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Nietzsche als Philosoph

Die Nietzsche-Renaissance ist schon eine Weile vorbei. Jetzt endlich erscheint in deutscher Übersetzung Arthur C. Dantos Buch "Nietzsche als Philosoph", das bereits 1965 in New York publiziert wurde. In jener Zeit wurde der Nietzsche-Renaissance durch Bücher wie "Nietzsche und die Philosophie" von Gilles Deleuze, Paris 1962 oder 1971 von Wolgang Müller-Lauters "Nietzsche - Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie" der Weg bereitet.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 13.12.1998
    Ist das Buch also nicht zu alt, eben überholt, um noch übersetzt zu werden? Wenn man das Buch anliest, bestätigt sich dieser Verdacht durch einleitende Fragestellungen, die man längst für erledigt hält. Natürlich hat das Buch gerade dazu beigetragen, daß nach dreißig Jahren ein solcher Eindruck entstehen kann. Aber ist das jetzt etwa ein Argument für seine Übersetzung?

    Das neue Vorwort zur deutschen Ausgabe greift eine solche Debatte auf, die abgeschlossen erschien: Die Frage nach dem Verhältnis von Nietzsches Philosophie zur Gewalt, was noch Georg Lukàcs mit seiner These "Von Nietzsche zu Hitler" in der ersten Hälfte dieses Jahrhundert nicht zufällig um eine politische Dimension bereicherte.

    Danto hebt genau damit an, daß vor kurzem erst eine Gruppe Jugendlicher aus Pearl River im US-Bundesstaat Mississippi einen mörderischen Streifzug mit dem Hinweis auf Nietzsches Übermenschen verteidigt hätten und eben damit, daß sie sich fern der Masse fühlten, die Nietzsche die Herde nennt. Dieser Herde aber - das heißt ihren Lehrern, Eltern und spröden Klassenkameradinnen - wollten sie eben einen Denkzettel verpassen. Ist Nietzsches Verhältnis zur Gewalt, das Dantos Buch bereits 1965 inspiriert hat, heute ob der Nietzsche-Debatten erledigt? Danto schreibt: "Während ich damals die Berichte in der ‘New York Times’ verfolgte, wurde mir klar, wie verderblich Nietzsche - als Prophet des Übermenschen, als Kritiker der Herdenmoral und Antichrist von eigenen Gnaden - noch immer für haltlose Geister sein kann, für Geister, die in ihm jemanden entdeckt zu haben glauben, der endlich einmal ihren Wert zu schätzen weiß, der in ihr Innerstes zu blicken vermag, dem ihr Schmerz vertraut ist, der ihnen erzählt, sie stünden jenseits von Gut und Böse, und der schließlich ihrem Willen zur Macht den Segen gibt."

    Doch spätestens seit in den siebziger und achtziger Jahren Linke und Postmoderne vornehmlich in Frankreich und Italien Nietzsches Idee des Übermenschen als Programm der Befreiung von den Zwängen eines brutalen Realitätsprinzips feierten - so beispielsweise 1974 der bekannte italienische Nietzsche-Interpret Gianni Vattimo -, seither hat man Nietzsches Denken kaum noch mit dem Problem der Gewalt verknüpft. Wenn sich Neonazis auf Nietzsche berufen, so übersieht man geflissentlich, daß bei Nietzsche Sätze stehen, auf die sie sich als Kronzeugen in der Tat berufen können:

    "Obwohl sich in den letzten vier Jahrzehnten genügend Intellektuelle redlich darum bemüht haben, Nietzsche in eine gütige Erscheinung zu verwandeln - sei es nun in einen Hermeneutiker, einen Dekonstruktivisten oder analytischen Philosophen, sei es in einen Sprachkünstler oder einen Feministen -, lassen sich durch seine grelle Bildersprache und seinen flammenden Duktus noch immer einige jugendliche Wirrköpfe dazu bringen, widerspenstige Mädchen niederzuschießen, ihre nörgelnden Mütter zu erdolchen oder auch einfach Tiere zu foltern, um damit ihre unerschütterliche Stärke unter Beweis zu stellen. Daß er gemeinhin als großer Philosoph gilt, adelt seine markigen Worte überdies mit einer gewissen Autorität."

    Der Philosoph, der nach eigenen Worten "mit dem Hammer philosophiert", hat in der Tat Tendenzen, die man nicht verharmlosen sollte, einen seltsamen Vitalismus beispielsweise, der seiner These, daß Leben Töten heißt, einen Hauch von Normativität verleiht, selbst wenn diese These nur deskriptiv gemeint sein sollte. Er redet nicht bloß negativ von der blonden Bestie und überzieht die jüdischen Priester mit harscher Kritik. Vor allem aber zeichnet seine Werke eine derart aggressiv pathetische Sprache aus, die nicht bloß mißverstanden werden kann, die vor allem auch seinem eigenen Anspruch völlig widerspricht, gerade nicht bloß aus Ressentiment gegenüber einer häßlichen Welt zu schreiben. Daher will Danto auch Nietzsche gegen sich selbst verwenden.

    "Also sprach Zarathustra" gilt zwar weithin als sein bestes sowohl philosophisches als auch literarisches Buch. Nüchtern betrachtet schwelgt es eigentlich mit großer Geste in Animositäten gegenüber der Welt der ‘letzten Menschen’, wie er seine Zeitgenossen nennt. Sicherlich hat diese Sprache ein Jahrhundert lang genau den Ton jugendbewegter Zeitgenossen getroffen, die diese Welt aus ganzem Herzen ablehnten und natürlich auch verbessern wollten. Aber es war das Jahrhundert des europäischen Bürgerkriegs, zweier verheerender Weltkriege und unzähliger anderer Gewalttaten, die fast alle entweder revolutionär oder gegenrevolutionär gemeint waren. Und war es nicht die Zeit des großen Irrtums, den Nietzsche schon benannt hat, an dem er aber selber - nicht zuletzt durch das Ressentiment seiner Sprache - Anteil hat?

    Insofern kam eine der wesentlichen Intentionen von Dantos Buch 1965 wahrscheinlich zu früh und ist heute keineswegs überholt. Es geht Danto mit seinem Buch heute wie damals darum, Nietzsche zu entwaffnen beziehungsweise zu zivilisieren. Allerdings will Danto dabei weniger Nietzsche gerecht werden, als ein "Schutzgitter" zwischen dem aggressiven Nietzsche und dem "wehrlosen Leser" einziehen. Denn, so Danto:

    "Ich bin mir (. . .) sicher, daß Nietzsche, das von ihm Gesagte auch buchstäblich so gemeint hat, wie es die Terroristen der Pearl River High School aufgefaßt haben. Er hätte es nicht gern gesehen, daß man sein Denken auf eine Metapher hin relativiert und seine Aufrufe in Tropen verwandelt. Klar und beißend schrieb er, und seine Texte krönte er mit leuchtenden Bildern, damit der Geist nur um so besser zur Aufnahme der scharfen und pointierten Botschaften bereit sei, die Nietzsche um jeden Preis in das Fleisch der betreffenden Seele einpflanzen wollte."

    Ob man Nietzsche wirklich unterstellen darf, daß dergleichen Schandtaten im Sinne seiner Philosophie seien, dabei muß man Danto nicht unbedingt folgen. Aber daß das Nietzschesche Pathos noch dem einer Zeit entspricht, die in jedem Fall durch weltablehnendes Ressentiment geprägt war, eine Zeit, die seit 1989 an ihr Ende gelangt sein könnte, läßt die deutsche Übersetzung von Dantos Buch, die Burkhard Wolf mit einer gewissen Freiheit doch gut gelungen ist, gerade rechtzeitig erscheinen. Denn heute könnte man eher dazu bereit sein, Nietzsches Einsichten in die Struktur der Vernunft und der Moral zu reflektieren und man muß sich nicht unbedingt mehr an seiner harschen Zeitkritik laben. Heute könnte man vielleicht weniger Nietzsches aggressiv pathetischen Ton goutieren, als seine prägnanten Analysen der abendländischen Kulturentwicklung überdenken.

    Das ist genau die Perspektive von Dantos Nietzsche Buch, die bereits sein Titel anklingen läßt. Das macht seine Übersetzung ins Deutsche eminent zeitgemäß. Danto entwirft Nietzsche nicht allein als Hermeneutiker, Dekonstruktivisten oder philosophischen Analytiker, sondern allgemeiner eben als Philosophen. Der Titel des Buches soll in der Tat Programm sein. Klingt diese Perspektive nicht überraschend banal? Was ist Nietzsche denn sonst, wenn nicht Philosoph?

    Einerseits muß man dabei beachten, daß Danto zur analytischen Philosophie zählt, der vorherrschenden philosophischen Richtung in der angelsächsischen wie der deutschsprachigen Welt. Die analytische Philosophie geht von einem strengen Begriff der Rationalität und der Methodologie aus, dem Nietzsche natürlich nicht genügt. Viele von Dantos philosophischen Mitstreitern rümpfen selbst heute noch die Nase, wenn sie den Namen ‘Nietzsche’ hören. Als Philosophen wollen sie ihn bestimmt nicht gelten lassen. Insofern ist es sicher das Verdienst von Dantos Buch, wenn Nietzsche in den letzten drei Jahrzehnten auch in der Welt der analytischen Philosophie als Philosoph Anerkennung erhielt.

    Andererseits Nietzsche als Philosophen zu präsentieren, das hängt vor allem mit besagter Intention des Buches zusammen, Nietzsche für den unbedarften Leser zu domestizieren - aus dem Raubtier Nietzsche, das in verwirrten Köpfen gefährlich zu spuken vermag, ein brauchbares Haustier zu formen. Eben deshalb stellt Danto den Philosophen Nietzsche just Nietzsche als dem Propheten des Übermenschen entgegen. Er will damit auch nicht den Propheten domestizieren, wie es vielleicht die großen postmodernen Nietzsche-Interpreten Deleuze und Vattimo unternommen haben, eine Zügelung, deren Erfolgsaussichten Danto gerade für so fragwürdig wie unangemessen hält. Wenn das Buch vielmehr Nietzsche als Philosophen präsentiert, dann will es damit die gefährliche Seite Nietzsches nicht überspielen, sondern auf diese hinweisen, sie entschärfen und trotzdem aber die philosophisch innovativen Seiten Nietzsches nicht aufgeben.

    Im Anhang, der drei spätere Essays Dantos zu Nietzsche enthält und der damit die ursprüngliche englische Ausgabe auch um einschlägige Texte erweitert, verschärft Danto diese kritische Perspektive Nietzsche gegenüber. Den ‘Philosophen’ Nietzsche bestimmt Danto jetzt genauer als ‘semantischen Nihilisten’, der Gott wie die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit als Sprachproblem abtut. Dabei bezieht sich Danto auf eine berühmte Stelle aus Nietzsches Text "Die fröhliche Wissenschaft", wo es heißt: "Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ‘andre Welt’ bejaht, wie? muß er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt - verneinen?"

    Die moderne Wissenschaft will die Welt erklären, wie sie wirklich ist. Sie will wahre Aussagen über die Welt formulieren. Doch ihre Methoden - beispielsweise Berechnung, Experiment, Beobachtung - mögen im Überlebenskampf nützliche Dienste geleistet haben. Sie sind aber bloße Erfidungen des menschlichen Geistes, von denen man nicht wissen kann, ob sie die Natur erfassen, wie die Natur wirklich ist. Mit der Orientierung an der Wahrheit beseelt die Wissenschaft daher eine alte Obsession. Nietzsche schreibt weiter: "Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, - daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist."

    Für Danto ist Nietzsche Nihilist, weil er die großen Welterklärungsmodelle der Religion wie der Wissenschaft ablehnt, weil er die Idee der Wahrheit ablehnt, die beide, so Nietzsche, vereint und die sie dadurch gegenseitig desavouiert. Auch die wissenschaftliche Wahrheit orientiert sich nicht am wirklichen Leben, sondern an ihren Prinzipien und Methoden, bleibt somit jenseitig. Durch den Begriff der Wahrheit aber - Danto zitiert Nietzsche weiter - entgeht auch die Wissenschaft nicht dem Schicksal der Religion nach dem Tode Gottes. Nietzsche: "Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge, - wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist."

    Nietzsche ist also Nihilist, weil er gleichermaßen Gott wie die Idee der Wahrheit als Lüge abtut. Warum aber bezeichnet Danto Nietzsche einen ‘semantischen’ Nihilisten? Um diese Frage zu beantworten, greift Danto auf den von Nietzsche selbst nicht veröffentlichten frühen Essay "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" zurück, der, so Danto, in der gegenwärtigen postmodernen Debatte den Begriff der Dekonstruktion angeregt hat. Die Wahrheit ist deswegen genauso wie Gott eine Lüge, weil die Sprache die Welt nicht vorführt, wie sie wirklich ist, sondern weil die Sprache, so Nietzsche, nur aus einem Heer von Metaphern besteht. Die Bedeutung beziehungsweise eben die Semantik eines Wortes spricht nicht die Welt aus, sondern verweist nur auf andere Worte, auf andere Bedeutungen, die in der Metapher eben verdichtet werden. Nietzsche negiert also nicht nur Gott und die Wahrheit, sondern auch die Übereinstimmung von Sprache und Welt, ist also ein semantischer Nihilist. Dem möchte Danto allerdings wirklich nicht mehr folgen; denn dieser semantische Nihilismus führt in gefährliche Postmodernismen.

    "Man kann fragen, ob die Behauptung, die ganze Sprache sei metaphorisch, nicht selbst metaphorisch ist", so Danto. (. . .) "Wenn ja, gibt es keinen Grund, ihr zu glauben, wenn sie jedoch keine Lüge, weil nicht metaphorisch ist, ist sie einfach falsch - und abermals gibt es dann keinen Grund, ihr zu glauben. Die Grundlegung der Dekonstruktion dekonstruiert sich selbst, läßt aber natürlich die Frage offen, was denn eine Metapher sei, und was nicht."

    Die Grundidee des Buches, nämlich aus Nietzsche einen Philosophen zu machen, beziehungsweise den philosophischen Gehalt seiner Gedanken vom prophetischen zu trennen, um ihnen ihr Gefährdungspotential zu nehmen, erfährt in den drei Essays im Anhang, um die das ursprüngliche Buch ergänzt wurde, also auch noch eine zeitgemäße Bekräftigung, die die Diskussion seit 1965 einbezieht - eine deutliche Erweiterung der Perspektive gegenüber der ursprünglichen englischen Version.

    Auch wenn man Danto nicht in allen Konklusionen folgen will, so stellt das Buch doch eine umfassende Auseinandersetzung mit Nietzsche dar, die nicht nur die wesentlichen Aspekte seines Werkes behandelt, die die Nietzsche-Renaissance der letzten Jahrzehnte geprägt haben: nämlich die Themen Kunst, Psychologie, Religion, Übermensch, ewige Wiederkunft und Wille zur Macht, denen jeweils einzelne Kapitel gewidmet sind. Das Buch holt auch deshalb die aktuellen Debatten ein, weil es sich im Anhang gerade mit jenen Nietzsche-Texten befaßt, die die Postmoderne-Debatte über Sprache und Ethik geprägt haben, nämlich Nietzsches Schriften "Morgenröte", "Zur Genealogie der Moral" und "Die fröhliche Wissenschaft". Es zitiert praktisch alle für die jüngste Nietzsche-Renaissance wichtigen Stellen aus dem Werk Nietzsches. Danto hat dabei Nietzsche selbst nur partiell auf Deutsch gelesen, nämlich nur den 1965 noch nicht übersetzten Nachlaß. Jetzt liegt also ein Text mit Orginalzitaten vor und nicht nur mit Übersetzungen aus dem Deutschen.

    Aber das Buch umfaßt nicht nur die von ihm selbst mitbewegte Nietzsche-Debatte. Retrospektiv im Vorwort wie im Anhang überprüft Danto zugleich seine eigenen Thesen, inwieweit sie nach dreißig Jahren revidiert werden müssen. Doch wer auf spannende Widerrufe gehofft hat, der sieht sich enttäuscht. Es wäre bei einem so solide arbeitenden analytischen Philosophen wie Danto auch eher verwunderlich gewesen. Immerhin gibt Danto zu, daß er 1965 die literarische Qualität von Nietzsches Texten unterschätzt habe. Er hielt sie damals für aus Aphorismen im Grunde beliebig zusammengestellte Schriften, die man auch anders hätte ordnen können. Zwischenzeitlich erkennt er ihre literarische Formung doch an. Damit eröffnet sich ihm im Anhang die Möglichkeit, Nietzsche als Literaten zu interpretieren - für Danto auch eine Chance der Domestizierung, weil Literatur - so Danto - keine Aufforderung zum Handeln darstellt.

    Andererseits wiederholt Danto seine so provokante wie brillante These von 1965: "Seltsamerweise setze kein einziges unter Nietzsches Werken ‘irgendein anderes als bekannt voraus.’ Somit könne man ‘seine Schriften problemlos auch in irgendeiner anderen Reihenfolge lesen, ohne daß seine Gedanken dabei an Verständlichkeit einbüßen müßten.’ Bei allem Bedauern - eben das ist noch immer meine Ansicht. Keiner der jüngsten Textfunde scheint mir als solcher den gedanklichen Zusammenhang wirklich in Frage zu stellen, den ich in Nietzsche als Philosoph zu knüpfen versucht habe."