Martin Zagatta: Kaum jemand hat Heiner Geißler so hautnah erlebt, so gut gekannt wie Norbert Blüm, der frühere Arbeitsminister und langjährige Wegbegleiter Geißlers. Guten Abend, Herr Blüm!
Norbert Blüm: Ich grüße Sie. Guten Abend.
Zagatta: Herr Blüm, wenn Sie jetzt zurückdenken, was war denn aus Ihrer Sicht das Einzigartige an Heiner Geißler? Was hat ihn von anderen so sehr unterschieden?
Blüm: Ach, das kann ich schwer in Begriffe bringen. Er war verlässlich, er war tapfer bis zur Verwegenheit.
"Am Grab hört jeder Streit auf"
Zagatta: Der letzte öffentliche Auftritt von Heiner Geißler war ja bei der Beisetzung von Helmut Kohl, damals in Speyer im Juli. Da gibt es ein Foto, das Sie beide, Herr Blüm, Sie und Heiner Geißler sehr vertraut nebeneinander zeigt. Wie war denn Ihr persönliches Verhältnis zu Heiner Geißler?
Blüm: Ja. Das war ein besonderer Abend in Speyer, denn wir waren ja beide die Verfemten von Helmut Kohl. Aber wir waren nach vielen Gesprächen einig: Am Grab hört jeder Streit auf. Den Rest übernimmt der liebe Gott. Deshalb sind wir gemeinsam zur Beerdigungsfeier in den Speyerer Dom gegangen.
Zagatta: Haben Sie sich da nach langer Zeit wieder getroffen, oder hatten Sie regelmäßig Kontakt zu Geißler?
Blüm: Wir hatten immer Funkverkehr und, mehr dem Zufall überlassen, uns getroffen. Aber wir mussten uns auch nicht treffen; wir waren im Blindflug eigentlich in vielen Sachen einig. Von dem Imperativ getragen: Im Zweifel für die Schwachen. Und auch wenn es sein muss: Gegen den Wind segeln. Das habe ich bei Heiner Geißler immer bewundert. Er hat nicht ein Radargerät fahren lassen, wo ist der Weg des geringsten Widerstandes. Wenn er beschlossen hatte zu marschieren, dann ist er marschiert, und wir waren über weite Strecken – dafür bin ich dankbar – Weggefährten und sind es jetzt auch noch.
"Er hatte keinen Panzer aus Stahl"
Zagatta: Heiner Geißler ist ja vielen – Sie haben das jetzt ja angedeutet – in Erinnerung geblieben wegen seiner scharfen Kritik am politischen Gegner, in seiner Zeit als CDU-Generalsekretär vor allem mit sehr, sehr polarisierenden Äußerungen. Hat Ihnen das nie missfallen?
Blüm: Es geht ja nicht nur um Inhalte. Es geht in der Politik um Alternativen. Demokratie ist Kampf um Zustimmung. Deshalb gefallen mir Typen wie Heiner Geißler immer, nämlich die nicht zum diplomatischen Dienst sich beworben haben, sondern um trennscharf auch Alternativen klar zu machen. Das ist nicht nur eine Frage der chinesischen Tuschezeichnung, sondern von Holzschnitt, und ich habe immer bewundert, dass der Heiner Geißler ein Kerl war, der auch bereit war zu kämpfen. Jetzt meine ich nicht kämpfen im Sinne von Gewaltanwendung, sondern für Überzeugungen einzutreten. Da lernt man im Leben dazu. Der Heiner Geißler hat auch dazugelernt und war im Alter inhaltlich ein anderer als früher. Aber in der Art und Weise, wie er Politik getrieben hat, war er im Alter so, wie er als Jugendlicher war, mit anderen Akzentsetzungen.
Zagatta: Aber in der Zeit Geißlers als Generalsekretär der CDU, da ging das doch schon ziemlich heftig zur Sache. Willy Brandt – Sie erinnern sich daran ja wahrscheinlich auch –, der hat Geißler in dieser Zeit ja als den schlimmsten Hetzer seit Goebbels bezeichnet. So wie Sie ihn erlebt haben, hat das Geißler getroffen, oder war er stolz? War das so seine knallharte Art der politischen Auseinandersetzung?
Blüm: Nein, das hat ihn getroffen. Hetzer ist ja auch ein schlimmer Begriff. Ich meine, er hat das nicht so gezeigt, wenn er getroffen war, aber er hatte keinen Panzer aus Stahl. Man darf seine Härte nicht verwechseln mit, dass er nicht sensibel gewesen wäre. Das war er sehr, und zwar seine Sensibilität hat sich halt in besonderer Weise gezeigt – und dafür auch im Nachhinein meine Sympathie. Er hatte immer einen Sinn für die Schwächeren.
"Hatte das Glück, mit ihm nie frontal im Gegensatz zu sein"
Zagatta: Wenn Sie heute an Heiner Geißler zurückdenken, gibt es einen Moment, eine Situation, an die Sie sich sofort oder ganz besonders erinnern?
Blüm: Ach, an viele. Wir haben ja viele wilde Sachen zusammen gemacht. Mut hatte der Heiner Geißler immer, Mut bis zur Verwegenheit. Und wir haben ja manche Situation auch ertragen müssen, wo wir beide die Außenseiter der CDU waren. Ich meine, das haben wir alles ertragen. Der Heiner Geißler war nicht nur bejubelt auf Parteitagen, sondern auch einer, bei dem manche sich weggedreht haben, wenn sie ihn gesehen haben. Im Alter hat sich das jetzt etwas in der Abendsonne milder gestimmt, aber er hatte schon Zeiten, wo er in der Partei, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, geradezu als Außenseiter galt.
Zagatta: Dass Sie beide nach langen Jahren an der Seite von Helmut Kohl auf Distanz gegangen sind zu Kohl, war Geißler da die treibende Kraft?
Blüm: Wenn ich ehrlich bin, war er sogar früher als ich auf der Gegenseite. Ich muss zugeben, erst nach großen inneren Kämpfen habe ich mich entschieden, weil mir kein Argument eingefallen ist, der Geheimhaltung von Namen meinen Segen zu geben oder zuzustimmen, aber es ist mir sehr schwer gefallen. Der Heiner Geißler war da schneller und früher. Aber da wir immer in die gleiche Richtung gedacht haben, waren wir nie im Gegensatz. Ich hatte das Glück, mit ihm nie frontal im Gegensatz zu sein. Ich meine, im Nachhinein kenne ich wenig Menschen, mit denen ich so in Übereinstimmung war, innerlich, als mit Heiner Geißler. Ich vermisse ihn deshalb.
Zagatta: Und dieser Versuch damals, Helmut Kohl vielleicht auch von der Parteispitze zumindest abzulösen, war das eine Art Putsch?
Blüm: Ach, Putsch gibt es in der Demokratie nicht. Wenn in der Demokratie gewählt wird, ist keine Wahl ein Putsch. Der Helmut Kohl ist ja Parteivorsitzender geblieben. Das war eine komplizierte Lage. Ich habe jedenfalls damals Helmut Kohl nicht unterstützt, als er Geißler abgelöst hat.
Lang überlegen, was richtig ist, und unbeirrt loslaufen
Zagatta: Im Rückblick soll Helmut Kohl ja Heiner Geißler und Sie als Verräter bezeichnet haben. Haben Sie darüber mal mit ihm gesprochen, wie sehr ihn das getroffen hat?
Blüm: Jetzt wollen wir keine Geheimnisse verraten, aber sicherlich hat uns das beide getroffen. Der Heiner Geißler hat für Kohl seine letzte Kraft eingesetzt, ich nicht weniger. Dann ist es schon bitter zu erfahren, man sei ein Verräter. Aber das wollen wir geschenkt sein lassen. Das ist Vergangenheit und ich setze das auf die Karte Verbitterung.
Zagatta: Vergangenheit, sagen Sie. Wenn wir in die Zukunft blicken, was kann denn die heutige Generation der CDU von Heiner Geißler noch lernen?
Blüm: Ja, sehr viel, und zwar das Wichtigste: Überlege Dir lang, was richtig ist. Wenn Du weißt, was richtig ist, dann marschiere los, ohne zu fragen, ob der Wind von vorne, von der Seite oder von hinten bläst. Du musst für Deine Überzeugungen eintreten, wenn Du überzeugt bist. Mach Dir es nicht so leicht mit der Entscheidung. Überlege die Gegenargumente. Aber ab einem bestimmten Punkt gilt es: Bleib stehen, egal woher der Wind weht.
Zagatta: Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm mit seinen Erinnerungen an Heiner Geißler, der jetzt im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Herr Blüm, herzlichen Dank für das Gespräch.
Blüm: Ich bedanke mich ebenso.
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