Stoltenberg nach der Krisensitzung des Bündnisses, die auf Wunsch der Türkei einberufen worden war.
Russland droht mit Konsequenzen
Der Abschuss werde Folgen haben, hatte Russlands Präsident Putin angedroht. Sollte er – wovon niemand ausgeht – eine militärische Antwort gegen die Türkei geben, wäre die NATO gezwungen, ihrem Partner zur Seite zu springen. Ebenfalls militärisch. Doch derzeit wird der Konflikt nicht auf der Ebene NATO-Russland ausgetragen – sondern auf der Ebene Türkei-Russland. "Jetzt ist eine Konfrontation da. Allerdings glaube ich, dass die auf niedriger Temperatur gekocht wird, als es nach Außen den Anschein hat: Russland wird viel Krach machen, wird sich empören, aber es hat kein Interesse daran, die Sache zu eskalieren", meint der Sicherheitsexperte der Brüsseler Denkfabrik "Carnegie Europe", Jan Techau, im ARD-Hörfunk-Interview.
Ungelöste Rätsel
Doch viele Fragen die Zukunft und den Vorfall selbst betreffend bleiben: Dass der russische Kampfjet den Luftraum der Türkei verletzte, ehe er abgeschossen wurde, davon geht man eindeutig auch bei der NATO aus."Die Bewertungen, die wir von unseren Verbündeten bekommen haben, decken sich mit den von der Türkei vorgelegten Informationen", bestätigt der NATO-Generalsekretär. Wie aus Bündnis-Kreisen allerdings auch verlautet, soll der russische Kampfjet nur sehr kurz über türkischem Gebiet geflogen sein. Die Rede ist von wenigen Sekunden.
Die Phase der Spekulationen und ungelösten Rätsel ist also noch lange nicht abgeschlossen. Fest steht, dass dieser Vorfall nicht nur der NATO, sondern dem Westen insgesamt äußerst ungelegen kommt – hatte doch zum Beispiel nicht nur Frankreich nach der Terror-Serie von Paris seine Angriffe auf die Milizen des Islamischen Staats gerade erst verstärkt. "Wenn man den Islamischen Staat besiegen will, wird man das mit Luftangriffen alleine nicht bewerkstelligen können", sagt Sicherheitsexperte Techau.
Sorge um Erfolgsaussichten der Syrien-Gespräche
Aber: Diplomaten machen sich nun auch ernsthaft Sorgen um die Erfolgsaussichten der Syrien-Friedens-Gespräche, bei denen es auch um die Zukunft von Machthaber Assad geht – und bei denen Russland mit am Tisch sitzt. Diese Gespräche wiederum gelten als wichtige Voraussetzung dafür, die Terror-Milizen überhaupt eines Tages besiegen zu können. Soweit das überhaupt möglich ist: "Was man tun kann, und das versucht man seit Neuestem, ist: die Geldeinnahme-Quellen des Islamischen Staats – also Öl – zu unterbrechen. Sprich: Die Ölfelder und die Transportwege, also Tanklaster, zu zerstören."
Zudem ist Frankreich damit beschäftigt, eine ganz große internationale Koalition gegen den Islamischen Staat zu formen. Und dafür braucht es wiederum: Russland. Wie erfolgreich Paris damit sein wird, ist derzeit schwer vorherzusagen. Fest aber steht: je zerstrittener die großen Mächte in Sachen Syrien sind, um so mehr nützt das dem Islamischen Staat.