Tobias Armbrüster: Das G20-Wochenende in Hamburg, es beschäftigt deutsche Politiker auch drei Tage danach immer noch. Zu dramatisch waren die Bilder von randalierenden Autonomen, von brennenden Autos und Häusern und von Polizisten in Lebensgefahr. Viele sagen jetzt auch, Hamburg, das war auch ein Zeichen dafür, dass es Treffen in dieser Form eigentlich nicht mehr geben sollte, G20 mitten in einer Großstadt, als Anziehungspunkt für gewalttätige Demonstranten aus ganz Europa.
Wir wollen dazu jetzt die Einschätzung hören von einem der besten Kenner der internationalen Diplomatie, von Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz in München. Ich habe vor etwa einer Stunde mit ihm gesprochen. - Schönen guten Morgen, Herr Ischinger.
Wolfgang Ischinger: Guten Morgen!
Durch die Debatte geht der Hauptpunkt verloren
Armbrüster: War Hamburg der falsche Ort?
Ischinger: Nein. Es gibt für solche Gipfel keinen richtigen oder falschen Ort und es kann, denke ich, jedenfalls auch nicht sein, dass man sich durch Gewalttäter vorschreiben kann, welchen Ort bei uns oder in einem der Nachbar- oder Partnerländer man dafür auswählen kann.
Ich glaube vor allen Dingen, dass durch diese Debatte über die Umstände des Gipfels der eigentliche Hauptpunkt etwas verloren gegangen ist. Wir haben mit diesem G20-Format weltpolitisch zurzeit das einzige Format, bei dem die wirklich großen und wichtigen Länder, nämlich die USA, Russland und China, um mal die drei allerwichtigsten zu nennen, mit anderen Partnern tatsächlich auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zusammensitzen. Früher, vor 20 oder 30 Jahren, musste man auf das nächste "working funeral", also auf das nächste Begräbnis warten, um solche Gelegenheiten zu haben. Das kann es ja nicht sein!
"Wir leben in einer außerordentlich gefährlichen Welt"
Armbrüster: Herr Ischinger, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf? Ist das nicht genau das Problem, dass die eigentlichen Ergebnisse oder die Benefits solcher Veranstaltungen werden völlig überschattet von den Protesten darum herum.
Ischinger: Ja, das mag ja so sein. Aber dann ist es unsere Aufgabe, also der politischen Analyse und der Kommentatoren, die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass das politisch wichtig ist. Wir leben in einer außerordentlich gefährlichen Welt. Wir haben 65 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. Wer wenn nicht die Staats- und Regierungschefs sollten sich denn damit auseinandersetzen?
Und ich finde, der Punkt, der ja hier gelegentlich gemacht wurde, ja, dafür haben wir doch die Vereinten Nationen - schön wär’s, wenn die Vereinten Nationen, wenn der Sicherheitsrat imstande wäre, bindende Entscheidungen zu treffen. Dort sitzen Botschafter, die haben Weisungen von ihren Hauptstädten. Da sitzen eben nicht die Putins und die Xi Jinpings und die Merkels und die Macrons selber und deswegen hat das einen besonderen Wert.
Und, Herr Armbrüster, lassen Sie mich noch einen Punkt hinzufügen. Wir hatten bis vor drei Jahren ja auch das G8-Format, in dem die großen westlichen Industrienationen mit Russland zusammensaßen. Das gibt es leider nicht mehr. Ich persönlich habe das für einen großen Fehler gehalten, das G8-Format zu suspendieren oder aufzugeben. Jetzt ist G20 der einzige Rahmen, in dem wir Putin mit all seinen Unberechenbarkeiten, der Erschütterung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf der Krim und in der Ostukraine, zumindest ins Gespräch einbinden können. Ich halte das für einen unschätzbaren Wert.
Nur New York? - "Einige werden nicht begeistert sein"
Armbrüster: Herr Ischinger, ich will noch mal kurz bei der Standortfrage bleiben. Wäre das vielleicht eine Lösung, wenn man sagen würde, diese Treffen nicht in irgendwelchen Städten rund um den Globus, sondern G20 grundsätzlich immer in New York am Sitz der Vereinten Nationen?
Ischinger: Na ja, dagegen hätte ich ja gar nichts einzuwenden. Ich fürchte nur, wenn Sie jetzt mal die Nationen fragen, die nach der etablierten Reihenfolge als nächste dran sind bei der Durchführung des nächsten G20-Treffens, die werden nicht begeistert sein. Denn genauso wie man in Deutschland im längeren Vorfeld, vor einem Jahr oder vor anderthalb Jahren dachte, das ist eine große Gelegenheit für deutsche Politik, als Gastgeber zu zeigen, welche Rolle man weltpolitisch hat, welche Verantwortung man übernehmen kann, wie man mit den anderen Großen der Welt so eine Begegnung zelebrieren kann, das wird keiner so gerne aufgeben. Ich fürchte, den Konsens mit denen, die als nächste dran sind, wird man so leicht nicht hinkriegen.
Müssen 800-Mann-Delegationen sein?
Armbrüster: Aber müssen wir nicht im Nachhinein sagen, das war ein komplettes Desaster und die Frage bleibt, ob dieser Aufwand wirklich lohnt? Wir haben da eine Stadt, die ist völlig verunsichert. Wir haben hunderte von verletzten Polizeibeamten und ein grundsätzliches Infragestellen solcher Konferenzen. Kann eine Stadt wirklich glücklich sein, noch ein solches Treffen auszurichten?
Ischinger: Na ja, unter den Umständen, die jetzt in Hamburg stattgefunden haben, natürlich nicht. Und ich würde Ihnen bei einem Punkt schon konzedieren. Die Frage ist nicht nur erlaubt, sondern sie ist sinnvoll und richtig: Müssen denn diese Delegationen wegen zwei Tagen mit 300, 500 oder gar 800 Mann Delegation anreisen? Ist das nicht ein Overkill erster Klasse? Geht es nicht auch ein kleines bisschen bescheidener? Kann man möglicherweise zu Formaten zurückkehren, die es zu Beginn solcher Begegnungen in den 70er-Jahren gab zwischen Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing und dem amerikanischen Präsidenten und so weiter, als man sich zu fünft oder sechst oder dann zu siebt traf. Da waren außer den sogenannten Chefs selbst ein paar wenige Berater dabei. Das war’s dann.
Der Aufwand, mit dem China, mit dem Saudi-Arabien, mit dem einige der anderen Staaten anreisen, der ist unbeschreiblich groß, und das können Sie eigentlich nur logistisch in oder um eine Großstadt herum abwickeln. Wo sonst finden Sie tausende von Hotelzimmern der Oberklasse. Es geht, fürchte ich, nicht anders. Als Außenpolitiker bin ich nicht kompetent, für die Innenpolitik oder die innere Sicherheit ein festes Urteil zu haben. Aber ich denke, es darf nicht so sein, dass wir uns von Gewaltkriminalität, egal ob die nun von links oder von rechts oder woanders herkommt, diktieren lassen, dass wir bestimmte staatliche Veranstaltungen nicht mehr durchführen können.
Ich glaube, die Maßnahmen, über die jetzt diskutiert wird, mehr Polizei, präventive Maßnahmen gegen Links- genauso wie gegen Rechtsextremismus, europaweite Fahndung, ich persönlich bin der Meinung, Europa braucht seit Jahren eine Art europäisches FBI. Wenn wir offene Grenzen haben, das ist der Schritt A, dann muss doch der Schritt B lauten auch eine europaweite eingriffsfähige Polizei und nicht nur eine quasi ohnmächtige Datensammelstelle, genannt Europol.
Ausmaß der Gewaltbereitschaft unterschätzt
Armbrüster: Herr Ischinger, wenn ich Sie da kurz noch mal unterbrechen darf? Warum kommt diese Diskussion erst jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist? Das hätte man ja eigentlich vorhersehen können.
Ischinger: Na ja, nach dem, was ich verfolge, haben eben die für die innere Sicherheit Verantwortlichen das Ausmaß der Gewaltbereitschaft und die Zahl der zum Teil ja auch aus dem Ausland angereisten Gewalttäter unterschätzt. Da wird man in sich gehen müssen und sich die Frage stellen müssen, wieso haben wir es denn falsch eingeschätzt.
Armbrüster: Auch wenn viele Polizisten jetzt sagen, eigentlich hatten wir das seit Monaten auf dem Schirm?
Ischinger: Richtig. Die Lehre muss sein, es darf eben nicht so sein, dass man zwar die Staatsgäste an einem Abend umfassend schützen kann, dafür aber andere Stadtteile in so einer Stadt wie Hamburg sozusagen sich selber überlassen muss. Das, denke ich, ist eine schlichte Schlussfolgerung für künftige Großstädte, in denen solche Veranstaltungen stattfinden. Und ich bin auch persönlich der Meinung: Muss es denn sein, dass Sonderzüge zum Teil auch aus europäischen Nachbarstaaten genau mit den Leuten besetzt, die hinterher Gewalttaten angezettelt haben, eingesetzt werden? Da ist sicherlich auch im Vorfeld noch mal gründliches Nachdenken sinnvoll.
Armbrüster: Wolfgang Ischinger war das, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, ehemaliger deutscher Botschafter in Washington. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Ischinger: Ja, vielen Dank, Herr Armbrüster.
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