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Neue Schulministerin in NRW
Yvonne Gebauer: Kooperationsverbot muss aufgehoben werden

Lehrermangel, Inklusion, Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren - auf die neue NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) warten große Herausforderungen. Damit sich der Bund an den Bildungskosten beteiligen kann, forderte sie im Deutschlandfunk ein Ende des Kooperationsverbots in der Schulpolitik.

Yvonne Gebauer im Gespräch mit Markus Dichmann |
    Die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) spricht am 12.07.2017 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) im Landtag.
    Statt mit Maßnahmen immer nur dem Lehrermangel hinterherzulaufen, müsse man aktiv an der langfristigen Besetzung der Stellen arbeiten, sagte die neue nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer im Dlf. (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
    Markus Dichmann: Mittwoch geht es wieder los und es gibt immens viel zu tun. Schulstart in Nordrhein-Westfalen, während die Bildungsrepublik sich mit vielen, vielen Problemen herumplagt: Es fehlen Lehrer, der Unterricht fällt aus, die Inklusion droht zu scheitern, die Digitalisierung kommt nicht voran und G8 und G9 bleiben ein Zankapfel. Begrüßen wir an der Stelle die seit den Wahlen im Mai amtierende Schulministerin des Landes Nordrhein-Westfalen Yvonne Gebauer von der FDP! Grüße Sie, Frau Gebauer!
    Yvonne Gebauer: Schönen guten Tag, Herr Dichmann!
    Dichmann: Versuchen wir in diesem Gespräch mal, drei wichtige Punkte durchzugehen, die zum Schulstart erheblich sind! Beginnen wir mal mit der Unterrichtsversorgung, das sieht katastrophal aus dieses Jahr, zumindest in allen Bundesländern, die schon wieder ins Rennen gegangen sind nach den Ferien. Und betrachtet man Hochrechnungen wie zum Beispiel die des Bildungsforschers Klaus Klemm, dann wird es nur noch schlimmer in den nächsten Jahren:
    Klaus Klemm: Wir haben von 2016 bis 2013 100.000 Geburten mehr, 100.000 Geburten zusätzlich, mit denen zu Recht keiner gerechnet hatte. Wenn man die 100.000 mal in Eingangsklassen für das Jahr 2023 berechnet, brauchen wir dann verglichen zu heute deutschlandweit 5.000 Eingangsklassen in den Grundschulen mehr, und wir haben keine Lehrer dafür.
    Dichmann: Frau Gebauer, angesichts solcher Zahlen: Was haben Sie diesen Sommer unternommen, um das Problem in Nordrhein-Westfalen in den Griff zu kriegen?
    Gebauer: Ja, wir haben nicht nur in Zukunft ein Problem, sondern wir haben aktuell ein Problem. Von den zur Verfügung stehenden Stellen für alle Schulformen konnten bei uns hier in Nordrhein-Westfalen bisher nur knapp 53 Prozent besetzt werden. Das ist der Stichtag, also heute, der 25.08. Das sind natürlich erschreckende Zahlen, besonders an den Grundschulen und an den Berufskollegs und Förderschulen ist die Situation bei uns besorgniserregend. Also, in der Summe konnten 2.139 Stellen in diesem Jahr nicht besetzt werden. Das können Sie nur mithilfe von Ad-hoc-Maßnahmen, aber natürlich auch - also, sowohl mit kurzfristigen als auch mit langfristigen Maßnahmen versuchen, den Mangel zu beheben.
    Dichmann: Es kursiert da ein Vorschlag von Ihnen im Raum, Quereinsteiger aus der Privatwirtschaft für den Schulunterricht zu gewinnen. Wie weit sind diese Pläne vorangeschritten?
    Gebauer: Das ist, glaube ich, auch ein bisschen falsch transportiert worden. Es ging dort um das Fach Wirtschaft, da ging es nicht um die Lehrerversorgung, sondern da ging es explizit um das Fach Wirtschaft oder auch die Fächer MINT jetzt, aber nicht um die generelle Lehrerversorgung. Bei der generellen Lehrerversorgung haben wir schon den Bereich Seiteneinstieg, den wir jetzt in diesem Jahr weiter öffnen für das Fach Englisch, bisher war es bei uns Kunst, Musik und Sport. Und wir wollen neu an den Start gehen mit einer Maßnahme, bei der ausgebildete Lehrkräfte mit einer Ausbildung für die Sekundarstufe I auch befristet für zwei Jahre an Grundschulen eingestellt werden können, weil wir gerade jetzt hier in Nordrhein-Westfalen hoffen und anhand der Daten es sich eben dahingehend abzeichnet, dass dann nach zwei Jahren die bedrohliche Situation an den Grundschulen ein Stück weit behoben sein wird. Deswegen diese Befristung. Wir machen das Gleiche aber auch noch mal für die Lehrkräfte der Sekundarstufe II, die an die Grundschulen kommen sollen, und diese Lehrkräfte erhalten dann bei Einstellung eine Garantie, dass sie nach einer Frist von zwei Jahren dann tatsächlich auch zurückkommen oder überhaupt kommen können dann an ein Gymnasium oder eine Gesamtschule, weil wir auch die Kuriosität haben, dass wir an der einen Seite im Primarbereich Lehrermangel haben, aber bei den Sek-II-Anwärtern wir mehrere Tausend Lehrkräfte über Bedarf erwarten.
    Dichmann: In zwei Jahren haben wir 2019, und für 2019/2020 haben Sie angekündigt, in NRW auch wieder zu G9 zurückzukehren. Da klagt jetzt zum Beispiel der Lehrerverband VBE, dass auch dafür mindestens noch einmal 2.000 neue Lehrer eingestellt werden müssten. Ist das eigentlich alles möglich, mit Schuldenbremse in den Ländern und der Jagd nach der schwarzen Null?
    Gebauer: Dass das nicht einfach wird, das wissen wir. Ich habe natürlich jetzt auch nach sieben Wochen Amtszeit, die ich hier im Ministerium bin, noch nicht fertige Konzepte bis ins Detail hier vorliegen. In Bezug auf die Lehrerzahlen lasse ich derzeit momentan errechnen, das ist jetzt eine Hochrechnung von Herrn Beckmann, die ich jetzt erst mal verifizieren lassen möchte, deswegen ...
    Dichmann: Herr Beckmann von der VBE.
    Gebauer: Vom VBE, ganz genau. Das lasse ich jetzt erst mal hier im Hause verifizieren. Es ist aber nicht so, dass wir gleich zum Start 2019/2020 zusätzliches Lehrerpersonal brauchen. Aber die Frage, wann wir es denn genau brauchen, die müssen wir uns stellen. Und deswegen haben wir ja nun auch gesagt, weil wir generell einen Lehrermangel ja nun auch haben, werden wir zu Beginn im Jahr 2018 eine Lehrerwerbekampagne hier in Nordrhein-Westfalen starten, natürlich auch differenziert für die Fächer oder Fächerkombinationen, in denen wir die Lehrerinnen und Lehrer benötigen, damit wir generell ein Stück weit auch von diesem Lehrermangel, dem wir ja immer nur hinterherlaufen und mit Maßnahmen versuchen, irgendwie zu beheben, damit wir davon mal wegkommen.
    Gebauer: Digitalisierung ist eine große Herausforderung
    Dichmann: Nur mit Lehrerstellen hört der Spaß aber natürlich auch noch nicht auf, Frau Gebauer. Mehr Schüler und mehr Lehrer bedeuten dann auch den Druck, mehr Infrastruktur, mehr Klassenräume, Schulhöfe und Sporthallen zur Verfügung zu stellen. Und über unser nächstes Thema, Digitalisierung, haben wir da noch gar nicht gesprochen.
    Gebauer: Ja, das ist auch eine große Herausforderung, vor der wir sicherlich nicht nur in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Nordrhein-Westfalen stehen. Da hoffe ich natürlich sehr - und in diesem Zusammenhang gibt es auch ein Gespräch mit Frau Wanka –, dass diese angekündigten fünf Milliarden dann auch fließen werden. Das ist natürlich Aufgabe der neuen Bundesregierung, diese Gelder dann auch entsprechend bereitzustellen. Ohne das Geld, ohne die fünf Milliarden wird es sehr, sehr schwer, gleichwohl wir hier auch seitens des Landes Gelder ins System gegeben haben, was zum Beispiel den Breitbandausbau betrifft.
    Dichmann: Die fünf Milliarden Euro, die Sie angesprochen haben, sollen aus dem sogenannten Digitalpakt kommen, für den digitalen Ausbau der Schulen bis 2020, bezahlt vom Bundesbildungsministerium, bezahlt vom Bund. Johanna Wanka sagt, das Geld kommt noch. Sie haben es schon angesprochen, Frau Gebauer, das müsste aber erst von einer neuen Regierung ausgehandelt werden und in einem neuen Koalitionsvertrag stehen. Kritiker sagen, der Bund will das Geld schlichtweg doch nicht rausrücken und spielt auf Zeit. Was sagen Sie?
    Gebauer: Na, ich hoffe, dass dem nicht so ist. Und ich kann Ihnen sagen, ich werde ja nun das erste Mal im Oktober an der KMK-Sitzung teilnehmen, ...
    Dichmann: Bei der Kultusministerkonferenz.
    Gebauer: Kultusministerkonferenz, ganz genau, und ich habe dort auch schon mit dem Generalsekretär gesprochen, das steht natürlich auch bei allen anderen Schulministerinnen und -ministern ganz oben auf der Agenda, das haben wir dann auch entsprechend bei der Sitzung als prioritäres Thema. Und weil es nicht nur, wie gesagt, Nordrhein-Westfalen betrifft, sondern alle Bundesländer, da hoffen wir doch, dass die Ankündigungen, die zu Beginn dieses Jahres vollmündig getätigt worden sind, dann auch nachher ihre Umsetzung finden.
    Gebauer: Kooperationsverbot muss aufgehoben werden
    Dichmann: Setzen Sie sich in der KMK auch für die Abschaffung des Kooperationsverbotes ein?
    Gebauer: Na ja, gut, ich bin - das weiß ja nun - ich weiß nicht, jeder, aber doch viele wissen, dass ich als Schulministerin beziehungsweise ich auch als FDP-Mitglied mich ja immer dafür eingesetzt habe, dass ich gesagt habe, es muss Möglichkeiten geben, dass der Bund sich entsprechend an den Kosten, an den gesamtgesellschaftlichen Kosten der Bildung beteiligen kann. Und in diesem Falle stört und hemmt das Kooperationsverbot und da habe ich mich immer eingesetzt, dass wir uns dringend auf den Weg machen müssen, dass es andere Möglichkeiten gibt, die am Ende des Tages sicherlich dazu führen müssen, dass wir das Kooperationsverbot aufheben.
    Förderschulen sollen aufrechterhalten bleiben
    Dichmann: Drittes Thema, Frau Gebauer, ist die Inklusion. Sie haben gesagt, hier hätte die Vorgängerregierung die größten Fehler gemacht, und Sie wollen Förderschulen, an denen Kinder mit Behinderung noch vor der Inklusion unterrichtet wurden, wieder reaktivieren. Allerdings, alle Förderschulen, die wir kontaktiert haben, spüren davon nichts, sondern haben resigniert – so hieß es im O-Ton – und sich mit der Schließung ihrer Schule abgefunden. Wie weit ist also da der Stand der Dinge?
    Gebauer: Ich weiß ja jetzt nicht, mit welchen Förderschulen Sie alles gesprochen haben, aber ich kann Ihnen sagen, dass wir zum Schuljahresende 2016/2017 zumindest von den Förderschulen, die auslaufend gestellt worden sind – das war schwierig, weil die eben schon unter langen Auslaufbeschlüssen lagen und die zum Teil wirklich nur noch mit einer Handvoll Schülerinnen und Schüler geführt wurden und keine mehr aufgenommen haben –, dass wir zumindest von diesen 17 jetzt drei retten konnten. Aber darüber hinaus gibt es ja auch noch etliche weitere Schließungen oder Androhungen, von denen die Förderschulen betroffen sind. Und da gibt es schon sehr gute Resonanzen aus den Kommunen, die nach der Aufhebung des Mindestgrößenerlasses – das war ja meine erste Amtshandlung hier als Ministerin – schon signalisiert haben, dass wir auch weiter laufen werden, also sprich, die Kommunen sich dazu entschieden haben, diese Förderschulen aufrechtzuerhalten.
    "Es geht um das Wohl des Kindes"
    Dichmann: Warum halten Sie das überhaupt für notwendig, so auf die Bremse zu drücken?
    Gebauer: Nein, ich drücke ja nicht auf die Bremse, es geht um das Wohl des Kindes. Und es gibt Kinder mit Handicaps, die sind sehr gut in Regelschulen zu beschulen, aber es gibt auch Kinder, für die die Förderschule nach wie vor der bessere Förderort bleiben wird. Und deswegen müssen wir auch für die Wahlmöglichkeiten der Eltern hier ein flächendeckendes Förderschulangebot aufrechterhalten, immer zum Wohle des Kindes. Und das ist mir ganz wichtig, denn ich will hier in meiner Amtszeit mehr das Augenmerk darauf richten: Was braucht das einzelne Kind, wie kann es und wo kann es entsprechend am besten gefördert werden? Und dazu müssen wir auch weiterhin Förderschulangebote aufrechterhalten.
    Dichmann: An dem Vorhaben, die Förderschulen aufrechtzuerhalten, gibt es aber natürlich wie immer auch Kritik, zum Beispiel von Dorothea Schäfer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, auch hier bei uns in "Campus und Karriere":
    Dorothea Schäfer: Zu befürchten ist, dass die Bedingungen, die auch schon vorher nicht gut waren, jetzt noch schlechter werden, wenn die Sonderpädagogen, die inzwischen an Regelschulen versetzt sind oder dorthin abgeordnet sind, zurückbeordert werden, um die Förderschulen, die eigentlich schon auslaufend gestellt werden, wieder ins Leben zu rufen. Und das wird zu einem ganz großen Chaos führen.
    "Das große Chaos haben wir durch die Vorgängerregierung"
    Dichmann: Zu viel Hin und Her, ein großes Chaos zwischen Regel- und Förderschulen. Was sagen Sie dazu, Frau Gebauer?
    Gebauer: Nein, also, das große Chaos sehe ich nicht. Das große Chaos haben wir durch die Vorgängerregierung, so wie sie die Inklusion betrieben hat, nämlich mit viel zu viel Tempo und ohne die notwendige Qualität. Und dagegen müssen wir vorgehen. Das heißt, wir wollen entsprechend umsteuern und in diesem Zusammenhang verschaffen wir uns jetzt einmal einen Überblick welche Schulen tatsächlich in Nordrhein-Westfalen zu welchen Bedingungen inklusiv beschulen. Weil, da ist den Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben und das gut gemeint haben, als inklusive Schule zu arbeiten, was die Ressourcen anbelangt, viel zu viel versprochen worden. Und da wird es auch einen anderen Verteilerschlüssel geben, als das bisher der Fall war, also sprich, das Stellenbudget, so wie es unter Rot-Grün eingeführt worden ist, das werden wir in der Art und Weise nicht fortführen, weil es sich nämlich nicht bewährt hat.
    Dichmann: Yvonne Gebauer, Schulministerin in Nordrhein-Westfalen vor ihrem Premierenjahr. In NRW beginnt nämlich am Mittwoch wieder der Schulunterricht. Frau Gebauer, vielen Dank fürs Gespräch und an der Stelle vielleicht auch mal: Viel Glück für dieses erste Schuljahr!
    Gebauer: Herzlichen Dank, Herr Dichmann!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.