Der Demonstrant hat zwei weiße Sportschuhe mit ihren Schnürsenkeln zusammengebunden. Er steht auf einer kleinen Mauer unter einem Baum, holt aus und wirft sie hinauf. Der erste Wurf sitzt bereits; die Schuhe schlingen sich um einen Ast und bleiben dort hängen. Die beistehenden Demonstranten klatschen, rufen: gut gemacht!
Sie wenden sich gegen Korruption, die sie in ihrem Staat ausmachen, auch und vor allem in der Regierung unter Premier Dmitri Medwedew.
"In Nawalnys letztem Film ging es darum, das Dmitri Medwedew Sportschuhe im Internet gekauft hat. Und das ist jetzt das Symbol der Anti-Korruptionsbewegung: Turnschuhe auf Stromleitungen oder Ästen von Bäumen", erzählt der Demonstrant; ein Mann in den Dreißigern mit Regenjacke, die er trägt, obwohl die Sonne scheint. Es ist der bisher wärmste Tag des Jahres in Moskau. Der Film, den er erwähnt, ist 50 Minuten lang und steht seit Anfang März im Internet. Alexej Nawalny, der Anwalt und schillernde Oppositionelle, hat mit seinem Team recherchiert, welche Reichtümer Medwedew angeblich angesammelt hat: Paläste, Residenzen, teure Boote, Weingüter. Der Film ist mehr als elf Millionen Mal angeklickt worden – eine Reaktion vonseiten des Premiers hat es bislang nicht gegeben.
"Es reicht mit dem Diebstahl", klagt der Demonstrant. "Mehr geht nicht, das hat einen enormen Umfang erreicht. Dieser Protest unterscheidet sich von vorherigen darin, dass viele junge Leute gekommen sind, Studenten und Schüler. Ich wundere mich! Aber wie es weiter geht, weiß ich nicht."
Seine Einschätzung stimmt: Es sind vor allem junge Menschen, die sich eingefunden haben. Erfahrene Demonstranten begründen das so: Viele ältere Menschen sind heute nicht zur Demonstration auf dem und um den Puschkinplatz herum gekommen, weil die Behörden die Aktion nicht genehmigt haben. Sie hätten Angst vor Zusammenstößen mit der Polizei.
"Die Menschen sind sehr zögerlich und werden nur sehr langsam aktiv. Man braucht hier radikales Handeln, denn die Menschen haben Angst etwas zu unternehmen."
Das kann er noch sagen. Keine halbe Minute später kommen Einsatzkräfte von hinten und zerren den Mann von der Mauer, auf der er stand. Er wird festgenommen. Das ist offenkundig Taktik der Polizei: Immer wieder werden Menschen festgenommen – dazu müssen sie nicht Schuhe einen Baum hinaufgeworfen haben. Um in einen der vielen bereitstehenden, vergitterten Polizeibusse geführt, geschleppt oder getragen zu werden, reicht es, ein Plakat in die Höhe zu halten, auf dem etwa steht, die Regierung solle zurücktreten. Oftmals ist der Grund der Festnahme nicht ersichtlich.
Nawalny darf nicht vor den Demonstranten auftreten
Die übrigen Demonstranten reagieren häufig mit Rufen wie "Schande". Es bleibt nicht immer gewaltfrei; gelegentlich prügeln Polizisten mit ihren Gummiknüppeln, Demonstranten treten zurück, auch wird Reizgas versprüht. Der Organisator der Proteste, Alexej Nawalny bekommt keinen Auftritt vor den tausenden Demonstranten: Er wird vorher festgenommen. Den Organisatoren wird Extremismus mit der Begründung vorgeworfen, sie hätten die Veranstaltung im Internet übertragen.
Neben Moskau sind in Dutzenden anderen Städten Russlands Demonstrationen gegen Korruption abgelaufen. In etlichen Städten waren sie nicht genehmigt worden, es gab dort Festnahmen. In anderen waren sie erlaubt oder sind gerichtlich durchgesetzt worden. Nawalny will in einem Jahr Präsident werden; ob er antreten kann, ist zurzeit unklar. Ein Gericht hatte den Politiker wegen Unterschlagung verurteilt; nach dem Gesetz kann er so nicht antreten. Die Berufung ist noch nicht abgeschlossen.