"Durch den Akt der Kreativität wird jede dunkle Geschichte zu etwas Gutem. Ich spreche nicht nur über meine eigene Arbeit: Jeder Rapper, jeder Künstler erlebt diese Transformation. Egal wie düster die Geschichte ist, allein dadurch, dass du sie erzählst, schaffst du etwas Positives."
Die 30-jährige Londonerin Kate Tempest bezeichnet sich als Lyricist, als Wortkünstlerin. Auf "Let Them Eat Chaos", ihrem neuen Album zwischen Spoken Word und Hip-Hop, manifestiert sich ihre Ruhelosigkeit in der Schlaflosigkeit sieben junger Menschen. Ohne sich je begegnet zu sein, leben sie im selben Gebäude. Sie verbindet: die Uhrzeit 4 Uhr 18.
"Mich faszinieren diese paar Stunden vor dem Morgengrauen. Wenn dein Tag nicht deinem Arbeitgeber gehört und auch nicht mehr Teil deiner Partynacht ist. Wenn man um diese Zeit wach ist, in einer großen Stadt, in der man durchweg von Menschen umgeben ist, fühlt man erst wirkliche Einsamkeit."
Auf "Let Them Eat Chaos" müssen die Figuren Pete, Gemma, Zoey oder Bradley ihre privaten Probleme in den Griff kriegen – sie sind arbeitslos, sind erschöpft, sie plagen Selbstzweifel. Diese sind eng verbunden mit stadtpolitischen oder globalen Entwicklungen.
"Die besetzten Häuser, in denen wir früher wilde Partys gefeiert haben, sind heute längst saniert und unerschwinglich", rappt Kate Tempest. Viele Leute um die 30 werden dazu mit dem Kopf nicken, nicht nur in Tempests Heimatstadt London. Die Britin fragt nach den Ursachen des vermeintlich individuellen Unglücks und findet sie im Egoismus der Konsumgesellschaft.
Aufruf zu mehr Partizipation
Der Song "Europe is Lost", eigentlich schon aus dem vergangenen Herbst, bekommt nach dem Brexit-Referendum eine ganz andere Bedeutung. Dass eine ältere Wählerschaft die Weichen für die Generationen nach sich gestellt hat und die jüngere nichts dagegen getan hat, macht die Musikerin traurig:
"Jeder Wandel, der durch Angst hervorgerufen wird, ist gefährlich. Er wird zu keinem Fortschritt führen. Bescheidenheit, Empathie und Liebe sind die einzigen Mittel, die das schaffen. Und ich verstehe wirklich, dass wir einen Wandel brauchen!"
"What am I gonna do to wake up?" – Was kann ich tun, um aufzuwachen? Diese Zeile mäandert durch das Album von Kate Tempest. Sie verweist nicht nur auf die Schlaflosigkeit der Protagonisten, sondern fordert auch das Aufwachen aus dem Trott des Alltags und birgt einen Aufruf zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation.
Die Beats der Platte kommen – wie schon auf dem ersten Album "Everybody Down" vom britischen Produzenten Dan Carey. Die Musik gehört für Tempest ebenso zur Erzählung wie ihre Worte, ist ihr Szenenbild. Aber dieses Mal fällt sie stiller aus, elektronischer und zurückhaltender als zuvor. Wabernde Synthieschleifen und Bassläufe legen sich hypnotisch um Zeilen der Wortkünstlerin und die Zuhörer.
"Sieben gebrochene Herzen, sieben leere Gesichter" – am Ende der Platte führt Tempest ihre schlaflosen Protagonisten schließlich zusammen. Sie treten gleichzeitig aus ihren Wohnungen auf den selben Flur. Das Ende bleibt offen, aber führt in einen hoffnungsvollen Raum, die sieben Charaktere sind nun nicht mehr allein auf sich gestellt. Die Botschaft: Zusammen können wir auch ganz andere Probleme in den Griff kriegen. Auch wenn das einfach klingt und Kate Tempest weit von einer konkreten Lösung entfernt ist, schafft sie es, ihr Publikum wachzurütteln – mit Worten und Musik, deren hypnotischen Bann man nachgeben sollte.
"Das Ziel ist, dass wir uns am Ende dieser Platte nicht auf das konzentrieren, was uns trennt, sondern auf das, was wir gemein haben. Unter dem stürmischen Himmel sind wir alle Menschen, die an der Nase herumgeführt werden."