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Niederlande
Lebendiger Geschichtsunterricht

Die Jugendbegegnungsstätte Ysselsteyn bei Venlo in den Niederlanden will Geschichte zum Anfassen anbieten. Schüler des Ökumenischen Domgymnasiums Magdeburg haben dort gemeinsam mit Schülern ihrer englischen Partnerschule eine Woche verbracht und sich auch um die Pflege von Kriegsgräbern gekümmert.

Von Andrea Groß |
    Schüler kümmern sich um die Pflege der Soldatengräbern bei der Jugendbegegnungsstätte Ysselsteyn.
    Schüler kümmern sich um die Pflege der Soldatengräbern bei der Jugendbegegnungsstätte Ysselsteyn. (Andreas Groß)
    Es ist ein sonniger Frühlingstag im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Die Szenerie auf dem Soldatenfriedhof der Jugendbegegnungsstätte Ysselsteyn wirkt trotzdem bedrückend: 32.000 Menschen, Tote aus dem Zweiten Weltkrieg – und einige aus dem Ersten, sind hier begraben. Kniehohe steinerne Kreuze soweit das Auge reicht. 20 Schüler, englische und deutsche, sind hier mit Seifenlauge und Wurzelbürste damit beschäftigt, die Grabsteine von Moos und Vogeldreck zu befreien. Dabei ist auch die 15-jährige Saskia:
    "Es ist wichtig, dass wir all die Gräber auf dem Friedhof sauber halten. Und diese Woche hatten wir ein Programm zusammen mit einer deutschen Schule in Magdeburg. Wir haben einen Haufen Arbeit auf dem Friedhof geleistet und viel über die Leben von deutschen Soldaten gelernt."
    Am Tag zuvor hat die Gruppe schon die weißen Inschriften auf den Grabsteinen erneuert. Auf den meisten steht der Name, Dienstgrad, Geburts- und Todesdatum. Es gibt aber auch viele Gräber von Toten, deren Identität unbekannt ist. Dann steht einfach "Ein unbekannter Soldat" auf dem Stein.
    "Da habe ich mich am Anfang gefragt, wer das sein könnte",
    sagt die 16-jährige Nina aus Magdeburg.
    "Aber es sind so viele, man kann sich nicht mehr was ausdenken für jeden Einzelnen. Also putze ich einfach."
    Besuch von der Partnerschule aus Worchester
    Jedes Jahr kommen Schüler des Ökumensichen Domgymnasiums aus Magdeburg gemeinsam mit denen ihrer Partnerschule, der Kings School aus Worchester für eine Woche nach Ysselsteyn. Das Gräberfeld ist das, was die deutschen Jugendlichen stets am meisten beeindruckt. Die nicht enden wollenden Reihen der Grabkreuze zu sehen und zu wissen, dass es nur ein kleiner Bruchteil der Toten aus den Weltkriegen ist. Der 15-jährigen Maja geht das noch aus einem anderen Grund nahe: Es sind auch viele Zivilisten dabei. Frauen und Kinder.
    "Das jüngste Opfer auf dem Friedhof war ein Tag, beziehungsweise wenige Stunden alt. Und das ist wirklich, wirklich sehr traurig. Weil diese Menschen hatten nichts mit dem Krieg zu tun, sie haben sich nicht freiwillig in die Gefahr begeben. Und ich denke, auch nicht alle von ihnen waren aus ideologischen Gründen dort, wo sie waren."
    Auch den englischen Schülern gehen die Schicksale der Gefallenen nahe, die kaum älter waren, als sie selbst. Manche von ihnen sind bestimmt gute Kumpel gewesen, sagt einer. Dennoch sind die Namen auf den Grabsteinen ihnen nicht so vertraut, wie die auf dem britischen Soldatenfriedhof in Overloon, rund 20 Kilometer entfernt. Dorthin hatte die Gruppe einige Tage zuvor einen Ausflug gemacht, erzählt Tim, 16 Jahre.
    "Es sind englischen Soldaten, die gestorben sind, weil sie Kriegsgefangene befreien und weiteres Töten verhindern wollten, die ihr Leben dafür geopfert haben. Der Friedhof in Overloon, wo wir hingegangen sind, der ist ein bisschen kleiner. Aber natürlich bin ich Engländer. Deshalb hat sich das für mich persönlicher angefühlt und es war emotionaler irgendwie."
    Am Nachmittag trifft die Gruppe einen Holocaust-Überlebenden. Der 87-jährige Ernst Verduin erzählt von seiner Kindheit in Amsterdam und wie seine Familie von holländischen Nazi-Kollaborateuren verraten worden ist. Er schildert die grauenhaften Vorgänge in den Vernichtungslagern Auschwitz und Buchenwald und wie es ihm mit Charme, Witz und Unterstützung von wohlgesonnenen Menschen gelungen ist, wieder und wieder dem Tod zu entgehen. Kleine Episoden, die Verduin mit einem Augenzwinkern vorträgt, sind es, die zum Beispiel Leonard, 16 Jahre, besonders beeindrucken.
    "Er hat ziemlich viel durchgemacht. Das hat man gehört, in dieser Präsentation. Viel Schlimmes. Er hat viel Leid gesehen. Und ich fand, dass er dafür das ziemlich locker vorgetragen hat. Das fand ich sehr beeindruckend."
    Geschichte zum Anfassen
    In Ysselsteyn zieht die Geschichte zum Anfassen Jahr für Jahr mehr Schülergruppen an. Gottseidank, lacht die Leiterin der Jugendbegegnungsstätte. Das ist gut für die Finanzen. Auch für die deutsch-englische Schülergruppe ist es ein nachhaltiges Erlebnis, da ist sich Lehrerin Sarah Lemarchand aus Worchester sicher.
    "Ich denke, es ist sehr schwer, genau nachzumessen, was sie daraus ziehen, was sie mit nach Hause nehmen. Aber ich glaube, dass es beiträgt zu ihrem allgemeinen Verständnis von Frieden und Zukunft."
    Und der 14-jährige Edward ist sich sogar sicher, dass er diese Erfahrung niemals vergessen wird.
    "Diese Art von aktiver Geschichte, die wir machen, zeigt uns, wie das für die Menschen war. Ich meine, das waren reale Menschen, nicht solche, von denen du im Geschichtsbuch liest. Als wir ihre Gräber sauber gemacht haben, haben wir sie kennengelernt und das wir das nie wieder tun sollten und wie schrecklich dieser Krieg war."