Jürgen Zurheide: Im baden-württembergischen Schwetzingen treffen sich heute CDU-Politiker, denen die eigene Partei ein Stück weit fremd geworden ist. Wir wollen das nicht überschätzen, was dort passiert, aber dort wird eine Art konservatives Manifest verabschiedet, und hinter den Kulissen, das erleben wir in diesen Tagen, wird heftig gerungen: Was ist die CDU – konservativ, liberal, sozial, alles gemeinsam, das eine mehr, das andere weniger. Wir wollen das versuchen, in den langen Linien zu debattieren, und freuen uns deshalb, dass Norbert Blüm jetzt am Telefon ist, langjähriger Sozialminister der Regierung Kohl und CDA-Vorsitzender. Guten Morgen, Herr Blüm!
Norbert Blüm: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Blüm, können Sie eigentlich mit diesen Begrifflichkeiten etwas anfangen, CDU zu wenig konservativ?
"Für Sonntagspredigten brauchen wir die Konservativen nicht"
Blüm: Nein, da kann ich wenig anfangen. Wir sind nach eigenem Selbstverständnis eine christliche Partei. Das heißt nicht, dass wir christliche Politik für uns monopolisieren, sondern dass wir aus dieser Motivation Politik machen. Dazu gehört sozial, nämlich für die Schwachen da zu sein, dazu gehört liberal, nämlich die Würde des Einzelnen, seine Integrität zu verteidigen. Und da gehört dazu, die Welt zu erhalten, zu konservieren, gegenüber einer besinnungslosen Wachstumspolitik Grenzen aufzuzeigen, und dazu gehört – deshalb viele Grüße nach Schwetzingen –, zu meinem Verständnis von konservativ gehört, die Familie zu schützen, und zwar nicht programmatisch prinzipiell nur, sondern praktisch. Und dieser konservative Ansatz, den ich uneingeschränkt teile, steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass wir den Familiennachzug für Flüchtlinge absperren wollen. Das ist eine Sünde wider den Geist der Konservativen, denn Schutz der Familie heißt ja nicht Schutz der deutschen Familie, sondern wenn das eine elementare Institution unserer Gesellschaft ist, dann gilt es für In- und Ausländer. Und es ist ja auch so, Mann und Frau gehören zusammen, und die Kinder gehören zu ihren Eltern. Das ist der elementare Grundsatz, und den kann man nicht dadurch infrage stellen oder abschaffen, dass er nicht für Ausländer gilt. Das ist die Nagelprobe für mich, ob der Konservatismus eine Ausrede ist oder ob er zu seinen Grundsätzen steht. Für Sonntagspredigten brauchen wir die Konservativen nicht, wir brauchen sie an der Front zur Verteidigung der Familie.
Zurheide: Das war jetzt ein klares Plädoyer von Ihrer Seite. Jetzt haben andere - und die haben wir auch hier in unserem Programm gehört - das natürlich anders intoniert, und die kommen dann auf Probleme und Themen wie die Wehrpflicht, die Zuwanderung spielt dann auch eine Rolle. Ist denn da etwas verloren gegangen oder hat sich da was verändert in der CDU? Manche sagen ja, Frau Merkel hat das entkernt, sehen Sie das auch so?
Blüm: Vor allen Dingen höre ich den Vorwurf Sozialdemokratisierung, damit kann ich gar nichts anfangen.
Zurheide: Das fänden Sie im Zweifel ja auch nicht schlecht.
Blüm: Wenn wir schon Annäherung machen, da hat sich möglicherweise die SPD mehr an die CDU angenähert als die CDU an die SPD. Wenn ich dran denke, dass die SPD mal für Planwirtschaft war, gegen Westbindung war, für Staatsversorgung, da brauche ich nur sagen Godesberger Programm, da hat die SPD die Kurve zur CDU gebracht, das ist eine Geschichtsvergessenheit, die in solchen Parolen zum Ausdruck kommt.
Zurheide: Was sagen Sie denn eigentlich zu jenen, die dann auch weiterhin zufügen und das personalisieren und sagen, Frau Merkel sei das eigentliche Problem der CDU, was rufen Sie denen zu? Ist das richtig beobachtet oder falsch?
"Wenn man mit Problemen nicht zurechtkommt, versucht man Personaldiskussionen"
Blüm: Nein, das ist die nicht erst seit heute erfundene Ausflucht - wenn man mit Problemen nicht zurechtkommt, versucht man Personaldiskussionen. Das ist Einfallslosigkeit oder Gedankenarmut. Wir haben so viele Probleme, an denen die CDU gefordert ist, beispielsweise treten wir einer nationalistischen Borniertheit entgegen. Altes Thema Europa, unser ureigenstes Thema. Schuman, de Gasperi, Adenauer, die stehen an der Gründung der Europäischen Union, und jetzt wird diese Europäische Union oder überhaupt die Europäisierung von Orbán infrage gestellt, die Engländer hauen ab, der Trump versucht wieder zurückzufallen in alte nationale Spielereien. Das ist eine große Herausforderung für eine christlich verantwortliche Politik. Wir können doch nicht wieder zurückfallen ins 19. Jahrhundert, der Nationalismus war nie christlich. Katholisch war es schon lang, das muss man den Polen mal sagen, dass katholisch nicht national heißt.
Zurheide: Ich frage Sie jetzt, und ich weiß ja, wen ich das frage, ich habe den Eindruck gelegentlich, Provokation ersetzt Politik, das ist ein Politikprinzip heutzutage. Ich meine, Sie haben auch gelegentlich provoziert.
Blüm: Da hab ich auch nichts dagegen. Gegenüber dem allgemeinen Labern bin ich schon dafür, die Sache auf den Punkt zu bringen.
Zurheide: Sehen Sie einen Unterschied zu heute und damals?
Blüm: Ja, da muss ich Acht geben, dass ich nicht sage, früher war alles besser, das sagen immer alte Leute, und den Fehler will ich nicht machen, aber mir fehlt schon der große Ringkampf um große Themen. Wir haben doch große Themen, nämlich Europa. Wir haben eine große Auseinandersetzung, Bewährung mit den Rechtsradikalen, mit einem neuen Nationalismus. Wir müssen wieder die Marktplätze besetzen, und es muss wieder diskutiert werden, dass die Fetzen fliegen und nicht über die dritte Stelle hinter dem Komma, sondern über die großen Weichenstellungen, die entscheidend sind für unsere Zukunft, beispielsweise Nationalismus oder Europa, beispielsweise die Erde erhalten oder sie ruinieren, Klimaschutz. Große Fragen!
Zurheide: Was rufen Sie all jenen zu, die sagen, wir können ja heute gar nicht mehr diskutieren, wir dürfen es nicht. Ich frag jetzt auch jemanden, ich gebe die Antwort fast vorweg, der auf dem Leipziger Parteitag, als Ihre Partei sich in eine Richtung entwickelte, die Sie nicht gut gefunden haben, da haben Sie sich hingestellt und wurden ausgepfiffen. Jetzt kommen wir wieder in die Gefahr hier, zwei alte Männer oder ältere reden über diese Dinge. Aber nein, was sagen Sie denen, die sagen, wir können nicht genug diskutieren, mehr Mut haben?
"Wer Harmonie sucht, muss in einen Gesangverein gehen"
Blüm: Ach Gott, jeder, der was sagen will, kann was sagen, er muss natürlich auch bereit sein, dass er nicht nur Beifall bekommt. Wenn man natürlich nur nach Beifall sucht, da muss man erst bei Allensbacher oder irgendwo nachfragen, was gerade gefragt wird. Politik und Parteipolitik ist ein Ringkampf, und wer Harmonie sucht, muss in einen Gesangverein gehen. Niemand ist gehindert, kräftig an der Diskussion teilzunehmen, man muss nur Mut haben. Er muss auch bereit sein, dass es regnet, dass der Wind von vorne kommt. Im Übrigen kann ich den trösten, Wind ist sehr wetterwendisch. Beifall und Pfiffe sind in der Politik ganz nah zusammen, deshalb richten Sie sich nicht so sehr nach den Reaktionen, sondern überleg, was richtig ist, und dann mach's, egal ob du Beifall bekommst oder nicht. Und ich sag noch mal: Große Herausforderungen werden uns abverlangt. Und wir haben mit Macron einen Bündnispartner - mein Gott, wenn wir diese Chance vergehen lassen, wir müssen nationale Kompetenzen abgeben, das macht niemand gern, aber das muss gemacht werden. Wir brauchen den Mut von Adenauer, das war ein ganz alter Mann.
Zurheide: Jetzt bedanke ich mich ganz herzlich heute Morgen, wir laufen nämlich auf die Nachrichten zu. Das war ein vehementes Plädoyer für Europa, für eine Debatte, auch für den Mut in der Debatte von Norbert Blüm. Herr Blüm, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch, danke schön!
Blüm: Ich ebenso!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.