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Nebulöse Fantasien und Erzählsplitter

Als russische Lyrikerin hat sich Olga Martynova einen Namen gemacht, mehrere ihrer Gedichtbände sind ins Deutsche übersetzt worden. Seit 2010 schreibt sie auch Romane – auf Deutsch. Mit ihrem Zweitwerk "Mörikes Schlüsselbein" gelingt ihr ein großer Streich.

Von Beatrix Langner |
    Man kann sich nicht besser in Martynovas Erzählen einhören als mit einem Zitat aus ihrem ersten Roman "Sogar Papageien überleben uns", für den sie mit dem Chamisso-Förderpreis 2011 ausgezeichnet wurde.

    "In einem Roman wird das Leben beschrieben, da läuft angeblich die Zeit, aber sie hat nichts Gemeinsames mit der wirklichen Zeit, da gibt es keine Ablösung des Tages durch die Nacht, da entsinnt man sich spielerisch beinah des ganzen Lebens, während du dich in der Wirklichkeit kaum an den gestrigen Tag erinnern kannst. Und überhaupt: Jede Beschreibung ist falsch. Der Satz: 'Ein Mensch sitzt, über seinem Kopf ist ein Schiff' ist doch vielleicht richtiger als 'Ein Mensch sitzt und liest ein Buch'. Der einzige seinem Prinzip nach richtige Roman ist der von mir. Aber er ist schlecht geschrieben."

    Es ist der Dichter Fjodor, der das ganz am Ende dieses Romans sagt, nachdem er beschlossen hat, nur noch Prosa zu schreiben, nie mehr Gedichte. Und es ist Olga Martynova, die diese Behauptung mit ihrem ersten Roman brillant widerlegte – und in ihrem zweiten mit Aberwitz und Mut zum Scheitern ebenso brillant bestätigt. Mörikes Schlüsselbein ist ein schlechter Roman, aber bemerkenswert gut geschrieben; ein Schelmenstück, ein Anti-Roman in Romanform, ein Haufen beschriebener Blätter, der sich nach dem Entropiegesetz eines aus dem Takt geratenen Microsoft-Textprogramms von selbst zu paradoxen Erzählmustern sortiert, während ein Autor oder Erzähler weit und breit nicht zu ermitteln ist. Für eines der Kapitel wurde Martynova im vorigen Jahr mit dem Ingeborg-Bachmann-Literaturpreis geehrt. Wieder geht es, wie im ersten Roman, um eine Gruppe Leningrader Freunde um Marina, eine russische Literaturwissenschaftlerin, und Marinas Liebe zu dem Deutschen Andreas. Der hat zwar eine andere geheiratet und mit ihr zwei halb erwachsene Kinder - Moritz und Franziska -, aber die alte Liebe ist noch frisch und so hat man sich eine Art patchwork oder Polyamamarie-Konstrukt gebastelt, in dem die alten Zeiten in einer Leningrader Künstler- und Hippiekommune während der Perestrojka weiterleben.

    Der Dichter Fjodor spielt diesmal die tragische Hauptrolle in einer Komödie der Liebes- und anderer Verirrungen: Er stirbt. Die Hauptfiguren: Marina und Andreas und sein sechzehnjähriger Sohn Moritz , Fjodor Stern und seine Frau Natascha, John Perlman, ein amerikanischer Slavist und Pawel, ein alter Bücherwurm und Gelehrter. Die Schauplätze: New York, Tübingen, Petersburg, wie Leningrad jetzt wieder heißt. Dazu ein Schneemensch, ein buddhistischer Mönch, ein Schamane, Männer in Agentenkluft – der ganze Wahnsinn einer Erzähl-Welt, der jeder kausallogische Zusammenhang und damit jede realweltliche Signifikanz verloren gegangen ist. Alles schaukelt, zerfließt, zerspringt in nebulöse Phantasmen und Erzählsplitter.

    Die Schrift, um an Derrida zu erinnern, erobert und vertilgt zugleich ihr Signifikat, die Wirklichkeit, und fordert zum "raumlosen Denken" auf. Derridas dekonstruktives Textmodell vertraut das Schicksal der Vernunft wie ihr eigenes dem Geschriebenen an, das insofern einen Gegendiskurs zur realistischen Beschreibungsprosa eröffnet. Genau so macht es Martynova, wenn ihre Kapitelüberschriften sich stereotyp über zig Seiten wiederholen, nur variiert durch Schattierungen von Grau und Schwarz, wenn ihre Figuren entgegen jeder Logik mal hier mal dort auftauchen. Foucaults Diagnose der "Ortlosigkeit der Sprache" in der postmodernen Literatur wird hier am lebenden Romankörper bestätigt. Auf Schritt und Tritt stolpert man über strukturalistische Metaphern.

    "Moritz zerlegte das Bild in Einzelteile, um es besser festhalten zu können: Ein unsichtbares Mädchen, das über die Straßen des Städtchens lief, in dem Tante Anita lebte. Tante Anita ging die Treppe herunter, öffnete die Tür in den Garten, um die warme und stickige Blütenluft ins kühle Haus zu lassen, und legte ein Blatt Papier vor Moritz auf den Küchentisch: "Sag mal, was besser ist: 'Sie’ oder 'Du’? Wir führen ein neues Produkt ein (coproduction mit unserem amerikanischen Partner). Ich muss die Übersetzung für den Flyer freigeben." Moritz las den Text und sagte: "Mach 'Du’. Das ist vertraulicher". Anita las vor, bei jedem "Du” oder "Sie” zeichnete sie sich ein Luftkomma hinter das Ohr, um eine akazienhonigfarbene Haarsträhne zu richten."

    Olga Martynova ist nicht nur eine kluge Dichterin, die sich auskennt in den sprachtheoretischen Diskursen der philosophischen Avantgarde. Sie ist vor allem, das beweist auch ihr zweiter Roman, eine raffinierte Erzählerin, die in ihrer zweiten Sprache cool und komisch, alltagstauglich, selbstironisch und mit respektlosem Witz den deutschen Roman aus seinem Dornröschenschlaf aufschreckt. Aber wie war das noch mal mit Mörikes Schlüsselbein? Irgendwas mit Hölderlin und dem romantischsten aller deutschen Flüsse, dem Neckar – ein Paradox wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht erklären. Sie müssen es schon selbst herausfinden.


    Olga Martynova, Mörikes Schlüsselbein
    Roman, Literaturverlag Droschl Wien 2013, 320 S.