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Neue Musik von Sarah Nemtsov
Geschichtete Klänge

Sarah Nemtsovs Komponieren bewegt sich im Grenzbereich von Konzert und Musiktheater mit Elektronik. Charakteristisch sind verstörend intensive klangliche Abbilder der sie umgebenden Realität. Unterschiedlichste musikalische Ereignisse klingen bei Nemtsov deshalb oft simultan.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre |
    Die Komponistin Sarah Nemtsov
    Die Berliner Komponistin Sarah Nemtsov (Deutschlandradio/ Constanze Pilaski)
    Schichtungen als mehrdimensionale musikalische Gebilde bzw. lebendige Organismen interessieren Sarah Nemtsov als kompositorische Reaktion und zugleich als Annäherung an die Wirklichkeit. Verstärkung, Verfremdung und elektronische Anreicherung sind dabei wesentliche Bestandteile ihrer musikalischen Ausdrucks- und Klangwelt: "Vor allem sind es eigenständige Klangverläufe, die als kompromisslose Überlagerungen die Strukturen bestimmen", so die Anmerkung in dem reichhaltig begleitenden Booklet aus der Feder von Dirk Wischollek.
    Das Zentrum der CD bildet der Zyklus "Zimmer I-III" für verstärkte und präparierte Harfe solo und Kaoss Pad, verstärkte Bassflöte und Bassklarinette mit Laptops sowie verstärktes Streichquartett. Für Sarah Nemtsov markiert diese auf 2013 datierte Serie einen Wendepunkt in ihrer kompositorischen Entwicklung. Über elektronische Verstärkungen fokussiert sie hier mehrdimensionale Schichten musikalischer Gestaltung, die gesellschaftliche Verhältnisse sowie zwischenmenschliche Zustände abbilden sollen. Die drei Stücke können einzeln oder in unterschiedlichen Kombinationen gespielt werden, wobei Verschiebungen mit einkalkuliert sind. Nemtsov selbst notiert dazu: "Eine vertikale und horizontale Flexibilität, aber keineswegs Ungenauigkeit! Im Gegenteil - ich musste noch genauer wissen, was ich harmonisch, klanglich, atmosphärisch, energetisch, rhythmisch wollte. Mir war wichtig, dass jede Schicht auch für sich allein funktioniert - quasi wie im barocken Kontrapunkt."
    Akustische Kollisionen
    Hörbar werden auf der CD Momente der Interaktion sowie gegenseitiger Störung. In klanglichen Aktionen treffen hier Individuum und Kollektiv sowie Freiheit und Abhängigkeit aufeinander. Kompositorisch gestaltet Nemtsov diese Konfrontationen über einen permanenten Wechsel der Proportionsverhältnisse. Immer wieder neu entstehende Verknüpfungsmomente, die sich aus Verschiebungen der Schichten ergeben, verändern zugleich die Wahrnehmung
    Bestimmend für alle Varianten des Zyklus ist der Teil "Zimmer I" für verstimmte Harfe und Kaoss Pad, ein analoges Effektgerät und Sampler, die auf den Verlauf des Instrumentalklangs in unterschiedlichen Rhythmen reagieren.
    Musik: Sarah Nemtsov - "Zimmer I-III"
    Zu hören war ein Ausschnitt aus dem Zyklus "Zimmer I-III" mit dem deutsch-isländischen Ensemble Adapter aus Berlin, das spezialisiert ist auf akustische Entwicklungen der gegenwärtigen Kulturszene und erprobt mit Uraufführungen und Projekten grenzüberschreitender Arbeitsweisen. Ferner spielte das Sonar Quartett.
    Sarah Nemtsov, Jahrgang 1980, spielte zunächst Oboe, ehe sie ab 1998 als Jungstudentin in Hannover bei Nigel Osborne eine Kompositionsstudium begann. Später wurden Johannes Schöllhorn und Walter Zimmermann ihre Lehrer. Inzwischen lebt und arbeitet sie in Berlin, wobei ihre Werke auf internationalen Festivals für zeitgenössische Musik aufgeführt werden.
    Im zeitlichen Umfeld des "Zimmer"-Zyklus’ hat Sarah Nemtsov weitere Stücke mit solistischen Instrumentalmonologen und Elektronik komponiert, die sie quasi als "Extensions" der "Zimmer"-Serie begreift.
    Wechselnde Wahrnehmungsfelder
    Dazu zählt unter anderem "White eyes erased" für Keyboard und Drumset aus den Jahren 2014/15, das diese CD-Aufnahme eröffnet. Nemtsov nimmt hier Bezug auf eine Ensemblekomposition, die die Instrumentalstimmen des Originals extrahiert und mit vollen und dichten Klängen besetzt.
    Unregelmäßige rhythmische Figuren dominieren das Keyboard mit weiten Sprüngen und Tonwiederholungen, während weitgehend kreisende Bewegungen auf der Resonanzfläche die Klangaktionen des Schlagzeugs bestimmen. Dem Hörer bleiben spannungsgeladene Klänge in wechselnden Konstellationen, die aus der Dichte an Miteinander und Nebeneinander resultieren.
    Hier ein Hineinhören in "White Eyes Erased" mit Solisten des Ensembles Mosaik, das sich seit seiner Gründung 1979 mit kreativer Experimentierfreudigkeit verschiedensten Konzeptionen zeitgenössischer Musik profiliert.
    Musik: Sarah Nemtsov - "White Eyes Erased"
    Autarke akustische Realität
    Das Spannungsfeld zwischen Vereinzelung und kollektiver Wahrnehmung versucht Sarah Nemtsov in "Amplified Imagination" für Flöte und Elektronik mit live Video ad libitum auszutesten, wozu sie eine Laborsituation musikalischer Produktion schafft.
    Der Solist wird hier über Kopfhörer mit einer vollkommen eigenen musikalischen Realität konfrontiert und hört dabei nicht, was er selbst spielt. Seine Ohren empfangen lediglich eine Collage aus Cembalowerken von Johann Sebastian Bach. Zur Solostimme kommt eine Verknüpfung mit Live-elektronischen Mischungen aus zuvor aufgenommenen Flöten-und urbanen Geräuschklängen hinzu, die den Flötenpart mit rauschhaft aggressiver Klanggestik konfrontieren.
    Die Herausforderung für den Solisten liegt darin, während der isolierten Bach-Beschallung eine eigene Stimme zu imaginieren und dabei zerbrechliche, teilweise mikrotonale Klänge im äußersten pianissimo-Bereich produzieren muss. Hinzu kommt, dass kein Blickkontakt zum anderen Musiker oder Publikum aufgenommen werden darf, was im Falle des Live-Erlebnisses theatralen Charakter birgt.
    Es folgt ein Ausschnitt aus "Amplified Imagination" mit der Flötistin des Ensemble Adapter, Kristjana Helgadóttir, und Sarah Nemtsov, Elektronik.
    Musik: Sarah Nemtsov - "Amplified Imagination"
    Verunsicherung beim Hören
    Die Klangästhetik von Sarah Nemtsov zielt bewusst nicht auf perfektionistische Klänge. Zur "gezielten Entprofessionalisierung" klanglicher Oberflächen setzt die Komponistin facettenreich Mittel der Manipulation wie Mikrofonierung und Verstärkung ein. So kann kaum Hörbares wie unter einem Mikroskop ganz nah herangezoomt werden und auf der anderen Seite will Nemtsov nach eigenen Aussagen mit "Mut zur Hässlichkeit" das Geräuschhafte und Schmutzige der Klangproduktion herausmodellieren.
    Für einen elektronisch verstärkten Klang der Bassklarinette sorgt der Solist in dem Stück "Implicated Imagination" selbst. Über Fußpedale bedient er eine Loopstation, einen Octaver, einen Verzerrer sowie ein kaputtes Pedal. Einzelne Passagen werden zunächst aufgenommen, um kurz danach in den musikalischen Verlauf integriert zu werden. Mit kleinen beharrlichen Repetitionsmustern kreiert dieser somit ein ganz spezifisches, teilweise skurril anmutendes Klangereignis, bei dem zugleich das Auftreten von Geräuschen das Geschehen prägt.
    Musik: Sarah Nemtsov - "Implicated Amplification"
    Klangintensität durch Brechungen
    Abschließend fällt der Blick auf eine unkonventionelle Zusammenstellung aus Metallobjekten und Alltagsgegenständen, die ein konventionelles Schlagzeugset ersetzen. In "Drummed Variation für kein Drumset und Kaoss Pad". Hier werden Hi-Hat, Tamtam, Snare und Bassdrum simuliert, wobei durch den Ersatz von Alltagsgegenständen eine möglichst "elementare und undomestizierte Intensität" von Klang geschaffen werden soll.
    Als Kommentar, Echo oder Störung, so Nemtsov, soll die verschrotte Klanggestik des Schlagwerks von elektronischen Klängen flankiert werden. Unregelmäßig zerrissene Patterns, stolpernde oder kurzzeitig vorwärtstreibende Beats erinnern teilweise an Technomusik. Formal bestimmen streng organisierte Abschnitte und in permanenter Spannung zu gestaltende Passagen zwischen "frei-wild-chaotisch". Zu hören sind der Schlagzeuger des Ensemble Adapter, Matthias Engler, sowie Gunnhildur Einarsdóttir am Kaoss Pad.
    Musik: Sarah Nemtsov - "Drummed Variation"
    Weitere Informationen zur Komponistin und ihrem Werk finden Sie auch auf ihrer Homepage www.sarah-nemtsov.de, weitere Angaben zur CD können Sie unter www.wergo.de abfragen.
    Sarah Nemtsov - "Amplified Imagination"
    Ensemble adapter, Ensemble mosaik, Sonar quartett
    WERGO CD 73662, LC 00846
    EAN: 4010228736625