Wenige Tage in der jüngeren politischen Geschichte Brasiliens dürften sich so tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, wie der 28. Oktober 2018. An diesem Tag gewann der rechtsradikale Javier Messias Bolsonaro die Stichwahlen zur Präsidentschaft. Ein Super-Gau für seine politische Gegnerschaft und viele marginalisierte Gruppen, gegen die er im Wahlkampf regelmäßig gehetzt hatte, ein Triumph für die wachsende rechte Bewegung im Land. Knapp vier Jahre später hat der deutsche Journalist Niklas Franzen ein Buch veröffentlicht, um Bilanz zu ziehen: Wie konnte es zu dem Wahlsieg eines politischen Außenseiters kommen? Welche Kräfte treiben die „rechte Revolte“ an? Und: Welchen Widerstand gibt es? Franzen, der seit vielen Jahren für zahlreiche Tageszeitungen über brasilianische Politik berichtet, behandelt diese Fragen in acht Kapiteln kenntnisreich, kritisch und anschaulich.
„Die Euphorie muss raus. Aus allen Ecken strömen sie auf die Straße. Einige haben sich in Fahnen gehüllt, andere die Gesichter bemalt. Autos hupen, Feuerwerk kracht, Jubelschreie hallen durch die Hochhausschluchten São Paulos. Es ist der 28.Oktober 2018. Vor wenigen Minuten waren die Ergebnisse der Stichwahl auf allen Kanälen zu sehen. Brasilien stimmte für einen radikalen Neustart.“
Reportage-Elemente und szenische Beschreibungen versetzen die Leser*innen des Buches immer wieder an die Schauplätze des politischen Wandels. Demonstrationen auf den Straßen São Paulos, ein illegales Goldgräberschiff in den Tiefen Amazoniens, eine umkämpfte Favela in Rio, ein überfülltes Gefängnis am Stadtrand oder etwa eine Soja-Farm im Hinterland. Diese multi-lokale Erzählweise sorgt nicht nur für eine kurzweilige Lektüre, sie ermöglicht es dem Autor auch ein differenziertes Bild der diversen sozialen Realitäten des 214-Millionen-Einwohner*innen-Landes zu zeichnen.
Rechte Allianzen
So lernen wir etwa Sidvaldo Oliveiras kennen, einen evangelikalen Pastor aus Belem, der Metropole an der Amazonasmündung, der missioniert, armen Familien hilft und: Bolsonaro bewundert. Franzen beschreibt, wie Ultrakonservative evangelikale Kirchgruppe in den letzten Jahren überall im Land starken Zulauf erlebt haben. Früh habe Bolsonaro auf eine Allianz mit ihnen gebaut und sich so treue Partner*innen im Wahlkampf gesichert.
„Die Heilversprechen und charismatischen Pastor*innen kommen gerade bei armen Brasilianer*innen gut an. [..] Sie sind dort präsent, wo der Staat fehlt. Die meisten armen Bezirke wurden von der katholischen Kirche, den Kommunen und auch von linken Parteien im Stich gelassen. Es sind Gebiete, in denen es keine Sportplätze, Bibliotheken oder Grünanlagen gibt. Die von Gewalt, Verelendung und Perspektivlosigkeit geprägt sind. [..] Der starke Einfluss von Evangelikalen in den armen Stadtteilen erklärt, warum so viele Vorstadtbewohner*innen heute den Rechtsradikalen unterstützen“.
Franzen zeigt, wie es radikalen Rechten unter Bolsonaro gelingen konnte, schlagkräftige neue Allianzen zu bilden, mit rechten Influencer*innen, Agrarindustrie, aber auch mit einflussreichen Kreisen innerhalb der brasilianischen Sicherheitskräfte. Ob letztere Bolsonaro im Falle einer Wahlniederlage helfen würden, per Putsch die Macht zu erhalten, wagt Franzen nicht zu prognostizieren. Vieles deute allerdings darauf hin, dass Bolsonaro einen institutionellen Bruch vorbereite.
Immer wieder trifft Franzen im Verlauf des Buches Protagonist*innen des politischen Wandels: einfache Bürger*innen, Oppositionelle aber auch prominente Vertreter*innen der brasilianischen Rechten, sogar Bolsonaro selbst und seinen Ex-Justizminister und ehemaligen Bundesrichter Sergio Moro. Das Buch profitiert davon – auch weil Franzen immer wieder historisch einordnet und kontextualisiert. Das entschädigt auch für die manchmal etwas hastigen Sprünge zwischen den verschiedenen Kontexten und den Verzicht auf Quellenangaben.
Bolsonaro – Ein zahnloser Tiger?
Wie steht es also um Brasilien kurz vor der nächsten Präsidentschaftswahl? Niklas Franzen kommt zu einem ambivalenten Fazit. Zwar sei Bolsonaro international und innenpolitisch isoliert und mit seiner Corona-Politik gescheitert, ein zahnloser Tiger sei er deshalb aber nicht:
„[..] in vielen Punkten war Bolsonaros rechte Revolte erfolgreich. Mit dem Segen der Regierung haben sich fundamentalistische Christ*innen in der Politik festgesetzt, Invasor*innen haben ganze Landstriche erobert, es sind immer mehr Waffen im Umlauf. Soziale [..]Errungenschaften wurden systematisch zurückgedreht, die Auswirkungen des rechten Kulturkampfes sind überall sichtbar.“
Es sei den – noch funktionierenden – demokratischen Institutionen zu verdanken, dass Bolsonaro in seiner ersten Amtszeit nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Eine Wiederwahl, davon ist Franzen überzeugt, könne den autoritären Staatsumbau allerdings zementieren. Franzens Buch ist ohne Zweifel ein essentieller Beitrag dazu, dass die gefährlichen politischen Entwicklungen in Brasilien hierzulande auch jenseits der üblichen Wahlkampfberichterstattung Beachtung finden.
Niklas Franzen: „Brasilien über Alles. Bolsonaro und die rechte Revolte“,
Verlag Assoziation A, 208 Seiten, 18 Euro.
Verlag Assoziation A, 208 Seiten, 18 Euro.