Die authentische Frau.
Ihr Lieblingswort war Authentizität. Die Dinge mussten authentisch sein, die Dinge selbst, das, was man von ihnen sagte, und darüber hinaus die Art, wie man es sagte. Sie fand, dass Laiendarsteller im Film wie auf der Bühne besser seien, weil sie authentisch wären. Das bringen Schauspieler nicht, sagte sie. Laien seien von dem, was sie spielten, betroffen und vermittelten diese Betroffenheit auch dem Zuschauer. Bei Schauspielern sei alles Handwerk und künstlich.
Wenn so eine Erzählung beginnt, dann kann man erwarten, dass sie selbst nur künstlich ist. Denn was ist der Schriftsteller anderes als ein Profi der Literatur? Mithin kein Laie! Was ist Schriftstellerei anderes als ein Handwerk? Eine Kunst. Schon im allerersten Absatz macht Gert Loschütz seinen Lesern also klar, dass hier nichts und niemandem zu trauen ist. Und genau davon handelt auch die erste Geschichte.
Seit sie von dem Mann, der ihr Vater hätte sein können, verlassen worden war, hatten ihre Hektik und die Angst, am Leben vorbeizugehen, noch zugenommen. Was wäre, wenn das Leben woanders stattfände, an anderen Orten, überall geschah etwas, und wer wußte, ob das, was man vom Leben gerade mitbekam, das wirkliche Leben war? Saßen sie in den bekannten Kneipen, in denen man sich traf, wenn man dazugehörte, irrte ihr Blick durch den Raum, immer auf der Suche nach neuem Erleben. Bekannte, die eintraten, wurden an den Tisch gewinkt und gefragt, was sie in den Tagen, in denen sie einander nicht gesehen hatten, getan und erlebt hätten, ob es Neuigkeiten gäbe, die es sich zu merken oder weiterzuerzählen lohne. Wenn sich nichts ereignet hatte, keine Neuigkeiten kamen, huschte ein resigniertes, aber auch zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht; sie nickte, als kenne sie, was berichtet wurde, schon und wandte sich, an der Zigarette ziehend, ab, stieß zwischen zwei unaufmerksamen Blicken auf den noch Berichtenden den Rauch durch die Nasenlöcher und klapperte mit dem Autoschlüssel, der neben dem Weinglas lag, während ihre Augen schon wieder den Raum abzusuchen begannen, nach neuen Informanten, die jederzeit durch die Tür treten konnten. Vielleicht brachten die mit, wonach sie verlangte: Neuigkeiten, Abwechslung, Leben. Das hier konnte es nicht sein.
Eine junge, 34-jährige Frau ist von ihrem viel älteren Mann verlassen worden. Wegen einer noch Jüngeren. Jetzt sind Ängste bei ihr aufgebrochen, von denen sie bislang annahm, dass sie nur latent seien. Jahrelang war sie im Haus geblieben, hatte hinter geschlossenen Vorhängen gelebt, jetzt, da sie sich in eine Therapie begeben hat, seien ihr alle diese Ängste nun vertraut. Sie könne mit ihnen umgehen. Sie fühle sich "authentischer", wie sie sagt. Doch stimmt das alles? Ist nicht vielmehr das Gegenteil der Fall? Ist sie nicht noch ängstlicher geworden? Wie man an ihrem Verhalten erkennen kann? Von einer Ausrede flüchtet sie zur nächsten und die vermeintliche "Echtheit" gerät ihr mehr und mehr zur Pose. Authentisch oder autistisch, so lautet hier die Frage! Und diese Frage bleibt offen. Die Antwort, die der Geschichte einen eindeutigen Sinn geben könnte, bleibt aus.
Gerd Loschütz, 61-jähriger Autor aus Sachsen mit Wahlheimat Berlin, hat viele solcher schwer faßbaren Figuren für seinen neuen Erzählungsband "Das erleuchtete Fenster" versammelt. Es sind Menschen jeden Alters, Kinder wie Greise, die das Schicksal in einen Moment stellt, der ihnen unheimlich ist. Ungeheuer. Unwirklich. Gerd Loschütz:
"Ich glaube, dass es die bei jedem gibt, nicht nur bei Autoren. Auch Nicht-Autoren oder auch andere Autoren als mich fasziniert dieses Unheimliche. Aber klar gibt es das. Die dunkle Seite des Menschen, das ist etwas, worüber man lange erzählen kann."
Und Gerd Loschütz erzählt lange davon. Und gekonnt. Seine 18 Erzählungen sind in drei Abschnitte unterteilt. Die Geschichten sind zwischen drei und zwanzig Seiten lang, meist sind es um die zehn Seiten, die erste Abteilung spielt ausschließlich in der Enge von Dörfern. Ein Mangel an Platz, eine "Enge des Herzens", wie es an einer Stelle heißt. In einem solchen Dorf lebt die junge Frau der Eingangserzählung:
Da sie jahrelang aus Furcht, in einer Ansammlung von Menschen, auf der Straße, im Kaufhaus, überhaupt auf öffentlichen Plätzen, ohnmächtig zu werden oder hilflos, mit fliegendem Puls und schweißkalten Händen den neugierigen, mitleidigen Blicken der um sie versammelten, auf den mit eingeschalteter Sirene heranbrausenden Notarztwagen wartenden Menge ausgeliefert zu sein, kaum aus dem Haus gegangen war, sondern in ihrem Zimmer, das im Dämmerlicht der heruntergelassenen Rouleaus Schutz bot, zurückgezogen gelebt hatte, empfand sie den jetzigen Zustand als Befreiung und glaubte mit der Gewißheit einer aus der größten Not Erlösten, dass auch die verbliebenen Ängste, die ihr gelegentlich wie um die Brust gelegte Schlingen den Atem wegschnürten, mit der Zeit von ihr abfallen würden.
Schließlich kann der Geliebte der jungen Frau, der Schauspieler, sie dazu überreden, einen Ausflug zu machen in ein Haus in der Nähe. Man ahnt, dass das nicht gut gehen kann, es endet mit dem Tod.
Gert Loschütz´ bislang bestes Buch wartet mit einer Reihe solcher unheimlicher Geschichten auf. Auch wenn die Entstehungszeit der Erzählungen weit auseinanderliegt, ist der Fokus auf das unheimliche Geschehen doch deutlich spürbar. Das liegt auch an der Arbeitsweise des Autors. Gert Loschütz:
"Ich beschäftige mich sehr lange mit Dingen. Die bleiben lange liegen. In den Notizbüchern oder in irgendwelchen Anfängen. Und dann geht es nicht weiter. Und dann nehme ich es wieder auf. Und wenn die Geschichte, die dahinter steckt, zwingend genug ist, dann wird das auch irgendwann zum Ende gebracht. Aber zwischen erster Idee und dem Aufschreiben der Geschichte können oft Jahre liegen."
Die zweite Geschichte kontrastiert die Sexualfantasien eines Pubertierenden mit dem schwachen Verstand einer Dienstmagd. Sie dürfte in den siebziger Jahren spielen, so wie alle Geschichten, die Gert Loschütz hier versammelt hat, nur ein diffuses "irgendwann" zum Handlungszeitpunkt haben. Sie können heute spielen, gestern, vor langer Zeit, selten findet sich eine genaue Zeitangabe. Eine der wenigen Konstanten in den Texten ist das Licht.
Obwohl sie sagte, dass ihr das Haus gefalle, ging ein Unbehagen von ihr aus, das den großen Raum klein machte. Mit einer hastigen Bewegung wischte sie sich über die Augen und setzte sich an den Tisch, ihm gegenüber. Es war Nachmittag. Wahrscheinlich, dachte er, während er den Tee eingoß, sehnt sie sich nach ihrem Zimmer, in dem das Tageslicht, stets gedämpft von den heruntergelassenen Rouleaus, gelbe Schatten wirft, nach dem großen weißbezogenen Bett, der Gelassenheit der Katze, die lautlos und sanft durch die Wohnung streift. Wie sie so dasaß und mit abwesendem Blick den Süßstoff aus der Tasche kramte, schien es ihm, dass sie auf etwas warte, von dem sie vergessen hatte, was es war. Aber auch ihm kam es plötzlich vor, als sei etwas verlorengegangen. Was hatte er sich davon versprochen, als er sie bat, mit ihm hierherzufahren?
Oder an einer anderen Stelle:
Es war immer hell, zu hell, wenn wir die Garage aufklinkten, das Auto hinausschoben. Der Himmel war leergefegt, eine dünne Sichel hing über den Hausdächern, die dennoch ein klares, die Gegenstände scharf gegeneinander abgrenzendes Licht warf, in dem uns jeder, der zufällig aus dem Fenster blickte, hätte erkennen können.
Gert Loschütz bestätigt mit diesem Buch, dass er der David Lynch der deutschen Literatur ist. Wie beim englischen Kultregisseur auch liegt alles offen dar, ist genauestens beschrieben, und bleibt doch ein Rätsel. Ob Garten, Interieur, ob Straßen oder Spielplätze, alles benennen Gert Loschütz´ Erzähler, die mal personal aus der Perspektive einer Figur, mal auktorial als Alleswisser, aber auch aus der Ich-Perspektive erzählen, beim Namen. Und doch - oder gerade deshalb - bleibt alles unklar. Alles wird eingeordnet und doch dadurch nur verschoben, verrätselt. Alles ist fein säuberlich und glasklar benannt, doch die genauen Schilderungen verdecken mehr als dass sie offenlegen. Und das hat Methode. Gert Loschütz:
"Ja, das ist etwas, das eigentlich eine Voraussetzung dafür ist, dass Dinge tatsächlich auch spannend sind. Man muss sehr genau sein in der Sprache, sehr genau in der Beschreibung sein. Nur dann kann man Spannung erzeugen und nur dann kann man unheimliche Spannung erzeugen. Die Sprache von Edgar Allen Poe ist von einer unglaublichen Klarheit und Sicherheit. Die von Kleist ist es genauso. Das sind ganz große Sprachkünstler. Kafka nicht vergessen. Beobachter mit einem großen Sprachvermögen. Mit einer großen Fähigkeit zur Genauigkeit. Nur so kann man überreden, überzeugen."
Alles liegt offen dar und ist doch nur ein Rätsel. Nichts und niemandem kann man in den Erzählungen von Gert Loschütz trauen. Am wenigsten den Erzählern selbst. Eine Schaufensterpuppe liegt nachts auf der Landstraße, es gibt viele Menschen mit Bewegungseinschränkungen oder Behinderungen, im Zoom auf einen Telefonhörer aus Plastik kann sich eine unerwartete Explosion andeuten. Alles spricht und es spricht voller Rätsel. Man liest diese 18 Erzählungen mit einer Mischung aus Argwohn, Ängstlichkeit und Not. Jederzeit kann ein Unglück geschehen, häufig passiert es auch (eine Vergewaltigung, ein Mord, ein Diebstahl), aber immer kommt es so schleichend daher, dass man den Moment des Geschehens verpasst. Darin liegt die große Kunst dieses Erzählers, der es schafft, seinen Leser bei allergrößter Klarheit im Dunklen zu belassen. Oder, um es einmal medizinisch zu sagen: Es ist, als habe Gert Loschütz seinen Figuren (oder seinen Geschichten) erst Valium verabreicht, sie dann mit einer hohen Dosis Amphetaminen voll gespritzt, um sich abschließend unter dem Mikroskop anzuschauen, wie sie sich aufbäumen und winden. Wie sie dies tun, das weiß Gert Loschütz sicherlich auch nicht. Aber dass sie es tun werden, darin liegt die Kunst dieses Autors.
Gert Loschütz´ Erzählungsband "Das erleuchtete Fenster" ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen und kostet Euro 19,90.
Ihr Lieblingswort war Authentizität. Die Dinge mussten authentisch sein, die Dinge selbst, das, was man von ihnen sagte, und darüber hinaus die Art, wie man es sagte. Sie fand, dass Laiendarsteller im Film wie auf der Bühne besser seien, weil sie authentisch wären. Das bringen Schauspieler nicht, sagte sie. Laien seien von dem, was sie spielten, betroffen und vermittelten diese Betroffenheit auch dem Zuschauer. Bei Schauspielern sei alles Handwerk und künstlich.
Wenn so eine Erzählung beginnt, dann kann man erwarten, dass sie selbst nur künstlich ist. Denn was ist der Schriftsteller anderes als ein Profi der Literatur? Mithin kein Laie! Was ist Schriftstellerei anderes als ein Handwerk? Eine Kunst. Schon im allerersten Absatz macht Gert Loschütz seinen Lesern also klar, dass hier nichts und niemandem zu trauen ist. Und genau davon handelt auch die erste Geschichte.
Seit sie von dem Mann, der ihr Vater hätte sein können, verlassen worden war, hatten ihre Hektik und die Angst, am Leben vorbeizugehen, noch zugenommen. Was wäre, wenn das Leben woanders stattfände, an anderen Orten, überall geschah etwas, und wer wußte, ob das, was man vom Leben gerade mitbekam, das wirkliche Leben war? Saßen sie in den bekannten Kneipen, in denen man sich traf, wenn man dazugehörte, irrte ihr Blick durch den Raum, immer auf der Suche nach neuem Erleben. Bekannte, die eintraten, wurden an den Tisch gewinkt und gefragt, was sie in den Tagen, in denen sie einander nicht gesehen hatten, getan und erlebt hätten, ob es Neuigkeiten gäbe, die es sich zu merken oder weiterzuerzählen lohne. Wenn sich nichts ereignet hatte, keine Neuigkeiten kamen, huschte ein resigniertes, aber auch zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht; sie nickte, als kenne sie, was berichtet wurde, schon und wandte sich, an der Zigarette ziehend, ab, stieß zwischen zwei unaufmerksamen Blicken auf den noch Berichtenden den Rauch durch die Nasenlöcher und klapperte mit dem Autoschlüssel, der neben dem Weinglas lag, während ihre Augen schon wieder den Raum abzusuchen begannen, nach neuen Informanten, die jederzeit durch die Tür treten konnten. Vielleicht brachten die mit, wonach sie verlangte: Neuigkeiten, Abwechslung, Leben. Das hier konnte es nicht sein.
Eine junge, 34-jährige Frau ist von ihrem viel älteren Mann verlassen worden. Wegen einer noch Jüngeren. Jetzt sind Ängste bei ihr aufgebrochen, von denen sie bislang annahm, dass sie nur latent seien. Jahrelang war sie im Haus geblieben, hatte hinter geschlossenen Vorhängen gelebt, jetzt, da sie sich in eine Therapie begeben hat, seien ihr alle diese Ängste nun vertraut. Sie könne mit ihnen umgehen. Sie fühle sich "authentischer", wie sie sagt. Doch stimmt das alles? Ist nicht vielmehr das Gegenteil der Fall? Ist sie nicht noch ängstlicher geworden? Wie man an ihrem Verhalten erkennen kann? Von einer Ausrede flüchtet sie zur nächsten und die vermeintliche "Echtheit" gerät ihr mehr und mehr zur Pose. Authentisch oder autistisch, so lautet hier die Frage! Und diese Frage bleibt offen. Die Antwort, die der Geschichte einen eindeutigen Sinn geben könnte, bleibt aus.
Gerd Loschütz, 61-jähriger Autor aus Sachsen mit Wahlheimat Berlin, hat viele solcher schwer faßbaren Figuren für seinen neuen Erzählungsband "Das erleuchtete Fenster" versammelt. Es sind Menschen jeden Alters, Kinder wie Greise, die das Schicksal in einen Moment stellt, der ihnen unheimlich ist. Ungeheuer. Unwirklich. Gerd Loschütz:
"Ich glaube, dass es die bei jedem gibt, nicht nur bei Autoren. Auch Nicht-Autoren oder auch andere Autoren als mich fasziniert dieses Unheimliche. Aber klar gibt es das. Die dunkle Seite des Menschen, das ist etwas, worüber man lange erzählen kann."
Und Gerd Loschütz erzählt lange davon. Und gekonnt. Seine 18 Erzählungen sind in drei Abschnitte unterteilt. Die Geschichten sind zwischen drei und zwanzig Seiten lang, meist sind es um die zehn Seiten, die erste Abteilung spielt ausschließlich in der Enge von Dörfern. Ein Mangel an Platz, eine "Enge des Herzens", wie es an einer Stelle heißt. In einem solchen Dorf lebt die junge Frau der Eingangserzählung:
Da sie jahrelang aus Furcht, in einer Ansammlung von Menschen, auf der Straße, im Kaufhaus, überhaupt auf öffentlichen Plätzen, ohnmächtig zu werden oder hilflos, mit fliegendem Puls und schweißkalten Händen den neugierigen, mitleidigen Blicken der um sie versammelten, auf den mit eingeschalteter Sirene heranbrausenden Notarztwagen wartenden Menge ausgeliefert zu sein, kaum aus dem Haus gegangen war, sondern in ihrem Zimmer, das im Dämmerlicht der heruntergelassenen Rouleaus Schutz bot, zurückgezogen gelebt hatte, empfand sie den jetzigen Zustand als Befreiung und glaubte mit der Gewißheit einer aus der größten Not Erlösten, dass auch die verbliebenen Ängste, die ihr gelegentlich wie um die Brust gelegte Schlingen den Atem wegschnürten, mit der Zeit von ihr abfallen würden.
Schließlich kann der Geliebte der jungen Frau, der Schauspieler, sie dazu überreden, einen Ausflug zu machen in ein Haus in der Nähe. Man ahnt, dass das nicht gut gehen kann, es endet mit dem Tod.
Gert Loschütz´ bislang bestes Buch wartet mit einer Reihe solcher unheimlicher Geschichten auf. Auch wenn die Entstehungszeit der Erzählungen weit auseinanderliegt, ist der Fokus auf das unheimliche Geschehen doch deutlich spürbar. Das liegt auch an der Arbeitsweise des Autors. Gert Loschütz:
"Ich beschäftige mich sehr lange mit Dingen. Die bleiben lange liegen. In den Notizbüchern oder in irgendwelchen Anfängen. Und dann geht es nicht weiter. Und dann nehme ich es wieder auf. Und wenn die Geschichte, die dahinter steckt, zwingend genug ist, dann wird das auch irgendwann zum Ende gebracht. Aber zwischen erster Idee und dem Aufschreiben der Geschichte können oft Jahre liegen."
Die zweite Geschichte kontrastiert die Sexualfantasien eines Pubertierenden mit dem schwachen Verstand einer Dienstmagd. Sie dürfte in den siebziger Jahren spielen, so wie alle Geschichten, die Gert Loschütz hier versammelt hat, nur ein diffuses "irgendwann" zum Handlungszeitpunkt haben. Sie können heute spielen, gestern, vor langer Zeit, selten findet sich eine genaue Zeitangabe. Eine der wenigen Konstanten in den Texten ist das Licht.
Obwohl sie sagte, dass ihr das Haus gefalle, ging ein Unbehagen von ihr aus, das den großen Raum klein machte. Mit einer hastigen Bewegung wischte sie sich über die Augen und setzte sich an den Tisch, ihm gegenüber. Es war Nachmittag. Wahrscheinlich, dachte er, während er den Tee eingoß, sehnt sie sich nach ihrem Zimmer, in dem das Tageslicht, stets gedämpft von den heruntergelassenen Rouleaus, gelbe Schatten wirft, nach dem großen weißbezogenen Bett, der Gelassenheit der Katze, die lautlos und sanft durch die Wohnung streift. Wie sie so dasaß und mit abwesendem Blick den Süßstoff aus der Tasche kramte, schien es ihm, dass sie auf etwas warte, von dem sie vergessen hatte, was es war. Aber auch ihm kam es plötzlich vor, als sei etwas verlorengegangen. Was hatte er sich davon versprochen, als er sie bat, mit ihm hierherzufahren?
Oder an einer anderen Stelle:
Es war immer hell, zu hell, wenn wir die Garage aufklinkten, das Auto hinausschoben. Der Himmel war leergefegt, eine dünne Sichel hing über den Hausdächern, die dennoch ein klares, die Gegenstände scharf gegeneinander abgrenzendes Licht warf, in dem uns jeder, der zufällig aus dem Fenster blickte, hätte erkennen können.
Gert Loschütz bestätigt mit diesem Buch, dass er der David Lynch der deutschen Literatur ist. Wie beim englischen Kultregisseur auch liegt alles offen dar, ist genauestens beschrieben, und bleibt doch ein Rätsel. Ob Garten, Interieur, ob Straßen oder Spielplätze, alles benennen Gert Loschütz´ Erzähler, die mal personal aus der Perspektive einer Figur, mal auktorial als Alleswisser, aber auch aus der Ich-Perspektive erzählen, beim Namen. Und doch - oder gerade deshalb - bleibt alles unklar. Alles wird eingeordnet und doch dadurch nur verschoben, verrätselt. Alles ist fein säuberlich und glasklar benannt, doch die genauen Schilderungen verdecken mehr als dass sie offenlegen. Und das hat Methode. Gert Loschütz:
"Ja, das ist etwas, das eigentlich eine Voraussetzung dafür ist, dass Dinge tatsächlich auch spannend sind. Man muss sehr genau sein in der Sprache, sehr genau in der Beschreibung sein. Nur dann kann man Spannung erzeugen und nur dann kann man unheimliche Spannung erzeugen. Die Sprache von Edgar Allen Poe ist von einer unglaublichen Klarheit und Sicherheit. Die von Kleist ist es genauso. Das sind ganz große Sprachkünstler. Kafka nicht vergessen. Beobachter mit einem großen Sprachvermögen. Mit einer großen Fähigkeit zur Genauigkeit. Nur so kann man überreden, überzeugen."
Alles liegt offen dar und ist doch nur ein Rätsel. Nichts und niemandem kann man in den Erzählungen von Gert Loschütz trauen. Am wenigsten den Erzählern selbst. Eine Schaufensterpuppe liegt nachts auf der Landstraße, es gibt viele Menschen mit Bewegungseinschränkungen oder Behinderungen, im Zoom auf einen Telefonhörer aus Plastik kann sich eine unerwartete Explosion andeuten. Alles spricht und es spricht voller Rätsel. Man liest diese 18 Erzählungen mit einer Mischung aus Argwohn, Ängstlichkeit und Not. Jederzeit kann ein Unglück geschehen, häufig passiert es auch (eine Vergewaltigung, ein Mord, ein Diebstahl), aber immer kommt es so schleichend daher, dass man den Moment des Geschehens verpasst. Darin liegt die große Kunst dieses Erzählers, der es schafft, seinen Leser bei allergrößter Klarheit im Dunklen zu belassen. Oder, um es einmal medizinisch zu sagen: Es ist, als habe Gert Loschütz seinen Figuren (oder seinen Geschichten) erst Valium verabreicht, sie dann mit einer hohen Dosis Amphetaminen voll gespritzt, um sich abschließend unter dem Mikroskop anzuschauen, wie sie sich aufbäumen und winden. Wie sie dies tun, das weiß Gert Loschütz sicherlich auch nicht. Aber dass sie es tun werden, darin liegt die Kunst dieses Autors.
Gert Loschütz´ Erzählungsband "Das erleuchtete Fenster" ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen und kostet Euro 19,90.