Bücher haben ein Vorne und Hinten, ein Anfang und ein Ende, und wer sie gegen den Strich bürstet, erhält nicht nur bei Krimis aufschlussreiche Vorabinformationen. Mit einer Danksagung endet Wolfgang Schivelbuschs jüngster kulturhistorischer Streich "Entfernte Verwandtschaft", gewissermaßen mit einem Kratzfuß vor mäzenatischen Geldgebern, doch diese Höflichkeitsgeste ist nicht zweckfrei, im Gegenteil: Sie entlastet einen Unbeteiligten:
" Das diesem Buch zugrunde liegende Forschungsprojekt verdankt sich der finanziellen Unterstützung der Volkswagenstiftung. Die inhaltliche Verantwortung liegt selbstverständlich allein beim Autor. " (Seite 223)
Selbstverständlich - doch wenn das so selbstverständlich wäre, müsste man es nicht gesondert betonen. Wer dem Mainstream politischer Publizistik folgt, zeitgeschichtliche Tabus respektiert und die Rollenverteilung von Schurken und Helden im 20. Jahrhundert nicht auf den Kopf stellt, gefährdet auch den Ruf seines Mäzen nicht. Anders wäre es nur bei einem Umdeutungsversuch der jüngeren Geschichte, weswegen sich Wolfgang Schivelbusch mit seiner nachgetragenen Generalabsolution gut beraten zeigt, zündelt er doch an vertrauten Geschichtsbildern der Deutschen. Allerdings weiß er, dass er zündelt; so schickt er erst einmal einen fremden Brandstifter vor:
" Verwegen (...) erschien im Jahre 1973 der Versuch, die Reformpolitik und bestimmte politische Techniken des amerikanischen Präsidenten Roosevelt mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen. Die Vergleichspunkte, die John A. Garraty, ein Außenseiter sowohl der Historiographie des New Deal wie des Nationalsozialismus, anführte, waren gewichtig genug, um entweder einen zünftigen Skandal oder eine grundsätzliche Debatte auszulösen. Ähnlichkeiten zwischen dem New Deal und dem frühen "Dritten Reich" sah er in der von einem charismatischen Führer personalisierten starken Exekutive; in der Ideologie von Nation, Volk und Boden; im wirtschaftlichen und sozialen Dirigismus; schließlich in der neuen Qualität (und Quantität) der staatlichen Propaganda. (...) Dass der in der führenden amerikanischen Historikerzeitschrift veröffentlichte Artikel weder zum Skandal noch zur Grundsatzdebatte führte und bis heute kaum Folgetäter ermunterte, ist angesichts des Themas eine verwunderliche Nichttatsache und einer der Gründe für das Entstehen dieses Buches. "Es scheint kühn und an Verrat grenzend, zumindest aber schlechter Geschmack, Nazideutschland und die USA miteinander zu vergleichen." Mit dieser rhetorischen Demutsgeste suchte Garraty etwaigen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit Erfolg, wie man sieht. Die wenigen Historiker, die sich seitdem aufs Vergleichen einzelner Aspekte des New Deal mit solchen des Faschismus und Nationalsozialismus eingelassen haben, fahren fort, ihrem Publikum zu versichern, sie meinten damit durchaus nicht die Gleichstellung des Verglichenen. Diesem an sich überflüssigen Ritual, das nicht gerade von großem Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Lesers zeugt (denn welcher seriöse historische Vergleich setzte je das Verglichene gleich?) schließt sich das vorliegende Buch zur Vermeidung unnötiger Missverständnisse an. " (Seite 15-16)
Ein Außenseiter der historischen Forschung ist Wolfgang Schivelbusch auch; doch einer, der sich mit seiner assoziativen Essayistik, seinem schrägen Geschichtsblick und dem Mut zu unkonventionellen Interpretationen Meriten beim Publikum erworben hat. Vor vier Jahren wirkte seine "Kultur der Niederlage" - ein Vergleich der militärischen Desaster Frankreichs 1870/71, Deutschlands 1918 und der amerikanischen Südstaaten 1865 - wie ein maßgefertigter Kommentar zu den Terroranschlägen des 11. Septembers, doch natürlich war das ein Zufall. Kein Zufall hingegen scheint, dass Wolfgang Schivelbusch im jüngsten Werk zeitgleich zur Furore machenden Versorgungsstaats-Demontage in Götz Alys "Hitlers Volksstaat" an einem Mythos sägt, den gerade die Deutschen als leuchtendes Vorbild für die "Zähmung des Kapitalismus" betrachten. Wenn es überhaupt Volkshelden unter den amerikanischen Präsidenten des 20. Jahrhunderts gibt, dann sind das John F. Kennedy und Franklin D. Roosevelt, die Lichtgestalten aus dem Weißen Haus. Roosevelts "New Deal" wird hierzulande in etwa so romantisch verklärt wie der - nie eingelöste - Slogan "Mehr Demokratie wagen" von Willy Brandt, auch wenn der New Deal nachgerade Entgegengesetztes bedeutete, nämlich den Rückbau von Freiheitsrechten. Allerdings zugunsten jener kleinen Leute, deren Versorgungsängste ihre Freiheitsbestrebungen zweitrangig erscheinen ließen:
" New Deal ist die Bezeichnung für den unter Roosevelt in Gang gesetzten Reformschub der Jahre 1933-39. Er begann mit Notmaßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise (Arbeitsbeschaffungsprogramme, staatliche Kontrolle der Industrieproduktion, Subventionen für die Landwirtschaft) und mündete ein in den Umbau des laisser-faire-liberalen Nachtwächterstaats zum interventionistischen Wohlfahrtsstaat. " (Seite 15)
So beschreibt Wolfgang Schivelbusch zu Anfang seines Buches eines von drei "Familienmitgliedern", die laut Titel in "entfernter Verwandtschaft" zueinander stehen. Den beiden anderen - dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus - gewährt er keine derart prägnante Charakterisierung, was der allgemeinen Übung folgt, Gutes knapp zu definieren, das Böse hingegen in aller Differenziertheit darzustellen. Doch dem zweiten Teil der Übung folgt Schivelbusch nicht; er setzt - angesichts der Dritten-Reich-Hausse der letzten Jahre durchaus nachvollziehbar - beim Leser ein differenziertes Bild des Naziregimes voraus. Besitzt es der Leser freilich nicht, wirkt die fragmentarische Überlieferung bei Schivelbusch so, als habe der Autor schon beim Schreiben gewusst, dass zum Erscheinungstermin seines Buch die Begriffsprägung "Wohlfühldiktatur" von Götz Aly in aller Munde sei. Repressionen, gewiss, Konzentrationslager, Judenvernichtung ... aber doch auch viel von der anderen, verführerischen Seite der Diktatur:
" Die Ideologie der Volksgemeinschaft, so entdeckte eine neue Historikergeneration, fand Anklang, weil sie Brot und Spiele nicht nur versprach, sondern auch lieferte. In dieser neuen Perspektive erscheint das "Dritte Reich" weniger als Gefängnis denn als große Freizeitanlage, errichtet von der Organisation "Kraft durch Freude" und zusammengehalten u.a. durch die Autobahn. " (Seite 158)
Diese Lesart der deutschen Katastrophe lässt sich leichter in Bezug zu fremden politischen Systemen setzen als ein von vornherein unvergleichbarer Dämonenstaat. Dennoch bleibt ein moralischer Höhenunterschied gewärtig: Entweder der Nationalsozialismus war viel besser, als wir immer dachten, oder der New Deal schlechter als sein Ruf; sonst passen beide kaum zusammen auf die Waage. Da sich ersteres angesichts der Faktenlage nicht behaupten lässt, muss der New Deal ein paar Stockwerke hinab in den Orkus fahren, um sich dort zu den schwarzen Schafen der Faschismus-Familie zu gesellen. Wie das? Nun, ein simpler Perspektivwechsel macht's möglich - weg von der historiographischen Rückschau, hin zur Bewertung durch Zeitgenossen. Unverdächtige amerikanische Zeugen aus den 30er-Jahren klangen etwa so:
"Zwar haben wir bis jetzt noch keine Armee von Schwarzhemden und keinen Diktator, dennoch führt der Weg zwangsläufig in den Faschismus ... Dieser wird, um die demokratischen Gefühle des amerikanischen Volkes nicht zu verletzen, im Gewand der Demokratie auftreten. Aber wenn er einmal da ist, wird er sich von den Regimes in Italien und Deutschland nicht grundsätzlich unterscheiden." (Mauritz Hallgren)
"Die Wirtschaftspolitik des New Deal ähnelt dem Korporativismus Mussolinis und Hitlers Totalitarismus zum Verwechseln." (Norman Thomas)
"Zweifellos hat Roosevelt die präsidiale Macht zu einer potentiell diktatorischen erweitert, so dass ein künftiger Präsident - oder er selber - leicht den Weg in den Faschismus oder Staatssozialismus einschlagen könnte." (Oswald Garrison Villard)
" (Seite 32)
Doch auch die sich in ihrer Ideologie bestohlen wähnenden Deutschen und Italiener blickten ungläubig nach Amerika, wo sich vor ihren Augen das Bild vom Raubtier-Kapitalismus dramatisch zu wandeln schien. In der typischen Schivelbusch-Diktion:
" Psychologisch befanden sich der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus in der Lage eines nicht ganz standesgemäßen Wirtshauses, in dem unvermutet ein reicher Herr absteigt. Ist Freude und Stolz angesagt? Oder Mitleid und Verachtung für den, der offensichtlich sein Vermögen verloren und keine andere Wahl der Unterkunft hat? Beide Reaktionen folgten im deutschen und italienischen Diskurs aufeinander. Im ersten Jahr des New Deal herrschte die Befriedigung vor, sich vom mächtigsten Land der Welt bestätigt zu sehen. " (Seite 31)
Geschichtliche Prozesse von ihrer Entstehung und nicht ihrem Ende her zu betrachten, ist gleichermaßen aufregend wie riskant. Aufregend, weil noch alle Optionen des "Was wäre wenn" vorhanden sind, mithin der umfassende Entwicklungskeim einer historischen Situation aufspürbar bleibt, und nicht nur der eine daraus entsprungene Trieb zur Analyse auffordert; riskant, weil dieses Verfahren genau jenen Trieb relativiert, der dann doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit entstand. In "Entfernte Verwandtschaft" betreibt Wolfgang Schivelbusch in diesem Sinne Geschichtsschreibung als ergebnisoffene Belletristik. Man kann das trotz der reichhaltigen und verblüffenden Belege als hanebüchen empfinden; man kann sich aber auch darauf einlassen und das kühne Projekt auf seine Stellung im zeitgenössischen politischen Diskurs hin befragen. Eine dritte Umgangsform bleibt ebenfalls möglich: sich die Rosinen herauszupicken. Der Bücherwurm Schivelbusch fördert manch vergessenen Gedanken zutage, etwa das rechte Gegenstück zur salonlinken britischen "Fabian Society" um George Bernard Shaw und H.G. Wells:
" Die Bezeichnung "Fabian Fascism" prägte der Philosoph (...) William Pepperell Montague 1934 auf dem Internationalen Philosophiekongress in Prag für den - von ihm unterstützten - New Deal, oder vielmehr für eine von ihm vorgeschlagene Weiterentwicklung bestimmter Maßnahmen des New Deal. (...) Sein Vorschlag: die Bildung einer Dual-Wirtschaft, bestehend aus "faschistischem Kommunismus und demokratischem Kapitalismus" (...). Während die Bürgerrechte für die im kapitalistischen Wirtschaftsprozess Tätigen unverändert erhalten blieben, sollten die Arbeitslosen in Kommunen ("Schutz-Enklaven in der Welt der freien Konkurrenz") zusammengefasst werden, die ihrerseits ein geschlossenes Wirtschaftssystem bildeten und nicht liberal-demokratisch, sondern diktatorisch-technokratisch organisiert waren. Montagues pragmatistisches Rezept lautete: "Kapitalismus für diejenigen, die es sich leisten können, ergänzt durch Kommunismus für den bedürftigen Rest." Die Wahl zwischen den beiden Welten sollte anders als im real existierenden Faschismus dem einzelnen freistehen - von der Selbstverpflichtung für ein bis drei Jahre Kommunendiktatur bis zur Option, "das System nach Belieben zu verlassen". " (Seite 41)
Für solche Fundstücke ist Schivelbusch immer gut, und sie fügen sich trefflich in sein historisch-literarisches Mosaik aus sechs etwa gleich langen, doch kausal nur über wenige Brücken miteinander verbundenen Essays; als siebter Essay lässt sich der fast 50 Seiten umfassende Anmerkungsapparat betrachten, in dem sich die Gedanken fortspinnen. Wie von diesem Autor gewohnt, der einst dem Wort "Kulturgeschichte" eine aufregend neue Tiefe im Sinne einer über nackte Beschreibungen hinausgehenden Mentalitätserforschung verlieh, zäumt er das Thema von ganz unterschiedlichen Seiten auf. Die methodischen Erwägungen zum Vergleichen bedienen sich Beispielen aus der Architektur, die strukturelle Verwandtschaft zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal wird versuchsweise soziologisch begründet, die Gegenüberstellung von Roosevelt und Hitler als Charismatiker greift dagegen auf psychologische Erklärungsmuster zurück, während die Raumordnungs- und Neubaupolitik der drei Staaten sich wieder dem Felde der Architektur annähert. Insgesamt lassen sich für die "entfernte Verwandtschaft" im Buch zwei durchgängige Thesen finden, wobei der italienische Faschismus immer nur als Bindeglied zwischen den eigentlichen Kontrahenten New Deal und Nationalsozialismus fungiert; Mussolinis gemäßigte Form des totalitären Regimes soll vor allem die Schroffheit des Vergleichs abzumildern. These Nummer eins ist nachvollziehbar und schwer zu widerlegen: Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise hatte sich der Laisser-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts endgültig diskreditiert und führte sogar im Kernland der freien Marktwirtschaft zu einem radikalen Umdenken. Die in den USA und Europa gleichzeitig gefundenen Antworten einer krass staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik mussten sich in etwa so gleichen, wie in der Evolutionsbiologie identische Umweltbedingungen an getrennten Orten zu homologen Organentwicklungen führen. These Nummer zwei ist ungewohnter: Auch der New Deal sei - wie Faschismus und Nationalsozialismus - in direkter Linie auf Erfahrungen des 1. Weltkriegs zurückzuführen, der in den USA freilich nur ein Jahr andauerte:
" Bis in den inneren Führungskreis des New Deal strahlte die Aura der Weltkriegsmobilisierung aus. Man kann von einer Art Klassentreffen der Veteranen der Kriegswirtschaftsbürokratie der Jahre 1917-18 sprechen, oder aus der Sicht der Beteiligten vom Versuch, ein Stück Geschichte, welches seinerzeit enttäuschend geendet war, mit befriedigenderem Ausgang zu wiederholen. Tugwells Bekenntnis, die Kriegswirtschaft sei für ihn eine Art Sozialismus und ihre Beendigung der Abbruch eines großen Experiments gewesen, galt für einen großen Teil dieser Generation und hatte seine Entsprechung in der ähnlich nostalgischen Aufbruchstimmung des frühen Faschismus und Nationalsozialismus. Journalisten, die beides erlebt hatten, erinnerte die Volksstimmung in den ersten Tagen des New Deal an die der Tage des Marsches auf Rom und der deutschen Märzwahlen 1933. Ohne dieses Wiedergängertum und die Vorstellung einer second chance versteht man die Mentalität, die Rhetorik und die Symbolik des New Deal so wenig, wie man den Faschismus und den Nationalsozialismus ohne das Fronterlebnis verstehen kann. " (Seite 46)
In dieser Interpretation spielt die Weltwirtschaftskrise nur noch die Rolle eines innig herbeigesehnten Auslösemoments, um die kapitalistischen Magnaten von ihren Thronen zu stürzen. Dabei wagt sich Schivelbusch sehr weit vor:
" Abweichend von der üblichen Chronologie des Totalitarismus im 20. Jahrhundert, die den Beginn mit dem bolschewistischen Coup im Oktober 1917 datiert, könnte man mit Robert Nisbeth versucht sein, die Weltpremiere der totalitären Diktatur ins Frühjahr 1917 und in die USA zu verlegen, ja vielleicht sogar Lenin neu zu sehen als den aufmerksamen Schüler Wilsons. Der Bellizismus und Militarismus der Progressivisten war im Übrigen von ähnlicher Widersprüchlichkeit wie der Kriegsenthusiasmus der Mussolini-Fraktion der italienischen Sozialisten 1915. Wie diese ihre Bereitschaft zum Weltkrieg damit erklärte, er werde geradewegs zur Weltrevolution führen, so sahen die amerikanischen Progressivisten im Kriegseintritt die große Chance, als Technokraten die Führung im Staat zu übernehmen und so, mit einem großen Sprung, das zu verwirklichen, was in langen Friedensjahren von den privaten Magnaten der Wirtschaft immer wieder verhindert worden war: die gründliche Erneuerung von Wirtschaft, Gesellschaft, Nation." (Seite 50)
Hier ist der Leser seinerseits zur Mentalitätsforschung aufgerufen, diesmal freilich auf den Autor angewandt. "Entfernte Verwandtschaft" offeriert über 200 Seiten mannigfaltige neue Bewertungen zur Zeitgeschichte, mit denen sich der Leser identifizieren kann oder auch nicht - eine einheitliche Linie lässt sich jedoch kaum erkennen. Bei Themen der reinen Kulturgeschichte, die nur auf geistigen Genuss aus sind, mag das anregend sein, doch bezogen auf den hierzulande identitätsstiftenden Sozialstaat erweist sich solches Lavieren als unbefriedigend, ja feige. Wo steht Wolfgang Schivelbusch? Nimmt man die Titelmetapher wörtlich, so wie der Autor gerne Metaphern als Tatsachen ausdeutet, stellt sich weniger die Frage nach dem Ausmaß der Verwandtschaft, sondern warum man sich plötzlich für die dahergelaufene Sippschaft aus dem dritten Glied interessiert? So betrachtet, eröffnet Schivelbusch mit seinem Buch, was er den analysierten Staaten selbst vorwirft, nämlich eine "Symbolbaustelle". Sie schickt den Leser auf Um- und Abwege, an deren Ziel plötzlich die Diskreditierung des Sozialstaatsgedankens steht. Ähnlich wie Götz Aly erfolgt sie durch den Verweis auf die Nähe zum totalitären Denken rein symbolisch. Will Schivelbusch das wirklich oder ist es nur ein Kollateralschaden? Für letztere Auslegung lassen sich Hinweise finden. Man muss bei diesem Buch nämlich wirklich den Schluss vor dem Anfang lesen, um seine Tendenz zu begreifen. Im Epilog lässt Schivelbusch einen amerikanischen Kritiker des New Deal, rückblickend aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs, zu Wort kommen:
" Flynns Prophezeiung 1944 lautete: Der vom New Deal eingeschlagene Weg des Dirigismus erfordere ein immer höheres Staatsdefizit. Das gehe gut, solange damit die Massen zufrieden gestellt würden und der Schuldenberg keine kritische Masse erreiche. Beide Voraussetzungen aber, so Flynn, bedurften der Krise bzw. des Krieges in Permanenz. (...) Entscheidend war nur die eine Voraussetzung: "Was wir brauchen, sind Feinde, denn die werden für uns zu einer ökonomischen Notwendigkeit." (Seite 169 - 170)
Das sind die allerletzten Worte des Buches, und sie zielen nicht auf Franklin D. Roosevelt, sondern auf George W. Bush. Seit den Tagen des New Deal hat sich das Staatsdefizit der Amerikaner nie mehr erholt, und den Preis für eine derart luxurierende Interventionspolitik bezahlt - nach Flynn und Schivelbusch - die immer wieder in Kriege gestürzte Weltgemeinschaft. Dieses für altgewordene Achtundsechziger typische Ideologie-Amalgam erlaubt es, Sozialstaatskritik und Antiamerikanismus zusammenzudenken, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verraten. So findet man bei Wolfgang Schivelbusch auch die Quelle für ein schon in den Hochzeiten der Nachrüstungsdebatte Anfang der 80er-Jahre kursierendes Bonmot, demzufolge die USA nur deswegen nie faschistisch geworden seien, weil alle Kräfte, die vom Faschismus profitierten, sich im bestehenden System ausreichend repräsentiert sähen. Es stammt von Leon Samson aus dem Jahr 1934:
" Die amerikanische Demokratie ist doppelt faschismus-resistent. Einmal, weil sie sich formell als antifaschistisch versteht, und dann, weil sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, bereits wesentliche Elemente des Faschismus enthält. Diese immunisieren sie gegen die spezifisch europäische Form des Faschismus. " (Seite 39-40)
Bleibt also zu fragen: Hat sich Wolfgang Schivelbusch in steile Thesen verliebt und schließlich im Dickicht seiner Auslegungen verrannt? Ja - was sich nicht zuletzt in der für diesen Autor wenig typischen, umständlichen Sprache vieler Absätze zeigt. Wer ihm dennoch auf seinen Irrwegen folgt, kann sich immerhin die Taschen voll mit seltsamen Fundstücken stecken. Nicht die vom Autor beabsichtigte, aber doch eine nützliche Lektüreausbeute.
" Das diesem Buch zugrunde liegende Forschungsprojekt verdankt sich der finanziellen Unterstützung der Volkswagenstiftung. Die inhaltliche Verantwortung liegt selbstverständlich allein beim Autor. " (Seite 223)
Selbstverständlich - doch wenn das so selbstverständlich wäre, müsste man es nicht gesondert betonen. Wer dem Mainstream politischer Publizistik folgt, zeitgeschichtliche Tabus respektiert und die Rollenverteilung von Schurken und Helden im 20. Jahrhundert nicht auf den Kopf stellt, gefährdet auch den Ruf seines Mäzen nicht. Anders wäre es nur bei einem Umdeutungsversuch der jüngeren Geschichte, weswegen sich Wolfgang Schivelbusch mit seiner nachgetragenen Generalabsolution gut beraten zeigt, zündelt er doch an vertrauten Geschichtsbildern der Deutschen. Allerdings weiß er, dass er zündelt; so schickt er erst einmal einen fremden Brandstifter vor:
" Verwegen (...) erschien im Jahre 1973 der Versuch, die Reformpolitik und bestimmte politische Techniken des amerikanischen Präsidenten Roosevelt mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen. Die Vergleichspunkte, die John A. Garraty, ein Außenseiter sowohl der Historiographie des New Deal wie des Nationalsozialismus, anführte, waren gewichtig genug, um entweder einen zünftigen Skandal oder eine grundsätzliche Debatte auszulösen. Ähnlichkeiten zwischen dem New Deal und dem frühen "Dritten Reich" sah er in der von einem charismatischen Führer personalisierten starken Exekutive; in der Ideologie von Nation, Volk und Boden; im wirtschaftlichen und sozialen Dirigismus; schließlich in der neuen Qualität (und Quantität) der staatlichen Propaganda. (...) Dass der in der führenden amerikanischen Historikerzeitschrift veröffentlichte Artikel weder zum Skandal noch zur Grundsatzdebatte führte und bis heute kaum Folgetäter ermunterte, ist angesichts des Themas eine verwunderliche Nichttatsache und einer der Gründe für das Entstehen dieses Buches. "Es scheint kühn und an Verrat grenzend, zumindest aber schlechter Geschmack, Nazideutschland und die USA miteinander zu vergleichen." Mit dieser rhetorischen Demutsgeste suchte Garraty etwaigen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit Erfolg, wie man sieht. Die wenigen Historiker, die sich seitdem aufs Vergleichen einzelner Aspekte des New Deal mit solchen des Faschismus und Nationalsozialismus eingelassen haben, fahren fort, ihrem Publikum zu versichern, sie meinten damit durchaus nicht die Gleichstellung des Verglichenen. Diesem an sich überflüssigen Ritual, das nicht gerade von großem Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Lesers zeugt (denn welcher seriöse historische Vergleich setzte je das Verglichene gleich?) schließt sich das vorliegende Buch zur Vermeidung unnötiger Missverständnisse an. " (Seite 15-16)
Ein Außenseiter der historischen Forschung ist Wolfgang Schivelbusch auch; doch einer, der sich mit seiner assoziativen Essayistik, seinem schrägen Geschichtsblick und dem Mut zu unkonventionellen Interpretationen Meriten beim Publikum erworben hat. Vor vier Jahren wirkte seine "Kultur der Niederlage" - ein Vergleich der militärischen Desaster Frankreichs 1870/71, Deutschlands 1918 und der amerikanischen Südstaaten 1865 - wie ein maßgefertigter Kommentar zu den Terroranschlägen des 11. Septembers, doch natürlich war das ein Zufall. Kein Zufall hingegen scheint, dass Wolfgang Schivelbusch im jüngsten Werk zeitgleich zur Furore machenden Versorgungsstaats-Demontage in Götz Alys "Hitlers Volksstaat" an einem Mythos sägt, den gerade die Deutschen als leuchtendes Vorbild für die "Zähmung des Kapitalismus" betrachten. Wenn es überhaupt Volkshelden unter den amerikanischen Präsidenten des 20. Jahrhunderts gibt, dann sind das John F. Kennedy und Franklin D. Roosevelt, die Lichtgestalten aus dem Weißen Haus. Roosevelts "New Deal" wird hierzulande in etwa so romantisch verklärt wie der - nie eingelöste - Slogan "Mehr Demokratie wagen" von Willy Brandt, auch wenn der New Deal nachgerade Entgegengesetztes bedeutete, nämlich den Rückbau von Freiheitsrechten. Allerdings zugunsten jener kleinen Leute, deren Versorgungsängste ihre Freiheitsbestrebungen zweitrangig erscheinen ließen:
" New Deal ist die Bezeichnung für den unter Roosevelt in Gang gesetzten Reformschub der Jahre 1933-39. Er begann mit Notmaßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise (Arbeitsbeschaffungsprogramme, staatliche Kontrolle der Industrieproduktion, Subventionen für die Landwirtschaft) und mündete ein in den Umbau des laisser-faire-liberalen Nachtwächterstaats zum interventionistischen Wohlfahrtsstaat. " (Seite 15)
So beschreibt Wolfgang Schivelbusch zu Anfang seines Buches eines von drei "Familienmitgliedern", die laut Titel in "entfernter Verwandtschaft" zueinander stehen. Den beiden anderen - dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus - gewährt er keine derart prägnante Charakterisierung, was der allgemeinen Übung folgt, Gutes knapp zu definieren, das Böse hingegen in aller Differenziertheit darzustellen. Doch dem zweiten Teil der Übung folgt Schivelbusch nicht; er setzt - angesichts der Dritten-Reich-Hausse der letzten Jahre durchaus nachvollziehbar - beim Leser ein differenziertes Bild des Naziregimes voraus. Besitzt es der Leser freilich nicht, wirkt die fragmentarische Überlieferung bei Schivelbusch so, als habe der Autor schon beim Schreiben gewusst, dass zum Erscheinungstermin seines Buch die Begriffsprägung "Wohlfühldiktatur" von Götz Aly in aller Munde sei. Repressionen, gewiss, Konzentrationslager, Judenvernichtung ... aber doch auch viel von der anderen, verführerischen Seite der Diktatur:
" Die Ideologie der Volksgemeinschaft, so entdeckte eine neue Historikergeneration, fand Anklang, weil sie Brot und Spiele nicht nur versprach, sondern auch lieferte. In dieser neuen Perspektive erscheint das "Dritte Reich" weniger als Gefängnis denn als große Freizeitanlage, errichtet von der Organisation "Kraft durch Freude" und zusammengehalten u.a. durch die Autobahn. " (Seite 158)
Diese Lesart der deutschen Katastrophe lässt sich leichter in Bezug zu fremden politischen Systemen setzen als ein von vornherein unvergleichbarer Dämonenstaat. Dennoch bleibt ein moralischer Höhenunterschied gewärtig: Entweder der Nationalsozialismus war viel besser, als wir immer dachten, oder der New Deal schlechter als sein Ruf; sonst passen beide kaum zusammen auf die Waage. Da sich ersteres angesichts der Faktenlage nicht behaupten lässt, muss der New Deal ein paar Stockwerke hinab in den Orkus fahren, um sich dort zu den schwarzen Schafen der Faschismus-Familie zu gesellen. Wie das? Nun, ein simpler Perspektivwechsel macht's möglich - weg von der historiographischen Rückschau, hin zur Bewertung durch Zeitgenossen. Unverdächtige amerikanische Zeugen aus den 30er-Jahren klangen etwa so:
"Zwar haben wir bis jetzt noch keine Armee von Schwarzhemden und keinen Diktator, dennoch führt der Weg zwangsläufig in den Faschismus ... Dieser wird, um die demokratischen Gefühle des amerikanischen Volkes nicht zu verletzen, im Gewand der Demokratie auftreten. Aber wenn er einmal da ist, wird er sich von den Regimes in Italien und Deutschland nicht grundsätzlich unterscheiden." (Mauritz Hallgren)
"Die Wirtschaftspolitik des New Deal ähnelt dem Korporativismus Mussolinis und Hitlers Totalitarismus zum Verwechseln." (Norman Thomas)
"Zweifellos hat Roosevelt die präsidiale Macht zu einer potentiell diktatorischen erweitert, so dass ein künftiger Präsident - oder er selber - leicht den Weg in den Faschismus oder Staatssozialismus einschlagen könnte." (Oswald Garrison Villard)
" (Seite 32)
Doch auch die sich in ihrer Ideologie bestohlen wähnenden Deutschen und Italiener blickten ungläubig nach Amerika, wo sich vor ihren Augen das Bild vom Raubtier-Kapitalismus dramatisch zu wandeln schien. In der typischen Schivelbusch-Diktion:
" Psychologisch befanden sich der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus in der Lage eines nicht ganz standesgemäßen Wirtshauses, in dem unvermutet ein reicher Herr absteigt. Ist Freude und Stolz angesagt? Oder Mitleid und Verachtung für den, der offensichtlich sein Vermögen verloren und keine andere Wahl der Unterkunft hat? Beide Reaktionen folgten im deutschen und italienischen Diskurs aufeinander. Im ersten Jahr des New Deal herrschte die Befriedigung vor, sich vom mächtigsten Land der Welt bestätigt zu sehen. " (Seite 31)
Geschichtliche Prozesse von ihrer Entstehung und nicht ihrem Ende her zu betrachten, ist gleichermaßen aufregend wie riskant. Aufregend, weil noch alle Optionen des "Was wäre wenn" vorhanden sind, mithin der umfassende Entwicklungskeim einer historischen Situation aufspürbar bleibt, und nicht nur der eine daraus entsprungene Trieb zur Analyse auffordert; riskant, weil dieses Verfahren genau jenen Trieb relativiert, der dann doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit entstand. In "Entfernte Verwandtschaft" betreibt Wolfgang Schivelbusch in diesem Sinne Geschichtsschreibung als ergebnisoffene Belletristik. Man kann das trotz der reichhaltigen und verblüffenden Belege als hanebüchen empfinden; man kann sich aber auch darauf einlassen und das kühne Projekt auf seine Stellung im zeitgenössischen politischen Diskurs hin befragen. Eine dritte Umgangsform bleibt ebenfalls möglich: sich die Rosinen herauszupicken. Der Bücherwurm Schivelbusch fördert manch vergessenen Gedanken zutage, etwa das rechte Gegenstück zur salonlinken britischen "Fabian Society" um George Bernard Shaw und H.G. Wells:
" Die Bezeichnung "Fabian Fascism" prägte der Philosoph (...) William Pepperell Montague 1934 auf dem Internationalen Philosophiekongress in Prag für den - von ihm unterstützten - New Deal, oder vielmehr für eine von ihm vorgeschlagene Weiterentwicklung bestimmter Maßnahmen des New Deal. (...) Sein Vorschlag: die Bildung einer Dual-Wirtschaft, bestehend aus "faschistischem Kommunismus und demokratischem Kapitalismus" (...). Während die Bürgerrechte für die im kapitalistischen Wirtschaftsprozess Tätigen unverändert erhalten blieben, sollten die Arbeitslosen in Kommunen ("Schutz-Enklaven in der Welt der freien Konkurrenz") zusammengefasst werden, die ihrerseits ein geschlossenes Wirtschaftssystem bildeten und nicht liberal-demokratisch, sondern diktatorisch-technokratisch organisiert waren. Montagues pragmatistisches Rezept lautete: "Kapitalismus für diejenigen, die es sich leisten können, ergänzt durch Kommunismus für den bedürftigen Rest." Die Wahl zwischen den beiden Welten sollte anders als im real existierenden Faschismus dem einzelnen freistehen - von der Selbstverpflichtung für ein bis drei Jahre Kommunendiktatur bis zur Option, "das System nach Belieben zu verlassen". " (Seite 41)
Für solche Fundstücke ist Schivelbusch immer gut, und sie fügen sich trefflich in sein historisch-literarisches Mosaik aus sechs etwa gleich langen, doch kausal nur über wenige Brücken miteinander verbundenen Essays; als siebter Essay lässt sich der fast 50 Seiten umfassende Anmerkungsapparat betrachten, in dem sich die Gedanken fortspinnen. Wie von diesem Autor gewohnt, der einst dem Wort "Kulturgeschichte" eine aufregend neue Tiefe im Sinne einer über nackte Beschreibungen hinausgehenden Mentalitätserforschung verlieh, zäumt er das Thema von ganz unterschiedlichen Seiten auf. Die methodischen Erwägungen zum Vergleichen bedienen sich Beispielen aus der Architektur, die strukturelle Verwandtschaft zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal wird versuchsweise soziologisch begründet, die Gegenüberstellung von Roosevelt und Hitler als Charismatiker greift dagegen auf psychologische Erklärungsmuster zurück, während die Raumordnungs- und Neubaupolitik der drei Staaten sich wieder dem Felde der Architektur annähert. Insgesamt lassen sich für die "entfernte Verwandtschaft" im Buch zwei durchgängige Thesen finden, wobei der italienische Faschismus immer nur als Bindeglied zwischen den eigentlichen Kontrahenten New Deal und Nationalsozialismus fungiert; Mussolinis gemäßigte Form des totalitären Regimes soll vor allem die Schroffheit des Vergleichs abzumildern. These Nummer eins ist nachvollziehbar und schwer zu widerlegen: Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise hatte sich der Laisser-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts endgültig diskreditiert und führte sogar im Kernland der freien Marktwirtschaft zu einem radikalen Umdenken. Die in den USA und Europa gleichzeitig gefundenen Antworten einer krass staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik mussten sich in etwa so gleichen, wie in der Evolutionsbiologie identische Umweltbedingungen an getrennten Orten zu homologen Organentwicklungen führen. These Nummer zwei ist ungewohnter: Auch der New Deal sei - wie Faschismus und Nationalsozialismus - in direkter Linie auf Erfahrungen des 1. Weltkriegs zurückzuführen, der in den USA freilich nur ein Jahr andauerte:
" Bis in den inneren Führungskreis des New Deal strahlte die Aura der Weltkriegsmobilisierung aus. Man kann von einer Art Klassentreffen der Veteranen der Kriegswirtschaftsbürokratie der Jahre 1917-18 sprechen, oder aus der Sicht der Beteiligten vom Versuch, ein Stück Geschichte, welches seinerzeit enttäuschend geendet war, mit befriedigenderem Ausgang zu wiederholen. Tugwells Bekenntnis, die Kriegswirtschaft sei für ihn eine Art Sozialismus und ihre Beendigung der Abbruch eines großen Experiments gewesen, galt für einen großen Teil dieser Generation und hatte seine Entsprechung in der ähnlich nostalgischen Aufbruchstimmung des frühen Faschismus und Nationalsozialismus. Journalisten, die beides erlebt hatten, erinnerte die Volksstimmung in den ersten Tagen des New Deal an die der Tage des Marsches auf Rom und der deutschen Märzwahlen 1933. Ohne dieses Wiedergängertum und die Vorstellung einer second chance versteht man die Mentalität, die Rhetorik und die Symbolik des New Deal so wenig, wie man den Faschismus und den Nationalsozialismus ohne das Fronterlebnis verstehen kann. " (Seite 46)
In dieser Interpretation spielt die Weltwirtschaftskrise nur noch die Rolle eines innig herbeigesehnten Auslösemoments, um die kapitalistischen Magnaten von ihren Thronen zu stürzen. Dabei wagt sich Schivelbusch sehr weit vor:
" Abweichend von der üblichen Chronologie des Totalitarismus im 20. Jahrhundert, die den Beginn mit dem bolschewistischen Coup im Oktober 1917 datiert, könnte man mit Robert Nisbeth versucht sein, die Weltpremiere der totalitären Diktatur ins Frühjahr 1917 und in die USA zu verlegen, ja vielleicht sogar Lenin neu zu sehen als den aufmerksamen Schüler Wilsons. Der Bellizismus und Militarismus der Progressivisten war im Übrigen von ähnlicher Widersprüchlichkeit wie der Kriegsenthusiasmus der Mussolini-Fraktion der italienischen Sozialisten 1915. Wie diese ihre Bereitschaft zum Weltkrieg damit erklärte, er werde geradewegs zur Weltrevolution führen, so sahen die amerikanischen Progressivisten im Kriegseintritt die große Chance, als Technokraten die Führung im Staat zu übernehmen und so, mit einem großen Sprung, das zu verwirklichen, was in langen Friedensjahren von den privaten Magnaten der Wirtschaft immer wieder verhindert worden war: die gründliche Erneuerung von Wirtschaft, Gesellschaft, Nation." (Seite 50)
Hier ist der Leser seinerseits zur Mentalitätsforschung aufgerufen, diesmal freilich auf den Autor angewandt. "Entfernte Verwandtschaft" offeriert über 200 Seiten mannigfaltige neue Bewertungen zur Zeitgeschichte, mit denen sich der Leser identifizieren kann oder auch nicht - eine einheitliche Linie lässt sich jedoch kaum erkennen. Bei Themen der reinen Kulturgeschichte, die nur auf geistigen Genuss aus sind, mag das anregend sein, doch bezogen auf den hierzulande identitätsstiftenden Sozialstaat erweist sich solches Lavieren als unbefriedigend, ja feige. Wo steht Wolfgang Schivelbusch? Nimmt man die Titelmetapher wörtlich, so wie der Autor gerne Metaphern als Tatsachen ausdeutet, stellt sich weniger die Frage nach dem Ausmaß der Verwandtschaft, sondern warum man sich plötzlich für die dahergelaufene Sippschaft aus dem dritten Glied interessiert? So betrachtet, eröffnet Schivelbusch mit seinem Buch, was er den analysierten Staaten selbst vorwirft, nämlich eine "Symbolbaustelle". Sie schickt den Leser auf Um- und Abwege, an deren Ziel plötzlich die Diskreditierung des Sozialstaatsgedankens steht. Ähnlich wie Götz Aly erfolgt sie durch den Verweis auf die Nähe zum totalitären Denken rein symbolisch. Will Schivelbusch das wirklich oder ist es nur ein Kollateralschaden? Für letztere Auslegung lassen sich Hinweise finden. Man muss bei diesem Buch nämlich wirklich den Schluss vor dem Anfang lesen, um seine Tendenz zu begreifen. Im Epilog lässt Schivelbusch einen amerikanischen Kritiker des New Deal, rückblickend aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs, zu Wort kommen:
" Flynns Prophezeiung 1944 lautete: Der vom New Deal eingeschlagene Weg des Dirigismus erfordere ein immer höheres Staatsdefizit. Das gehe gut, solange damit die Massen zufrieden gestellt würden und der Schuldenberg keine kritische Masse erreiche. Beide Voraussetzungen aber, so Flynn, bedurften der Krise bzw. des Krieges in Permanenz. (...) Entscheidend war nur die eine Voraussetzung: "Was wir brauchen, sind Feinde, denn die werden für uns zu einer ökonomischen Notwendigkeit." (Seite 169 - 170)
Das sind die allerletzten Worte des Buches, und sie zielen nicht auf Franklin D. Roosevelt, sondern auf George W. Bush. Seit den Tagen des New Deal hat sich das Staatsdefizit der Amerikaner nie mehr erholt, und den Preis für eine derart luxurierende Interventionspolitik bezahlt - nach Flynn und Schivelbusch - die immer wieder in Kriege gestürzte Weltgemeinschaft. Dieses für altgewordene Achtundsechziger typische Ideologie-Amalgam erlaubt es, Sozialstaatskritik und Antiamerikanismus zusammenzudenken, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verraten. So findet man bei Wolfgang Schivelbusch auch die Quelle für ein schon in den Hochzeiten der Nachrüstungsdebatte Anfang der 80er-Jahre kursierendes Bonmot, demzufolge die USA nur deswegen nie faschistisch geworden seien, weil alle Kräfte, die vom Faschismus profitierten, sich im bestehenden System ausreichend repräsentiert sähen. Es stammt von Leon Samson aus dem Jahr 1934:
" Die amerikanische Demokratie ist doppelt faschismus-resistent. Einmal, weil sie sich formell als antifaschistisch versteht, und dann, weil sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, bereits wesentliche Elemente des Faschismus enthält. Diese immunisieren sie gegen die spezifisch europäische Form des Faschismus. " (Seite 39-40)
Bleibt also zu fragen: Hat sich Wolfgang Schivelbusch in steile Thesen verliebt und schließlich im Dickicht seiner Auslegungen verrannt? Ja - was sich nicht zuletzt in der für diesen Autor wenig typischen, umständlichen Sprache vieler Absätze zeigt. Wer ihm dennoch auf seinen Irrwegen folgt, kann sich immerhin die Taschen voll mit seltsamen Fundstücken stecken. Nicht die vom Autor beabsichtigte, aber doch eine nützliche Lektüreausbeute.