Im Jahr 1972 erließ der König des kleinen südasiatischen Staates Bhutan ein wahrhaft revolutionäres Dekret: Das Glück der Bevölkerung wurde zum obersten Regierungsziel erklärt. Seither werden die Einwohner Bhutans regelmäßig von staatlichen Glücksforschern nach ihrem Befinden befragt. Anna Weidenholzer spielt in ihrem Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" die Idee eines Bruttosozialglücks für unsere Gegenwart durch.
Nicht gleich die Regierung, sondern der pensionierte Lehrer Karl macht sich auf den Weg, um anhand eines detaillierten Fragenbogens die Zufriedenheit seiner Mitmenschen zu erfassen. Nicht allein die Tatsache, dass Karl von der prosaischen "Zufriedenheit" spricht und sich die Rede vom "Glück" verbittet, lässt erahnen, dass es um das aktuelle Utopie-Potenzial einigermaßen kläglich bestellt ist. Das in einem kleinen Ort gelegene Hotel "Post", in das Karl der Zufall geführt hat, empfängt ihn so unterkühlt wie dessen schroffe Wirtin.
"Karl zieht die Jacke trotzdem aus, legt sie auf den Schreibtisch und greift auf den Heizkörper, nichts, kalt. Bitte, möchte Karl zur Wirtin sagen, schalten Sie die Heizung ein, (...). Aber die Wirtin wird bestimmt nicht mehr in der Gaststube sein. Außerdem hält sie nichts von Wärme, das weiß Karl schon. An dieser Wärme geht die Welt zugrunde, sagte sie, als sie mit dem Putzfetzen in der einen Hand auf der Treppe stand, mit der anderen Hand umklammerte sie das Geländer."
Befragungen verlaufen mit mäßigem Erfolg
Die Befragungen der ebenfalls nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Einwohner des Städtchens verlaufen mit mäßigem Erfolg. Wenn Karl endlich ein Objekt ausgemacht hat, ist mal die Zeit zu knapp, mal wird Karl aus dem Konzept gebracht durch zu viele Intimitäten, die vor ihm ausgebreitet werden.
Zusehends verstärkt sich der Eindruck: Karl, der vermeintlich Souveräne, der Fragende, ist tatsächlich derjenige, dessen Leben aus dem Tritt geraten ist. Nicht etwa, weil er über seine Unsicherheiten sprechen würde, eröffnet er uns Einblicke in sein Inneres. Es ist sein scheues und linkisches Gebaren, das mehr über ihn verrät, als ihm lieb sein mag. Vor allem über seine Einsamkeit, die er hinter einer Fassade von Geschäftigkeit zu verbergen glaubt.
Halt gewährt Karl der Gedanke an seine Frau Margit, mit der er das Projekt der Zufriedenheits-Befragung ersonnen hat. Oder hat sie nur eine Beschäftigung gesucht für einen mehr und mehr in Lethargie versinkenden Ehemann? Wir wissen es nicht. Margit nämlich reagiert nach seiner unangekündigten Abreise nicht auf Karls Anrufe. Nur ihre Lebensweisheiten, die Karl bei jeder Gelegenheit zitiert, machen Margit im Roman präsent.
Bilanz eines Scheiterns
Ist die Expedition des Zufriedenheitssuchers ein Aufbruch im Dienste der guten Sache oder eine Flucht vor dem deprimierenden, zähen Alltag, in den er nach seiner Pensionierung gerutscht ist? Weder noch: Es ist die Bilanz eines Scheiterns. So beginnt "Weshalb die Herren Seesterne tragen" erst in dem Moment, als Karl sein Unternehmen nach mehreren Wochen abbricht. Was er bei seinen Befragungen und in dem kargen Hotelzimmer erlebt, wie sich die harsche Wirtin ihm unvermutet doch noch annähert, erfahren wir in der Rückblende. Heimlich, so wie Karl Wochen zuvor von Zuhause losgefahren ist, verlässt er das trostlose Hotel, das ihn mehr schlecht als recht beherbergt hat, und fährt zur ehelichen Wohnung zurück.
"Er stellt den Motor ab und lässt den Schlüssel stecken, damit das Radio weiter läuft, er lässt das Lenkrad nicht los und schaut geradeaus. Sie waren oft im Auto sitzen geblieben, er und Margit, Margit links und Karl rechts, sie blieben angeschnallt und saßen, solange es ging. Es ist die Ruhe, bevor etwas beginnt, sagte Margit einmal und legte ihre Hand zu Karl hinüber, als aus dem Nichts ein alter Mann auftauchte. Er schwankte, ging auf das Auto zu, legte beide Hände auf die Motorhaube, verharrte so eine Weile, bis er lächelte und an Karls Seite Schlangenlinien vorbeiging. Karl drückte die Türpinne, Margit sagte nichts, sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe und schaltete den Scheibenwischer ein. Die Ruhe, bevor wir unsere Höhle verlassen, sagte Margit und Karl nickte."
Ob Margit, wie Karl fast beschwörend immer wieder verkündet, sich über seine Rückkehr freuen wird, ob sie ein warmes Mittagessen bereitet hat, lässt Anna Weidenholzer offen. Grund daran zu zweifeln, hat der Leser allemal.
Sehnsucht nach Geborgenheit
Anna Weidenholzer hat mit "Weshalb die Herren Seesterne tragen" einen Roman über das leise, schleichende Unglück geschrieben, das das Leben so vieler Menschen überzieht, ohne dass es wirklich greifbar wäre und ohne dass man zu sagen vermöchte, wann es angefangen hat. Immer wieder findet Weidenholzer unspektakuläre, nur vordergründig skurrile Bilder für die Sehnsucht nach Geborgenheit, die Karls eigentlicher Antrieb ist. So nimmt er auf seine Reise ein Nachthemd seiner Frau mit: ein paar Nummern zu groß, vorn die Applikation eines gähnenden Löwen. Aber ein Nachthemd allein kann die Sache nicht richten.
"Und alle Fenster finster und hier draußen ich", lautet der erste Satz des Romans. Das ist noch einmal eine Verschärfung des herkömmlichen Bildes von den erleuchteten Fenstern, die ein Versprechen von Wärme ausstrahlen, auch wenn diese kaum erreichbar scheint. In der gegenwärtigen Gesellschaft, wie Anna Weidenholzer sie schildert, bleibt es sowohl vor als auch hinter den Fenstern dunkel. Dieser Befund, so düster er anmutet, mag nur allzu richtig sein. Leider allerdings gelingt Weidenholzer nur passagenweise, ihren Roman auf eine Temperatur zu bringen, die ihn als Ganzen leuchten lassen würde. So überwiegt am Ende die Versuchsanordnung, die ein wenig zu spröde bleibt, um zu begeistern.
Anna Weidenholzer: "Weshalb die Herren Seesterne tragen".
Matthes & Seitz, Berlin 2016, 192 Seiten, 20 Euro.
Matthes & Seitz, Berlin 2016, 192 Seiten, 20 Euro.