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Neue Erkenntnisse um Lockerbie-Attentat

20 Jahre nach dem Attentat von Lockerbie hat der damalige UNO-Beobachter im Lockerbie-Prozess, Hans Köchler, auf erhebliche Ungereimtheiten in dem Prozess gegen den Tatverdächtigen hingewiesen. Es sei wahrscheinlich, dass der libysche Geheimdienstoffizier, der für das Bombenattentat im Gefängnis sitze, "nicht schuldig ist im Sinne der Anklage". Die oberste Justizrevisionskommission Schottlands vermute eine Justizirrtum und habe mittlerweile eine Neuaufnahme des Verfahrens angeordnet.

Hans Köchler im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Mario Dobovisek: 20 Jahre ist es nun her, dass im schottischen Lockerbie 270 Menschen starben beim Absturz eines Jumbojets der US-Fluggesellschaft PanAm. Nach New York sollte es gehen, Weihnachtsstimmung herrschte an Bord. Doch gut eine halbe Stunde nach dem Start in London explodierte im Rumpf der Maschine eine Bombe. In unzähligen Einzelteilen stürzt die Boing 747 in die Tiefe, die Trümmer verteilen sich in einem Radius von 200 km. Entsprechend schwierig sind die Ermittlungen, die führen nach Deutschland in die DDR, nach Malta, in den Iran und schließlich nach Libyen. Erst zwölf Jahre nach dem Anschlag wird der libysche Geheimdienstoffizier Ali al-Megrahi zu lebenslanger Haft verurteilt. Libyens Staatschef Gaddafi zahlt den Hinterbliebenen eine Entschädigung in Milliardenhöhe. Den Prozess im Auftrag der Vereinten Nationen beobachtet hat damals der österreichische Philosophieprofessor Hans Köchler. Guten Morgen, Herr Köchler!

    Hans Köchler: Guten Morgen!

    Dobovisek: Warum kam es erst so spät zu einem Prozess?

    Köchler: Weil die Ermittlungen in sehr komplexer Weise geführt werden mussten, erstens. Und zweitens, weil man die Strategie im Zuge der Ermittlungen geändert hatte. Man hatte zunächst untersucht in Richtung palästinensischer Organisationen, auch solcher Organisationen, die auf deutschem Boden tätig waren und hatte dann plötzlich die Taktik geändert und in Richtung Libyens ermittelt.

    Dobovisek: Direkt nach dem Lockerbie-Prozess legten Sie, Herr Köchler, den Vereinten Nationen Ihre Beobachterberichte vor, und zwar mit der Vermutung, es habe einen Justizirrtum gegeben. Was veranlasste Sie damals zu dieser Vermutung?

    Köchler: Zunächst einmal veranlasste mich dazu die widersprüchliche Argumentation in der Urteilsbegründung. Das erste Urteil wurde im Januar 2001 verlautbart und das beruhte auf einer Anklage gegen zwei libysche Geheimdienstagenten. Die Logik der Anklage basierte darauf, dass man zu erklären suchte, wie diese beiden Libyer, die eine Bombe in einen Koffer in Malta platziert hatten und diesen Koffer in ein Flugzeug nach Frankfurt verfrachtet hatten. Im Zuge des Prozesses wurde dann aber festgehalten, dass einer der beiden Libyer nichts mit der Angelegenheit zu tun habe. Dieser wurde auch freigesprochen. Insofern war das Ganze nicht logisch, man konnte auch niemanden davon überzeugen, dass lediglich einer der beiden Libyer schuldig sein soll, wenn alles davon abhing zu zeigen, wie diese beiden zusammengearbeitet hatten, um eine Bombe in ein Flugzeug zu verfrachten.

    Dobovisek: Wie reagierten die britischen und amerikanischen Behörden damals auf Ihre Vorwürfe?

    Köchler: Man hat gesagt, dass das alles ein Missverständnis des schottischen Justizsystems sei und hat versucht, das abzutun. Ich fühle mich allerdings inzwischen voll bestätigt durch die Überprüfung des Urteils, die die oberste Justizrevisionskommission Schottlands vorgenommen hat. Diese hat nämlich in einem abschließenden Bericht letztes Jahr ebenfalls festgestellt oder mitgeteilt, dass sie einen Justizirrtum vermute und hat angeordnet eine Neuaufnahme des Verfahrens, das heißt eine Wiederholung des Berufungsverfahrens.

    Dobovisek: Ist das ein erstes Eingeständnis der Justiz?

    Köchler: Eingeständnis, wie immer man das nennen will. Es ist eine offizielle Feststellung, dass im Prozess Fehler gemacht worden waren und dass man den Verdacht habe, dass die Person, die im Gefängnis sitzt, nicht schuldig ist im Sinne der Anklage.

    Dobovisek: Wie geht es jetzt weiter? Müssen wir die Geschichte um das Lockerbie-Attentat vielleicht neu schreiben?

    Köchler: Das könnte sehr wohl sein und das müsste so sein. Sollte jetzt tatsächlich die Justiz ohne irgendeine Einflussnahme von außen, nämlich ohne Einflussnahme seitens der britischen Exekutive und ohne Einflussnahme seitens des Auslandes, ihren Lauf nehmen können. Denn dann könnte es sehr wohl sein, dass sich herausstellt, dass niemals eine Bombe in einem Flugzeug war, das von Malta nach Frankfurt geflogen ist und dass es nicht so sein hat können, dass ein Bombenkoffer dann umgeladen worden ist auf ein weiteres Zubringerflugzeug nach London. Und wenn das herauskommen sollte, dass diese ganze Theorie nicht stichhaltig ist, dann müsste man sich auf die Suche machen nach den wirklichen Tätern. Es ist von Anfang an nie klar gewesen oder immer seltsam gewesen, dass eine einzige Person da verurteilt worden ist, die das allein ja niemals hätte ins Werk setzen können.

    Dobovisek: Warum hat der libysche Staatschef Gaddafi dann damals indirekt die Schuld eingestanden und hat Milliarden Summen gezahlt an die Opfer?

    Köchler: Ja, das ist wirklich eines der großen Rätsel dieses ganzen Verfahrens. Es ist übrigens so, er hat explizit gesagt, dass Libyen nicht schuldig sei. Er hat nur festgehalten, dass man im Sinne der Verantwortung des Staates für die Taten seiner Beamten zahle, weil dies eben vom UNO-Sicherheitsrat vorgeschrieben sei. Aber man hat jede Schuld, was den Staat betrifft, weit von sich gewiesen.

    Dobovisek: War das möglicherweise nur eine Strategie Gaddafis, um die UN-Resolution, um das UN-Embargo zu verhindern?

    Köchler: Das ist, was seit diesem Zeitpunkt laufend gesagt wird, sowohl von ihm als auch von seinem Sohn und von allen offiziellen Stellen Libyens. Natürlich bleibt weiterhin die Frage, wie ein souveräner Staat sich dazu zwingen lassen kann, eine derartige Summe zu bezahlen, die eben in der Öffentlichkeit natürlich als Schuldeingeständnis interpretiert worden ist.

    Dobovisek: Unterdessen, 20 Jahre nach dem Attentat, tauchen neue Zeugenaussagen auf. Ein schottischer Polizist soll zum Beispiel zu Protokoll gegeben haben, dass Beweise und Indizien von den Ermitteln selbst gefälscht worden seien. Das klingt alles nach einer Verschwörungstheorie, was ist da dran?

    Köchler: Ich glaube, dass da eine Art Cover-up, wie man auf Englisch sagt, dahinter stecken könnte. Das heißt, das Bemühen der schottischen und der britischen Behörden zu verhindern, dass gewisse Manipulationen und gewisse Arten der Einflussnahme jetzt im Zuge eines neuen Gerichtsverfahrens bekannt werden. Es ist leider so, dass dieser ehemalige schottische Polizeibeamte nicht bereit ist, seine Identität preiszugeben und nicht in einer Gerichtsverhandlung aussagen will. Er müsste, wenn das Ganze tatsächlich vom Gericht verwertet werden soll, diese Informationen, er müsste bei Gericht eine eidesstattliche Erklärung abgeben. Das hat er meines Wissens noch nicht getan. Seine Identität ist aber der obersten Revisionskommission Schottland bekannt. Es ist zu vermuten, dass tatsächlich nach dem Absturz ein Teil eines Zeitzünders in die Beweiskette gewissermaßen eingeschmuggelt worden ist.

    Dobovisek: Da gibt es inzwischen auch Aussagen des Herstellers dieses Zeitzünders, eines Schweizers. Wer hatte denn damals möglicherweise Interesse daran, Libyen verantwortlich zu machen und die Beweise entsprechend zu manipulieren?

    Köchler: Die weltpolitische Konstellation war damals so, Anfang der 90er-Jahre, dass man die Kooperation gewisser Länder im Nahen und Mittleren Osten brauchte, um in der Irak-Kuwait-Krise aus westlicher Sicht effizient agieren zu können. Ein Grund könnte in dieser damaligen außenpolitischen Strategie liegen oder gelegen haben. Und deshalb war man interessiert oder man könnte vermuten, dass man interessiert war, die Spuren nach Libyen nicht weiter zu verfolgen.

    Dobovisek: Das heißt, Sie sagen, es lag klar im Interesse der USA und Großbritanniens, Libyen als Schurkenstaat, als Terrorstaat zu sehen?

    Köchler: In dieser damaligen Konstellation. Jetzt ist alles anders seit dem Jahre 2001. Jetzt gibt es eine enge Partnerschaft und Zusammenarbeit in allen diesen Sicherheitsbereichen. Und jetzt könnte deshalb die weltpolitische Lage so sein, dass möglicherweise Enthüllungen in dieser Angelegenheit und Beweise, die in eine andere Richtung führen, nicht mehr als so schädlich angesehen werden. Die Frage ist aber immer noch, ob man letztlich dem schottischen Gericht die Möglichkeit gibt, das alles umfassend zu untersuchen. Denn es geht ja auch um Gesichtswahrung seitens sehr mächtiger Regierungen und Geheimdienste. Und wir dürfen nicht übersehen oder wir dürfen nicht vergessen, dass heuer das britische Außenministerium eine Anweisung erteilt hat, wonach gewisse Dokumente der Verteidigung nicht gezeigt werden dürfen, das heißt bei Gericht nicht vorgelegt werden dürfen, gewisse Beweisdokumente. Das würde darauf hindeuten, dass man letztlich doch nicht bereit ist, das Gerichtsverfahren seinen ordentlichen Lauf nehmen zu lassen.

    Dobovisek: Hans Köchler, Philosophieprofessor in Innsbruck und damals UN-Beobachter des Lockerbie-Prozesses. Vielen Dank für das Gespräch! Am 21. Dezember 1988 starben beim Bombenanschlag auf einen PanAm-Jumbo 270 Menschen und viele Fragen bleiben offen.