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Neuer Bundestag
"Das Parlament ist nicht eine moralische Züchtigungsanstalt"

"Debatten werden jetzt im Parlament stattfinden und nicht nur in einer Talkshow", sagte die Grünen-Politikerin Antje Vollmer im Dlf. Sie freue sich darauf, dass die SPD im neuen Bundestag in der Opposition sei - darin liege eine Chance für die Demokratie, denn es werde eine starke Opposition gebraucht.

Antje Vollmer im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Die deutsche Politikerin und Schriftstellerin Antje Vollmer, aufgenommen am 15.03.2013 in Leipzig (Sachsen) auf der Buchmesse.
    Antje Vollmer (picture-alliance / dpa / Marc Tirl)
    Jasper Barenberg: Ansprache des Alterspräsidenten, Wahl des Bundestagspräsidenten, Rede des Bundestagspräsidenten, dann Wahl der Stellvertreter, schließlich Empfang für die Abgeordneten.- Unspektakulär liest sich die Tagesordnung für die erste Sitzung des neuen Bundestages heute in Berlin. Aber wenn die Abgeordneten um elf Uhr zum ersten Mal im Plenarsaal zusammenkommen, ist vieles anders als bisher: Sechs Fraktionen statt vier, die FDP kehrt zurück, mit der AfD kommt zum ersten Mal seit 1961 eine Partei rechts von der Union dazu. Und im Hintergrund verhandeln CDU/CSU, Liberale und Grüne über ein Jamaika-Bündnis. Auch das wäre eine Prämiere.
    Mitgehört hat Antje Vollmer von den Grünen. Von 1994 bis 2005 war sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Schönen guten Morgen.
    Antje Vollmer: Ja, guten Morgen!
    1983 "waren ganz andere Vorzeichen"
    Barenberg: Sie sind 1983 dabei gewesen, als die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen sind. Sie waren Mitglied der ersten Grünen-Fraktion. Jetzt gibt es mit der AfD wieder einen Neuling. Sehen Sie da Parallelen, wenn auch politisch unter ganz anderen Vorzeichen?
    Vollmer: Es waren ganz andere Vorzeichen. Aber ich erinnere mich auch, als wir da reinkamen, gab es auch ein riesiges Gesumme und Gezische und große Aufregung und auch Anpöbeleien. Die größten Wirkungen auf uns als Grüne, die wir ja noch gar nicht richtig im Parlament standen, sondern unser Standbein außerhalb hatten, hatten eigentlich die Leute, die mit uns ungeheuer fair umgegangen sind: Hans-Jochen Vogel, Willy Brandt, Frau Hamm-Brücher. Die kamen auf uns zu und sagten, jetzt sind Sie hier, Sie haben ein Mandat, damit haben Sie Rechte, und das waren, glaube ich, die ersten Verführungen zu den fairen, toleranten Regeln des Parlamentarismus.
    Vollmer rät mit Blick auf die AfD im Parlament zu "knochentrockener Nüchternheit"
    Barenberg: Jetzt haben wir auch AfD-Abgeordnete im Bundestag, 92 an der Zahl. Wieder ist die Aufregung groß. Würden Sie sagen, der erste Grundsatz sollte auch in diesem Fall sein, das sind gewählte Abgeordnete mit allen Rechten und Pflichten, die das mit sich bringt?
    Vollmer: Ich würde tatsächlich dazu raten, sehr wache Sinne zu haben, knochentrockene Nüchternheit, Selbstbewusstsein des Parlaments - das Parlament hat eine lange Geschichte, da hat es schon vieles ertragen – und Ruhe zu bewahren. Das ist auch denen gegenüber wichtig, von denen sich viele wünschen, dass sie nicht da wären, aber das ist ja auch die Aufgabe des Parlaments. Das Parlament muss die Wirklichkeit wiederspiegeln und die Reaktion dieser Wahl und die völlig neue Zusammensetzung hat ganz sicher damit zu tun, dass die Große Koalition viele der Bedenken und Ängste, die es in der Bevölkerung gab, nicht wiedergespiegelt hat. Auf dieser Welle ist die AfD jetzt in den Bundestag gekommen. Deswegen Ruhe, Selbstbewusstsein, Fairness und klar in der Sache, wenn die über die Stränge schlagen, sowohl in der Sprache als vor allen Dingen in den Positionen. Aber wir haben gestandene Abgeordnete in diesem Parlament. Die werden das doch wohl können!
    "Das Parlament ist nicht eine moralische Züchtigungsanstalt"
    Barenberg: Sie haben eben auf das Wahldebakel für die beiden großen Parteien, für Union und SPD verwiesen. Nun ist die AfD im Gegensatz dazu ein strahlender Gewinner der letzten Wahl. Würden Sie sagen, mal jenseits der Lähmungserscheinungen durch die Große Koalition, steckt da auch etwas mehr an Veränderungen in der Gesellschaft insgesamt drin?
    Vollmer: Auf jeden Fall eine enorme Verunsicherung durch die Globalisierung, auch durch die Flüchtlingspolitik, auch ein Verlust an klaren Identitäten und Zuordnungen zu den Parteien. Da ist einiges im Fluss. Das merken wir ja nicht nur in unserem Land. Aber eine gestandene Demokratie - - Das Parlament ist nicht eine moralische Züchtigungsanstalt von Leuten, die sich schlecht benehmen, es ist auch nicht der Ort des Faustkampfes, sondern das Parlament ist der Ersatz einer Volksversammlung, die die unterschiedlichen Meinungen zum Ausdruck bringen muss, und die beste muss gewinnen. Das traue ich uns allemal zu, gerade bei den vielen erfahrenen Parlamentariern, die wir haben, dass sie dieses Moment von wach werden auch selber darstellen, dass diese Wahl ihnen eine neue Situation und ein neues Bild der Bevölkerung gegeben hat, aber dass sie von da an wirklich werben für Parlamentarismus, für die Art unserer Konfliktregelung und dafür, die Geister zu scheiden.
    "Debatten werden jetzt im Parlament stattfinden und nicht nur in einer Talkshow"
    Barenberg: Ein Politikwissenschaftler hat hier bei uns im Deutschlandfunk dieser Tage gesagt, es gab in den letzten Jahren mehr und mehr so etwas wie einen liberal-ökologisch nachhaltigen Zeitgeist, eine große Offenheit, eine Übereinstimmung in vielen Punkten, die mit diesen Schlagworten beschrieben sind. Und dieser Zeitgeist würde jetzt unter Druck stehen, wie man an dem neuen Bundestag sehen könnte. – Ist das eine zutreffende Beobachtung?
    Vollmer: Ja, da ist was dran. Da ist was dran und wie immer was Richtiges und auch was Falsches. Es ist natürlich eine unglaubliche Öffnung gewesen für diese liberale Atmosphäre. Die hat ja eine Partei wie die CDU vollständig verändert, sodass man sie fast nicht wiedererkennen kann. Aber das hat natürlich auch Leute, die eine Heimat in konservativen Verwurzelungen suchen mussten, auch im Stich gelassen, und da gibt es jetzt eine Reaktion.
    Aber ich wollte mal sagen, was doch auch ein Vorteil ist. Die Debatten werden jetzt im Parlament stattfinden, endlich mal wieder, und nicht nur in einer Talkshow. In einer Talkshow sind auch Leute, die sich als Volksvertreter gerieren. Die haben kein Mandat. Die hier haben nun mal – das ist die Würde von Parlamentariern – ein gewähltes Mandat, und das haben sie aber auch wirklich nur für vier Jahre und dann müssen sie sich wieder den Wählern stellen. Da ist ja schon manche Partei aufgeschossen und auch wieder runtergesackt. Die Grünen haben das selbst in ihrer Geschichte ja auch mal gehabt. Ein Parlament und Parlamentarismus kann lange Strecken überwinden, wenn er klug bleibt und wenn er selber Maß und Mitte hat, auch in der Form der Auseinandersetzung.
    "Ich freue mich darauf, dass die SPD in der Opposition ist"
    Barenberg: Damals 1983 – ich will noch mal darauf zurückkommen -, da waren sich ja viele Beobachter und viele Parlamentarier auch jenseits der Grünen einig, die Grünen werden rasch wieder aus dem Parlament verschwinden. Viele denken ja ähnlich heute über die AfD. Wie schätzen Sie das ein? Bleibt es bei einer rechten Alternative auf Dauer zur Union?
    Vollmer: Das kann ich im Augenblick nicht richtig beurteilen. Das hängt ganz stark von der Union ab. Und übrigens auch – und da will ich doch mal drauf hinweisen: Ich freue mich darauf, dass die SPD in der Opposition ist. Ich glaube, das ist eine riesen Chance. Das sage ich nicht aus Bosheit, sondern wirklich als Chance für die Demokratie. Wir brauchen eine starke Opposition. Opposition ist nicht Mist, sondern Opposition ist der andere Teil der Wirklichkeit, sind Argumente, die die Regierungskoalition aus ihren eigenen Zwangsvorstellungen nicht berücksichtigen. Und auf diese Debatten, wenn sich die SPD denn jetzt endlich gefunden hat und wenn sie damit eine neue politische Linke wieder in diesem Land konstituiert, auf die freue ich mich und dann werden wir, glaube ich, über manchen AfD-Beitrag nicht mehr so tief erschüttert sein, wie das heute im Augenblick der Fall ist.
    "Die Linke sind doch faktisch Sozialdemokraten"
    Barenberg: Wenn Sie sich da eine neue politische starke Linke im Parlament wünschen, dann setzt das ja voraus, dass sich die SPD und die Linkspartei irgendwie einigen, annähern, wie auch immer. Spricht da irgendwas dafür im Moment? Man hat eher das Gefühl, das Gegenteil ist der Fall.
    Vollmer: Ich finde, da spricht eine ganze Menge dafür. Die Linke sind doch faktisch Sozialdemokraten. Da ist was getrennt worden, was eigentlich eher zusammengehört auf lange Sicht. Auch da verstehe ich viele Hysterien der letzten Jahre nicht. Das war aber natürlich immer ein sicherer Wahlerfolg für die politischen Rechten, wenn man darauf dreschen konnte, und Antikommunismus und antirussische Ressentiments waren immer ein sicheres Mittel, um Wahlen gewinnen zu können in Deutschland. Deswegen haben wir ja auch so viele konservative und so wenig linke Regierungen gehabt. Aber da ist jetzt eine Chance drin, und zwar zugunsten der Demokratie, dass man endlich wieder im Parlament Auseinandersetzungen über die Sache, über den Grundkurs des Landes, über Europa, über Kriegsbeteiligung, über internationale Solidarität hat, dass man über Spanien diskutieren kann, über Griechenland, und dass man endlich wieder unterschiedliche Meinungen hat. Darauf freue ich mich ungeheuer.
    Barenberg: Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Frau Vollmer. - Antje Vollmer von den Grünen, Vizepräsidentin des Bundestages von 1994 bis 2005. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Vollmer: Danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.