Christine Lieberknecht war in der Thüringer Politik schon fast alles, was man im Freistaat werden kann. Kultusministerin, Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Landtagspräsidentin, CDU-Fraktionsvorsitzende, Sozialministerin und seit 2009 Ministerpräsidentin. Um keines dieser Ämter hat sie sich beworben. Im September wird sie sich zum ersten Mal der Wahl stellen, um das Amt der Ministerpräsidentin zu verteidigen.
"Ich bin immer sehr zufrieden gewesen mit dem, was ich gerade gemacht habe, welche Funktion ich gerade innehatte, und hatte nie von mir aus den Drang, zu wechseln. Und im Grunde ist das jetzt die Fortsetzung dessen, was ich mir auch für andere Ämter hätte vorstellen können. Ich wäre 2009 auch gerne Sozialministerin geblieben. Oder ich wäre 2004 gerne Landtagspräsidentin geblieben. Jetzt bin ich Ministerpräsidentin. Und wenn ich einmal im Spiel bin, dann will ich auch kämpfen, dann will ich auch gewinnen!"
Und sie kann kämpfen. Wer die ausgebildete Pfarrerin nur als ausgleichende, konfliktunlustige Landesmutter mit pastoralem Ton wahrnimmt, sieht nur die halbe Christine Lieberknecht, meint ihr Biograf, Martin Debes.
"Es gibt da so eine These von Willibald Böck, dem ersten Innenminister in Thüringen, mit dem ich gesprochen habe, der gesagt hat 'Dem Guten ist auch das Schlechte das Gute' Also, sie ist so eine, die eigentlich auf der Meinung ist, dass sie immer auf der richtigen Seite ist und Dinge, die sie tut, gerechtfertigt sind, weil sie sie tut! 'Sie meint's gut, auch im Schlechten.' Und diese Skrupellosigkeit - das muss man schon so sagen; das Wort passt eigentlich -, die Skrupellosigkeit, mit der sie manchmal vorgegangen ist, hat sie immer für notwendig gehalten."
Entwicklung der Thüringer Politik nach 1989
Martin Debes ist der Kenner der Landespolitik bei der "Thüringer Allgemeinen", der größten Tageszeitung im Freistaat. Und er ist meinungsfreudig. Eigentlich wollte er ein Buch über Ministerpräsident Dieter Althaus schreiben, der aber 2009 nach einem Skiunfall auf unrühmliche Weise abtreten musste. Nun steht seine Nachfolgerin Christine Lieberknecht im Mittelpunkt. Debes hat lange, offene Gespräche mit ihr geführt. Weder die Interviews noch die Biografie wollte sie zur Autorisierung vorgelegt bekommen. Das ist ihr liberales Verständnis von Pressefreiheit. Für Debes gab es bei den Interviews noch Überraschungen.
"Dass da so eine großbürgerliche Vergangenheit in der Familie ist und dass da nicht nur Bauhaus, sondern auch Gropius und van der Velde drin steckt, erklärt doch einiges, erklärt auch Dinge, die sie dann als Ministerpräsidentin gemacht hat und vor allem die Attitüde, mit der sie auftritt, so als Kultur-Ministerpräsidentin. Sie spielt natürlich damit und nutzt das auch, aber sie ist auch sehr stolz darauf."
Aber das Buch ist mehr als nur eine Biografie. Es zeigt sehr anschaulich und an historischen Brennpunkten mit großer Schärfentiefe die Entwicklung, ja überhaupt erst das Entstehen der Thüringer Politik nach 1989. Da waren ambitionierte Laien am Werk, zusammengewürfelt aus möglichst unbelasteten Ostdeutschen und West-Importen aus der zweiten oder dritten Reihe.
"Der Umstand, dass eine in Verwaltungsdingen und Schulfragen völlig unerfahrene Dorfpfarrerin mit 32 Jahren zur Kultusministerin aufsteigt, lässt sich nur aus der damaligen Zeit erklären. Selten, vielleicht nie in der deutschen Geschichte, wurden Posten und Mandate derart freihändig vergeben wie bei der Auflösung der DDR. Die Diskrepanz zwischen der geringen Qualifikation und der Größe der Aufgaben ist enorm. Schließlich muss mindestens eine Frau ins Kabinett – und was sollte es sonst für eine Frau sein als die, die dem Ministerpräsidenten zur Macht verhalf, die seine Stellvertreterin in der Partei ist und die als Aushängeschild für die angeblich runderneuerte CDU dient?"
"Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin"
Christine Lieberknecht galt 1989/'90 als große Hoffnung der Ost-CDU, denn sie war jung und gehörte zu den Mitunterzeichnern des sogenannten "Briefes aus Weimar". In diesem innerparteilichen Protest-Dokument fordern einige DDR-CDU-Mitglieder im September '89 "Offenheit", "Mündigkeit" und Reisefreiheit. Debes zeigt, dass der Weimarer Brief nicht nur ein Reformdokument war, sondern auch der Versuch der bis dahin SED-treuen CDU-Basis, sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen – wobei einer der beiden Autoren ein Spitzel der Staatssicherheit war.
Christine Lieberknecht und auch die CDU hätten die Bedeutung des Briefes und auch Lieberknechts Anteil daran stets weit übertrieben - um die belastete Blockpartei CDU zumindest dem Anschein nach fit zu machen für die Demokratie, sagt der Biograf.
"Sie hat es genutzt, um in der Politik etwas zu werden; und die Partei hat es auch genutzt, um Lieberknecht quasi als "Postergirl" der reformerischen CDU darzustellen und zu benutzen. Also, ohne den Brief aus Weimar wäre sie nicht geworden, was sie jetzt ist."
Der Untertitel des Buches lautet denn auch "Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin". Christine Lieberknecht war keine Revoluzzerin, keine Aufrührerin, sondern FDJ-Sekretärin in ihrer Theologie-Seminargruppe an der Jenaer Universität. Das stellt sie nicht unbedingt in den Vordergrund, aber auf Nachfrage steht sie selbstbewusst dazu. Eine Haltung, die die Wähler in Thüringen vermutlich eher honorieren als bestrafen werden.
Lieberknecht: "Die meisten Menschen sind die längste Zeit ihres Lebens mitlaufend. Und ich kann ganz klar sagen: Diese lange Regierungszeit von Bernhard Vogel bin ich mitgelaufen, hab viel gelernt! Und auch zu DDR-Zeiten war es ja nicht so, dass ich in der vordersten Front des Widerstandes stand! Ich habe versucht, innerhalb des DDR-Systems in dem mir möglichen Rahmen Veränderungen herbeizuführen, was mal mehr, mal weniger gelungen ist, insgesamt aber eine Illusion gewesen ist. Natürlich habe ich vieles, vieles mitgemacht, was an der Schule Usus war, was auch im Studium einem abverlangt wurde! Und in diesem Sinne ist der Titel nicht falsch: "Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin" – ich finde, der trifft es irgendwie!"
Spitzname "Schwarze Mamba"
Martin Debes hat eine sehr solide und flüssig formulierte politische Biografie vorgelegt, die von Parteifreunden und Gegnern der Thüringer Ministerpräsidentin gleichermaßen geschätzt wird – und sogar von ihr selbst. Er hat gerade die Punkte ihrer Karriere sehr genau unter die Lupe genommen, an denen sie ihre präsidiale, ausgleichende und pastorale Art ablegte und knallhart Parteifreunde fallen ließ, wenn sie es für politisch notwendig erachtete.
Was bei Männern vielleicht als Führungsstärke angesehen würde, brachte ihr den Spitznamen "Schwarze Mamba" ein. Und auch Martin Debes glaubt nicht, dass ihr Antrieb allein das Wohl der Thüringer ist. Psychologische Ausleuchtung ist seine Sache aber nicht. Das tut der Qualität des Werks jedoch keinen Abbruch.