Marcel Anders: Herr Healy, das ist eine imposante Kinnbehaarung. Warum lassen Sie die so wuchern?
Fran Healy: Ich habe neue Songs geschrieben. Und dabei hat der Bart wie ein Radar funktioniert. Wie ein Netz, mit dem ich Ideen einfangen konnte. Zuvor waren wir anderthalb Jahre auf Tour und ich hatte mich jeden Tag rasiert. Und zwar extra gründlich. Doch irgendwann wurde mir das zu nervig. Also ließ ich den Bart wachsen, und er wurde sehr schnell sehr groß. Was mir gefiel. Denn es ist angenehm, sich hinter diesem Busch zu verstecken. Mein Plan ist, ihn nächstes Jahr abzunehmen und dann zehn Jahre jünger auszusehen.
Anders: Die letzten 18 Monate haben Sie in einem Raum im legendären Berliner Hansa-Studio verbracht. Warum ausgerechnet dort - und haben Sie etwa kein Heimstudio?
Healy: Nein. Aber unser Produzent hatte gleich zwei Räume im Hansa-Studio. In einem hat er seine Aufnahmen abgemischt, der andere diente als Lager. Also habe ich ihn gefragt, ob er das alte Equipment, das sich darin gestapelt hat, wirklich noch braucht oder ob ich ihn mieten könnte. Nachdem er ausgemistet hatte, war da dieser unglaubliche Raum - der beste, in dem ich je geschrieben habe. Ich habe ihn hübsch eingerichtet und bin da jeden Tag hingegangen.
"Kurz und süß"
Anders: Wie bei einem ganz normalen Job?
Healy: Ja, wobei ich 90 Prozent der Zeit damit verbracht habe, rumzusitzen und nichts zu tun. Ich habe aus dem Fenster geschaut, nachgedacht, mir Filme angesehen, ein bisschen gelesen, gezeichnet und eher Musik gehört als geschrieben. Nur 10 Prozent der Zeit habe ich für das genutzt, was ich eigentlich tun wollte.
Und die einzige Vorgabe, der ich gefolgt bin, war: 'Ich will, dass alle Stücke unter drei Minuten bleiben.' Einfach, weil das die Formel für gute Popsongs ist: Kurz und süß.
Als wir das Ganze zu einer Plattenfirma gebracht haben, hieß es: 'Da sind acht Singles am Start.' Was ich noch nie zuvor gehört hatte. Und meine Reaktion war: 'Wenn wir acht Videos drehen, warum dann nicht gleich für sämtliche Tracks des Albums - also einen Film für alles?' Daran habe ich seit September 2015 gearbeitet. Und es wurde alles in Berlin gedreht - mit einer deutschen Crew und inspiriert von lokalen Filmemachern. Denn seltsamerweise kenne ich in Berlin mehr Filmleute als Musiker.
Anders: Zum Beispiel?
Healy: Als ich vor acht Jahren hierhergezogen bin, habe ich zufällig Daniel Brühl getroffen - einfach so auf der Straße. Wir kannten uns vom Sehen, hatten uns aber nie unterhalten. Das haben wir erst ein Jahr später getan als wir das erste Mal miteinander abhingen. Durch ihn habe ich dann Wolfgang Becker kennengelernt - und Tom Tykwer und seine Frau Marie. Ich habe ein bisschen Zeit auf dem Set zu "Cloud Atlas" verbracht. Und ich war dabei, als Wolfgang "Ich & Kaminski" drehte.
Obwohl Videos, wie ich sie schon selbst gedreht habe, etwas vollkommen anderes sind als Filme, dachte ich: 'Das kriege ich auch hin.' Und das habe ich. Es hat ein bisschen was davon, als hätte ich 300 Münzen in die Höhe geworfen und gesagt: 'Zahl!' Und als wären tatsächlich alle als Zahl auf den Boden gelandet.
Anders: Zum Song "3 Miles High" haben Sie sich von den stärksten Männern der Welt durch Berlin tragen lassen. Und zwar im Baby-Geschirr auf deren Bauch. Was war das für ein Gefühl?
Healy: Es war irgendwie lustig, weil die Deutschen immer so glotzen. Das tun sie ständig. Dabei war die ursprüngliche Idee, dass es niemandem auffallen sollte. Also dass es die Leute, an denen wir vorbeigehen, gar nicht merken. Darum dreht sich der Song - nämlich dass wir heutzutage alle ein bisschen abgestumpft sind und nichts mehr mitkriegen.
Anders: Das Album heißt "Everything At Once" - Alles auf einmal. Ein Seitenhieb auf unsere heutige Mentalität, dass wir alle Informationen immer sofort und überall haben wollen?
Healy: Das ist wahr. Wenn ich mich so umschaue, dann ist alles verbunden und vernetzt. Während wir als Menschen immer weniger Verbindung zu einander haben. Also es gibt kaum noch Situationen, in denen zwei Personen in einem Raum sitzen und sich unterhalten, wie wir es gerade tun.
"Manchmal müssen wir unser inneres Tier rauslassen"
Anders: Dann ist das Ganze ein Aufruf zu mehr Menschlichkeit oder zur Rückbesinnung auf das Wesentliche?
Healy: Es hat etwas von 'Komm, schau mir in die Augen!' Denn ich frage mich, wohin diese Entwicklung führt. Also wie die Technik unser Verhalten in den nächsten hundert Jahren verändert - und wohin das führt? Denn Körper und Geist sind halt irgendwie verbunden. Selbst, wenn wir im Grunde Tiere sind.
Und manchmal müssen wir unser inneres Tier rauslassen. Denn je mehr wir es unterdrücken, desto trauriger wird es. Bis es wie ein trauriger Hund ist - also das Schlimmste, was es gibt. Und die Leute rennen zwar ständig durch die Gegend, vergessen aber, ihr Tier mal in den Park zu führen, einen Baum hochklettern zu lassen, es richtig zu füttern und ihm genug Schlaf zu geben. Einfach, weil sich alles nur noch in unseren Köpfen abspielt, wo diese kleinen Diktatoren sind, die ständig sagen: 'Tu dies, tu das! Steht auf! Setz dich hin!'
Ein interessantes Thema, das sich von ganz allein ergeben hat. Es war nicht so, als hätte ich gesagt: 'Ich schreibe jetzt einen Song darüber.' Das würde ich nie tun.
Anders: Sie haben aber auch keine Skrupel, über Kim Kardashian zu schreiben.
Healy: Das ist ja auch eine gute Textzeile. Also: 'Sich für die Kamera herauszuputzen wie ein Kardashian.' Da geht es um diesen Selfie-Irrsinn, hinter dem sich eine schockierende Eitelkeit verbirgt, die längst Standard ist. Im Sinne von: Es wird akzeptiert, wenn sie jemand projiziert. Was mir manchmal das Gefühl gibt, als wäre ich wie ein Großvater, der auf meine Generation schaut.
"Nachrichten sind heute ein großes Geschäft"
Anders: In "All Of The Places" heißt es dagegen: 'Die Tageszeitung zu öffnen, reicht, um den Verstand zu verlieren.' Haben Sie ein Problem mit den modernen Medien?
Healy: Nachrichten sind heute ein großes Geschäft, das vor allem auf Angst und Panik setzt. Wobei die vielen negativen Schlagzeilen auch dafür sorgen, dass man komplett abstumpft - bis etwas vor der eigenen Haustür passiert.
Erst als in Berlin Flüchtlinge untergebracht wurden, und zwar genau um die Ecke von mir, war das Thema plötzlich brandheiß. Vorher hat es niemanden interessiert. Es wird nur relevant, wenn es jemanden persönlich tangiert. Schaue ich mir die übrigen Nachrichten an, egal in welchem Medium, herrscht da nur Untergang und Verderben. Insofern ist es kein Wunder, dass wir alle ein bisschen deprimiert sind.
Anders: Als Wahl-Berliner, wie sehen Sie Angela Merkels Politik in Bezug auf die Flüchtlingskrise, die Beziehung zur Türkei und die Böhmermann-Affäre? Wird sie das überstehen?
Healy: Angela Merkel? Die ist doch aus Teflon!
Anders: Sind Sie sicher?
Healy: Aber ja! Sie steht schon so lange an der Spitze eures Landes, dass ihr euch an sie gewöhnt habt. Aber aus britischer Sicht ist sie ziemlich cool - und ganz ohne Ego. Sie ist umgeben von all diesen Typen, die auf einem fürchterlichen Powertrip sind, während sie selbst sehr zweckmäßig denkt. Und jeder Engländer, mit dem man spricht, sagt: 'Wow, ist die cool!' Denn sie kommt so rüber, als ob sie sich um ihr Land kümmert. Als ob sie versucht, das Richtige zu tun.
Anders: Machen Sie sich keine Sorgen um den Zulauf der politischen Rechten in Deutschland?
Healy: Natürlich, aber ich denke, Deutschland hat genug aus seiner Geschichte gelernt, um zu erkennen, dass es sich um eine kleine Gruppe an Menschen handelt, die nicht gebildet genug ist, um über bestimmte Dinge hinwegzuschauen. Dasselbe Problem existiert in Amerika - es dreht sich alles um Bildung. Wenn du nicht genug genossen hast, denkst du nicht selbst, sondern verlässt dich auf bestimmte Leute – und glaubst ihre Ansichten. Was das betrifft, hat euch die Geschichte sensibilisiert. Von daher denke ich nicht, dass da ernsthafte Gefahr besteht.
Anders: Anders als in Amerika, wo Trump als Präsident immer realistischer wird?
Healy: Es gibt ein Zitat von Donald Trump von 1997, als man ihn gefragt hat, ob er sich vorstellen könnte zu kandidieren. Da war seine Antwort: 'Wenn ich das tue, dann als Republikaner - weil die jeden Scheiß glauben, den man ihnen erzählt.' Das hat er 1997 gesagt. Und da denke ich mir: 'Vielleicht ist er gar nicht so dumm.' Er bringt auf den Punkt, was andere hören wollen. Und Trump als Präsident wäre bestimmt interessant. Nur nicht auf positive Weise.
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