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Nicholas Evans
Plädoyer für den Erhalt aussterbender Sprachen

Einer der größten Schätze der Welt ist die Vielfalt der in ihr gesprochenen Sprachen, denn sie enthalten die Grundlagen des Weltverständnisses. So sieht es der Linguist Nicholas Evans. In seinem neuen Buch zeigt er anhand von Beispielen, warum die Bewahrung auch vieler kleiner Sprachen so wichtig ist.

Von Andrea Gnam |
    Eine Frau hält den Zeigefinger vor den Mund.
    Die intellektuelle Vielfalt der derzeit noch gesprochenen 6.000 Sprachen ist groß. (picture-alliance / dpa / Klaus Rose)
    "Rücke den westlichen Topf etwas weiter in den Süden", so könnte eine ganz normale Handlungsanweisung auf Kayardild, einer kleinen, von 150 Sprechern gesprochenen Sprache im australischen Queensland lauten. Wer im Kontext von Richtungsbestimmungen wie oben, unten, links, rechts aufgewachsen ist, der wird Schwierigkeiten haben, sich im Alltag dieser Sprachgemeinschaft zurechtzufinden. In der freien Natur indes, kann das über das Sprechen ständig aktualisierte und damit sofort abrufbare Wissen darüber, wo man sich genau befindet, von großem Vorteil sein.
    Wie groß die intellektuelle Vielfalt der derzeit noch gesprochenen 6.000 Sprachen sein kann, ist Gegenstand von Nicholas Evans bemerkenswertem Buch, das trotz der komplizierten Materie sehr gut zu lesen ist und das - eigens mit Bezug auf deutsche Sprachgewohnheiten - auch aufwendig übersetzt wurde. Die Sprachen der Welt, von denen vorsichtigen Schätzungen zufolge alle zwei Wochen eine stirbt, bilden einen lange Zeit vernachlässigten Kulturschatz. Komplexe Vorstellungswelten werden über Sprache transportiert und sie geben darüber hinaus auch Einblick in ökologisches Wissen einer Region, kosmologische Ordnungen und Wanderungsbewegungen früher Kulturen. Das kann sich so grundlegend vom gewohnten - durch die eigene Sprache geprägten - Denken unterscheiden, dass es kaum möglich ist, so etwas wie "Universalien" zu bestimmen, die jede Sprache enthält. Wer sich daran versucht, so Evans, dessen Datenmenge sei einfach zu klein, früher oder später werde sich eine, bis dato noch nicht berücksichtigte, indigene Sprache finden, die sich anders verhält als alle bisher bekannten Sprachen. Indes gibt es doch ein allen Sprachen gemeinsames Interesse: "Ein Kernbestandteil der Bedeutung, den keine Sprache außer Acht lassen kann, ist, wer wem was antut", schreibt Evans.
    Imperien begünstigen das Aussterben von Sprachen
    Sprachgemeinschaften können von Natur aus sehr klein sein, oder aber sich durch Anpassung an eine dominante Sprache mehr und mehr dezimieren. In Uruguay, Kuba, auf Haiti und den karibischen Inseln sind zugunsten des Spanischen alle indigenen Sprachen bereits verstummt. Große Imperien begünstigen das Aussterben von Sprachen, so sorgte beispielsweise das Latein für den Niedergang anderer antiker Sprachen. Den Römern, die sich sonst durchaus für Kultur und Religion der unterworfenen Völker interessierten, ging jegliches Verständnis für kleinere Sprachgemeinschaften ab. Dies änderte sich erst mit den christlichen Missionierungsaktivitäten, wie sie in großem Stil im 15. Jahrhundert entwickelt wurden: Man versuchte zeitweilig, die indigene Bevölkerung auch in ihrer eigenen Sprache zu christianisieren und erstellte zu diesem Zweck erste Wörterbücher und Grammatiken. Wie weit die grammatikalischen Ansprüche an einen Sprecher auseinander gehen können, zeigen einige Beispiele, die Evans nennt.
    Am Kayardild etwa hätten ein Geisteswissenschaftler oder eine Juristin ihre besondere Freude, da hier vom Sprecher sofort die Quellenangabe eingefordert wird: "Manche Sprachen bestehen (...) auf einem feineren Spektrum der Offenlegung, woher man etwas weiß, und zwar für alle Aussagen. Man muss etwas dazu sagen, ob man etwas aus eigener Erfahrung weiß, weil man jemanden dabei beobachtet hat, weil man es über andere Sinne erfahren hat, weil man davon gehört hat, weil man es sich erschlossen hat oder was auch immer, und typischerweise wird dies mit grammatikalischen Mitteln am Verb ausgedrückt." Solche "Beweisoffenlegungs-" oder "Evidentialitätssysteme" finden sich in indigenen Sprachen vieler Regionen, so in der Türkei, im Kaukasus und im Großteil Amerikas.
    Einzigartiges Erkenntnisspektrum
    Nicht nur Formen zuverlässiger Berichterstattung, auch Wissen über Pflanzen und ihren Anbau können über Sprache transportiert werden. Im Fall des in Mexiko beheimateten Seri geschieht dies über Wortfelder. Erst durch die Erforschung der von 500 Sprechern gesprochenen Sprache, wisse man, dass das Seegras, eine im Salzwasser vorkommende Getreideart, essbar ist. Bezeichnungen von Monaten und Tieren enthalten Informationen zum Anbau: So ist der April der "Mond der Seegrasernte", eine Ringelgans, die Seegras frisst, zeigt in ihrem Namen den Beginn der Erntezeit an: "Der Wahrsager des Seegrassamens". Das bis dato nur den Seri bekannte Getreide könnte weltweit zu einer wichtigen Nahrungsquelle werden, so ein Ethnobotaniker. Aufschlussreich sind neben solchem, über die Wörter selbst vermittelten Wissen, das indigene Sprachen enthalten können, auch die enormen Gedächtnisleistungen, zu denen begabte Sprecher und Barden, die nicht alphabetisiert sind, in der Lage sind. Der amerikanische Forscher Milman Parry traf in Montenegro Ende der 1930er-Jahre auf einen Barden, der als Analphabet 16.000 Verse beherrschte. Solche Forschungen werfen dann auch ein ganz neues Licht auf die Bedingungen mündlicher Überlieferung in schriftlosen Kulturen. Für Parry lieferten sie den gesuchten Beweis für die Möglichkeit, dass die Homer zugeordneten Epen auch mündlich entstanden und auf diesem Weg auch überliefert worden sein konnten bis zu ihrer späteren Niederschrift im Griechischen. Das Erkenntnisspektrum, das sich in der Beschäftigung mit indigenen Sprachen eröffnet, ist immens und ein einzigartiges, in weiten Feldern noch ungeschöpftes Kulturgut. Nicholas Evans' Buch ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die zeitlich gerade noch mögliche Erforschung der vielen, vom Aussterben bedrohen kleinen Sprachen, die der Unterstützung bedürfen.
    Nicholas Evans: Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren.
    Übersetzt von Robert Mailhammer. C.H. Beck Verlag 2014, 29,95 Euro