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Neun Tage für ein halbes Jahrhundert

Der österreichische Autor beschränkt sich auf neun einzelne Tage, um ein halbes Jahrhundert darzustellen. Er fixiert Details im Strom des Geschehens und schaut systematisch an den Hauptereignissen der Geschichte vorbei. So trifft er den Kern der Dinge.

Von Michaela Schmitz |
    Haben Sie schon mal versucht, gezielt an den zentralen Ereignissen vorbeizuschauen? Das Beiseiteschauen erlaubt oft ganz neue Perspektiven. Ein verblüffender Effekt, den Arno Geiger in seinem neuen Roman "Es geht uns gut" zum Erzählprinzip macht. Im Fokus seiner Geschichte stehen die alltäglichsten und gewöhnlichsten Begebenheiten, Situationen und Umstände, all diese, so der Autor, "Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen". Ein gewagtes Projekt. Vor allem, wenn sich die Erzählung über mehrere Jahrzehnte voller geschichtsträchtiger Ereignisse erstreckt.

    Sie spielt in Österreich in der Zeit von 1938 bis 2001. Ein Zeitraum, dem sich auch die in diesem Frühjahr erschienenen Bücher von Eva Menasse "Vienna" und Peter Rosei "Wien. Metropolis" widmen. Arno Geiger beschränkt sich auf neun einzelne Tage, um ein halbes Jahrhundert darzustellen. Und mehrere große Themen parallel zu führen: einen österreichischen Zeit- und Gesellschaftsroman, die Schilderung einer Familiengeschichte über drei Generationen hinweg und die Entwicklung eines Bildungsromans mit Enkel Philipp.

    Dessen Geschichte und die Großmutter Almas bilden den Rahmen einer komplexen Erzählkonstruktion mit wechselnden Hauptfiguren. Eines der Vorbilder ist "Die Handschrift von Saragossa". Der Roman des mehrfach zitierten Grafen Potocki. Hier wie dort bildet die Rahmenhandlung das Gerüst für äußerst kompliziert ineinander verschachtelte, auf einzelne Tage unterteilte Geschichten. Diese vervielfältigen sich wie in einem Kaleidoskop unter strenger Gesetzmäßigkeit und fügen sich zu Mustern. Ein Beispiel im Geiger-Roman: das Detail der Kanonenkugel am Geländer-Handlauf der großmütterlichen Familienvilla Sterk, blank poliert von Generationen von Händen. Philipp fällt dazu eine reale Geschichte ein: Grafs Potockis jahrelanges Feilen an der eigenen Todeskugel. Aus einer Variation der Anekdote wird ein Muster freiphantasiert:

    "Man denke an diesen Grafen, der über viele Jahre in monotoner Arbeit an einer Kanonenkugel feilte, Woche für Woche, Jahr für Jahr, bis die Kanonenkugel so klein war, daß sie in die Pistole des Mannes paßte. Daraufhin, als wäre die Konzentrierung des Kalibers der einzige Grund und das Ziel der langwierigen Feilerei gewesen, schoß sich der Graf die ehemalige Kanonenkugel mit der Pistole in den Kopf. Gut Ding braucht Weile. Ja, ja. Braucht es das? Lohnt sich der ganze Auf-wand? Die endlose Feilerei?"

    Arno Geiger trifft mit dieser Technik der Fixierung von Details im Strom des Geschehens und im systematischen Vorbeischauen an den Hauptereignissen der Geschichte den Kern der Dinge. Und führt die großen existenziellen Themen wieder auf individuelle Herausforderungen des Alltags zurück. Die Suche nach Sinn im Bewusstsein des sicheren Endes gerinnt so zur absurden Randfrage: Wozu die Feilerei? Liegt die Antwort in der Vergangenheit? Der Geschichte Österreichs, der Entwicklung der Familien Sterk und Erlach oder dem Lebenslauf Philipps. Der Roman versucht eine Bestandsaufnahme.

    Am Anfang steht das Ende. Österreich 2001. Die Ereignisse rund um den Terroranschlag am 11. September in New York stehen nicht im Mittelpunkt. Der Blick geht vorbei. Der aktuellste Erzählstrang und rote Faden des Romans erstreckt sich von April bis Juni. Zwei Monate, in denen der 36-Jährige erfolg- und orientierungslose Schriftsteller Philipp der Renovierung der von Großmutter Alma Sterk geerbten, völlig heruntergekommenen Familienvilla zusieht. Freundin Johanna hat die Sanierung veranlasst.

    Die zweite Rahmenhandlung spielt 1982 und 1989 - zuletzt wieder knapp vor einem großen historischen Moment: die deutsche Wiedervereinigung. Alma Sterk ist mit dem Jahrhundert alt geworden. Sie erzählt sich über den körperlichen und geistigen Verfall ihres Manns Richard ins eigene Vergessen. Und stirbt im Schmerz über den Tod der Kinder vereinsamt. Ihr Sohn Otto wird schon als Kind Opfer des Krieges. Tochter Ingrid stirbt 1974 beim Schwimmen in der Donau, der Lebensader Österreichs.

    Schnitt. Zeitsprung. Rückblende. Zurück zum Anfang. August 1938 - Wenige Monate nach Österreichs Anschluss und vor Kriegsbeginn. Die scheinbar intakte gutbürgerliche Familienidylle der Sterks in ihrer Hietzinger Villa wird nur durch zwei Details getrübt: die Affäre Richards mit Kindermädchen Frieda und ein Prozess wegen im familieneigenen Textilgeschäft verschossener Wäsche. Ursache: die Pflichtvergessenheit eines Wächters und Nazisympathisanten.

    1945. Weißer Sonntag - wenige Tage vor Kriegsende. Peter Erlach wird - zynischerweise am Tag der Erstkommunion - als Hitlerjunge im Kampf gegen die in Wien einmarschierenden russischen und amerikanischen Panzer verwundet. Er flieht auf ein Donauschiff und in die Erinnerung: an seine krebskranke Mutter, die Schwestern und den Nazi-Vater.

    12. Mai 1955 - drei Tage vor Unterzeichung des Staatsvertrages. Ingrids Vater Dr. Richard Sterk ist an den Verhandlungen beteiligt. Der vielbeschäftigte Minister zeigt nicht das geringste Verständnis für die schwärmerische Liebe der Studentin zum wirtschaftlich erfolglosen Träumer Peter.

    1962. Wirtschaftlicher Aufschwung. Es scheint, "Es geht uns gut". Aber weder Richards politische noch private Träume sind in Erfüllung gegangen. Er soll sein Amt niederlegen. Alma und er haben sich entfremdet. Und die gestörte Beziehung zur von ihm rausgeworfenen Tochter Ingrid und ihrer jungen Familie lässt sich nicht reparieren.

    Die siebziger Jahre. Der Silvestertag ist für Ingrid Anlass, ihre unglückliche Ehe mit Peter zu resümieren. Der Spezialist für Verkehrssicherheit und Erfinder des erfolglosen Spiels "Wer kennt Österreich?" lässt sie - offenbar unberührt von den gesellschaftlichen Umbrüchen der 68er Bewegung - mit ihrer Dreifachbelastung als Ärztin, Hausfrau und Mutter vollständig allein.

    Schnitt. Überblendung auf das Jahr 1978. Auch vier Jahre nach Ingrids Tod haben weder Peter noch Sissi und Philipp den Verlust der Mutter verkraftet. Eine letzte gemeinsame Urlaubsreise lässt alle unaufgearbeiteten Probleme zutage treten - auch den Generationen übergreifenden Vater-Tochter-Konflikt.

    Fotos, Bilder, Momentaufnahmen. Aus Details entwickeln sich Geschichten. Eine dieser Geschichten handelt von der Vergangenheit Österreichs. Parallelen und Wiederholungen bilden Muster. Wie das Muster der kollektiven Verdrängung. Ein österreichisches Paradigma. In der Spiegelbildlichkeit von Privatexistenz und historischem Prozess wird es von Arno Geiger in seinem Roman vorgeführt. Zum Beispiel in Almas vergeblichem Versuch, den symptomatisch an Gedächtnisverlust leidenden greisen Richard an die spezifisch österreichische Zeitrechnung zu erinnern. Historische Zäsuren werden in der Geschichte der alpenländischen Republik einfach ignoriert:

    "Ich glaube, in den fünfziger Jahren hast du die Zeit wiedergefunden, in die du hineingeboren wurdest, die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, kein entscheidender Unterschied zwischen dem greisen Renner und dem greisen Franz Joseph, und auch sonst traten nur alte Männer auf den Plan (...), die die fünfziger Jahre gemacht haben. Für die Jungen war kein Platz, Richard, das hat dir gefallen, (...) du warst dabei, wie die alten Männer losgelegt und an ihrem besseren Österreich herumgebastelt haben. Vergangenheit, nur als Beispiel, war für die jungen Leute ein irreführender Begriff, denn plötzlich hatten wir eine eigene Zeitrechnung (...), was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart. Ist es dir nicht auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert? (...) das hat den fünfziger Jahren den Weg geebnet, das hat Österreich zu dem gemacht, was es ist, nur erinnert sich niemand mehr daran oder nur sehr schwach."

    Ein Detail: Richards vollständig verrottete Prothese aus den Fünfzigern. Die Geschichte: Der senile Minister a.D. will das Staatsvertrags-Gebiss auch nach dreißig Jahren nicht ablegen. Das Muster: Die durchgängige Verweigerung der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Und zwar auf nationaler wie individueller Ebene und quer durch alle Generationen.

    Richard hatte sich dem politisch brisanten Prozess schon damals nicht gestellt und sich aus dem Familiengeschäft zurückgezogen. Ohne zu sympathisieren, überwinterte er den folgenden Krieg, hat sich eben einfach ein paar Jahre geduckt. Auch Schwiegersohn Peter entzieht sich der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Familien-Vergangenheit. Und Enkel Philipp verweigert sich schließlich total seinem familiären Erbe, indem er - wieder ein bedeutsames Detail - auf der Vortreppe des von der Großmutter hinterlassenen Hauses sitzenbleibt.

    Und die Frauen? Sie sind vor allem Betroffene. Leidtragende ihrer in jeder Hinsicht unbefriedigenden, entscheidungsunfähigen und ignoranten Männer. Und Opfer ihrer aus konservativen patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen ererbten Rollenzwänge. Sie halten die Familien zusammen, sie stiften Identität, sie hinterfragen die Vergangenheit. Und sie begreifen die österreichische Heimat- und Familienidylle als kollektive gesellschaftliche Lüge.

    Blumig untermalt durch kitschige Filmstreifen wie "Der Hofrat Geiger" - ein unfreiwillig entlarvender Heimatfilm und eines der Leitmotive des Romans. Der 1938 zwangspensionierte Hofrat spürt 1947 bei der "Placebo-Arbeit" in seiner Hietzinger Villa in veralteten Akten eine Jugendliebe auf. Ingrid, als 11-jährige Statistin in dem Streifen, begreift erst Jahrzehnte später die Tragweite des erfolgreichsten österreichischen Nachkriegsfilms:

    "Ingrid (...) faßt es nicht: Wie konnte sie diese Ungeheuerlichkeit dreiundzwanzig Jahre lang übersehen? (...) daß sich die sitzengelassene Frau mit dem unehelichen Kind durch die dreißiger Jahre und den Krieg schlägt, damit der Herr Hofrat nach achtzehn Jahren daherkommt und sich großzügig zum totalen Familenoberhaupt aufschwingt? Wenn Ingrid sich vergegenwärtigt, daß ihr die Schnulze, als (...) Mädchen (...) Inbegriff des höchsten Glücks inmitten der vertrauten Landschaft gewesen ist. Wenn sie bedenkt, wie sehr sie von (...) seinen Happy-End-Exzessen gerührt war, und ihre Freundinnen nicht weniger, in einem kollektiven Tagtraum, den der Film erzeugte oder aufgriff und verstärkte. (...) Wenn sie dies alles bedenkt - und zwar unter dem Aspekt ihres eigenen Lebens und ihrer jetzigen Situation -, müßte ihr eigentlich speiübel werden."

    Denn die Geschichte wiederholt sich. Die Familie Sterk-Erlach ist das beste Beispiel. Eine typisch österreichische Familiengeschichte. Rund um ein feudales Wiener Haus mit großem Garten, ein Kleinstkosmos, der - Hofrat Geiger lässt grüßen - Hietzinger Villa. Ein Detail: Die entlang der Gartenmauer verrottende Stuhlreihe. Ihre Geschichte: Großmutter Alma hatte sie aufgestellt. Zum Einfangen von ausschwärmenden Bienenstöcken. Enkel Philipp ergänzt auch nach Almas Tod die jetzt ihrer Funktion beraubten Stühle und versieht sie sogar mit Loch zum Regenabfluss.

    Und wieder bildet sich ein Muster: Hier wie dort werden Konventionen gepflegt, auch nachdem sie längst ihren Sinn verloren haben. Weitere Einzelheiten: die falsch gehende Pendeluhr oder die nach dem Krieg nie mehr von den Krampen gegen Kriegsplünderer befreiten Möbel. Und wieder spiegelt sich das Politische im Privaten. Ganz wie bei Joseph Roths "Radetzkymarsch", auf den Geiger nicht nur im fiktiven Kaiser-Dialog anspielt.

    Dieser österreichische Schlüsselroman stellt den allmählichen Zerfall des Habsburgerreiches am Schicksal und Niedergang der Familie Trotta - Mitläufern und Randfiguren im Sog des historischen Geschehens - dar. Geiger überträgt Roths Schreibprinzip auf die jüngste, ebenso wechselvolle Geschichte Österreichs. Auch hier: bewahrende Kontinuität im unaufhörlichen Verfall. Der gesellschaftliche Befund findet in der Familiengeschichte der Sterks und Erlachs seine Entsprechung.

    Alle machen weiter, auch wenn sie, zunehmend orientierungslos, innerhalb ihrer Familie vereinsamen. Alle, so die hellsichtige Alma, "treiben aneinander vorbei, einer sieht nicht den Schmerz des anderen." Das einzig Verbindende: die eher zufällige gemeinsame Geschichte. Notdürftig aufrechterhalten durch die äußere Form. Ihr Symbol: die Hietzinger Villa. Statt Gemeinsamkeiten dominieren Wiederholungen. Nur das Sterben durchbricht die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Ganz am Ende steht der Tod von Großmutter Alma. Zum Schluss lebt sie allein im leeren, von Geschichten erfüllten Haus ohne Leben, macht zuletzt im geliebten Bienenhaus Kehraus und lässt die Villa verkommen:

    "Das war nicht mein Tag, der sollte bald kommen. Gleichzeitig nimmt sie ohne Bitterkeit zur Kenntnis, wie unsinnig ihr Wunsch ist, weil dieser Tag nicht kommen kann, sie wüßte nicht wie und womit. So starrt sie erwartungslos in sich hinein, (...) mit einem Gefühl, als ob der Raum um sie herum schaukelte, fern von ihr. Windböen (...) Regen (...) ein dumpfes Grollen (...) veranlaßt sie dazu aufzustehen (...) und (...) in den Garten zu blicken, auf das Bienenhaus und auf die Bäume (...). Es ist kein Lichtschimmer dort oben. Alma denkt, hoffentlich gibt es nicht wie beim letzten starken Regen kleine Bäche in der Veranda (...). Sie hatte drei Sachverständige im Haus, und keiner wußte eine wirkliche Lösung ohne einen Umbau im großen Stil. Aber für wen? Für mich? Für mich lohnt es sich nicht (...). Und der dritte Sachverständige (...) riet ihr, am besten nichts anzurühren, solange es nicht wirklich ganz arg werde (...). Seither befürchtet Alma, daß es eines Tages wirklich ganz arg werden wird. Ansonsten, das ist ihre Meinung, soll das Haus ausdienen, mehr wird nicht verlangt."

    Etwas ist zu Ende. Almas Tod wird von Geiger nicht zufällig einen Monat vor Öffnung der Berliner Mauer datiert. Als sie an diesem Tag das Dachbodenfenster öffnet, zerspringt ein Fensterglas. Erst jetzt können die Tauben auch die letzten Erinnerungen des Familienarchivs unter ihrem Kot begraben. Aber vielleicht beginnt damit doch etwas Neues? Es gibt ja noch Hauserben Philipp. Und die dritte Erzählebene: den Bildungsroman.

    Ein Detail: Der von Tauben völlig verwüstete Dachboden. Die folgende Geschichte: Da Philipp sich auf der Vortreppe einrichtet und dem Ausräumen des Speichers verweigert, schickt Freundin Johanna ihm die ukrainischen Arbeiter Atamanov und Steinwald.

    Und wieder bildet sich ein Muster: Zu weit fortgeschritten ist das Vergessen der nicht wiederherstellbaren Erinnerung im unaufhörlichen Verrinnen der Zeit. Die Beseitigung der Reste erledigen andere. Was also bleibt danach noch für Philipp zu tun? Sechsunddreißig Jahre, ledig, erfolgloser Schriftsteller, wie Enkel von Trotta aussichtslos in eine verheiratete Frau verliebt? Er fühlt sich außerstande, als Familien-Chronist die "Dokumentation einer untergegangenen Kultur" zu leisten. Denn dann müsste er vielleicht sein künstlerisches Scheitern an der Realität eingestehen.

    Weil ihm wie seinem geistigen Doppelgänger, "Der Grüne Heinrich" (Almas hellsichtige Lektüre) vermutlich das Talent fehlt, das "Gewöhnliche und jedem Naheliegende darzustellen, ohne jedoch gewöhnlich und platt oder langweilig zu sein." Selbst zum Leben reicht kaum der Mut. Eigentlich möchte er dort bleiben, wo er ist: auf der Vortreppe. Das ist sein Platz. Auch wenn er sich in einem lichten Moment als, so Philipp "alleiniger Besitzer des Wetters, der Liebe, des polnischen Grafen, aller Tauben auf dem Dach und einer großen Einsamkeit" über den "trostlosen Ehrgeiz der Faktentreue" erhaben fühlt. Aber Johanna weiß es besser: Für einen Schritt in die Zukunft muss man zuerst in die eigene Vergangenheit blicken.

    "Johanna, die Wettersammlerin, der Wetterfrosch (...) sagt: Je geistreicher du zu sein versuchst, Philipp, desto mehr rennst du vor dir selbst davon. (...) Du läßt dich mit Vorliebe auf Dinge ein, die harmlos sind und ungefährlich - auf all das, was sich nicht lohnt. Auf all das, was außerhalb deiner Selbst liegt. (..) Und weiter: Alles, was du machst, ist ein Versuch, Kontrolle zu bewahren. Deine Passivität ist eine strategische Passivität, die dich vor der Gefahr bewahren soll, dich Dingen auszusetzen, die nicht angenehm sind. Dein Vater hat sich die Aufgabe zum Beruf gemacht, die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen zu minimieren, und du versuchst dasselbe in deinem Privatleben. Du glaubst, du kannst den Katastrophen ausweichen oder wenigstens deine Probleme vereinfachen, indem du dich sowenig wie möglich bewegst. Deine Strategie ist es, drei Meter neben der Straße zu stehen, um den Preis, daß das Leben an dir vorbeigeht. Es ist alles nur, damit die Katastrophe ausbleibt."

    Aber die Einsicht "Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen" lässt den gleichgültigen Enkel zuletzt doch noch aktiv werden. Anlässlich einer Nebensächlichkeit erwacht er aus seiner Apathie. Nein, der Marillenbaum mit dem Putzbesen an den Zweigen soll der Renovierung nicht zum Opfer fallen. Denn der ursprünglich als Aststütze am mittlerweile gewachsenen Obstbaum hängende Besen erinnert an die seitdem vergangene Zeit. An Philipps Geschichte. An seine Familie. Und an die Österreichs.

    Vielleicht entsteht nun doch ein neues Muster? Es ist der Sommer vor dem 11. September. Jene, von Potocki utopisch phrophezeite globale Konfrontation von Christentum und Islam. Immerhin: In einem ansatzlosen Anfall von Aktivismus erklimmt Philipp wagemutig den erneuerten Dachstuhl. Und: entschließt sich, auf den Spuren des Enkels von Trotta mit Atamanov und Steinwald in die Ukraine zu reisen. Nicht, ohne sich vorher augenzwinkernd von den Lesern zu verabschieden.

    Als der große Angeber, der, so Philipp, "alles erfindet: das Wetter, die Liebe, die Tauben auf dem Dach, seine Großeltern, Eltern und seine Kindheit". Rittlings auf dem Dachfirst seines Großelternhauses sitzend, macht er sich auf, als Baron von Münchhausen in die Welt hinauszureiten. In eine neue Zukunft: fort von Österreich, seiner Familie und seinem eigenen Scheitern. Er weiß, auch wenn ihn die Vergangenheit verfolgt: Diesmal wird er schneller sein.

    Je länger man in Arno Geigers Roman liest, desto näher rücken die Figuren. Auch und gerade durch Geigers Vorliebe für betont handlungsarme Passagen und sein systematisches Vorbeischauen an Großereignissen. Langsam, Seite um Seite, entwickelt Geiger sein Figurenensemble und füllt ihre Welt mit dem behutsamen Aufladen unscheinbarer Details. Diese epische Aufwertung von Handlungspausen und Nebensachen wirkt nach. Mit "Es geht uns gut" ist Arno Geiger ein poetischer und wirklichkeitsnaher Roman über das gelungen, was unser Leben eigentlich ausmacht: die Details, Nebenschauplätze und Handlungspausen.

    Eben all jene "Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen." Im Unterschied zu Geigers vorangegangenen Prosastücken erscheinen hier komplizierte Romanstruktur, Handlungsführung und Figurenzeichnung nicht konstruiert. Geiger bearbeitet die oberflächliche Ereignislosigkeit mit der sanften Ausdauer einer zurückgenommenen und eindringlichen Sprache und ohne die für ihn typische Verspieltheit. Vorsichtig und so lange, bis die freigelegten Bedeutungen zu schillern und die Figuren, ganz allmählich, wie von selbst zu leben beginnen.