Warum sollte man nach Tuschetien reisen? Daraufhin Eldar Bukwaidse, ein alter Einwohner des Dorfes Schenako im tuschetischen Hochgebirge:
"Man sagt nicht von ungefähr, Tuschetien gehört zu den fünf schönsten Landschaften weltweit und im Rating der gefährlichsten Straßen der Welt nimmt es immerhin den zehnten Platz ein. Unsere Natur ergibt enorm viel Abwechslung. Berge, Wälder, Täler. Wir haben hier alles in einem kleinen Stück Land!"
Wer sich nach Tuschetien wagt, sollte entweder mit dem Hubschrauber fliegen oder sich auf eine lange Fahrt mit einem Geländewagen vorbereiten.
Der Tschatscha nimmt die Angst
Die lange Reise nach Omalo ist ein Abenteuer für sich. Aus Alwani, einem tuschetischen Dorf in der ostgeorgischen Region Kachetien, geht es steil hoch auf einer nicht gepflasterten Straße. Wir fahren zum Abano-Pass auf die Höhe von 2.927 Metern. Diese Straße gehört nach der Version von BBC zu den zehn gefährlichsten Straßen der Welt. Und sie ist für viele neugierige Touristen die größte Hürde, nach Tuschetien zu kommen.
Unsere Mitreisenden werden vor der Auffahrt zum Pass vom Fahrer mit Tschatscha, dem georgischen Grappa, verköstigt. Man sagt hier, Tschatscha nehme den Tuschetien-Anfängern ihre Angst.
Jedermann, der es ins geheime Land schafft, wird nicht nur mit herrlichen Bergpanoramen belohnt. Man kommt hier mit einer Kultur in Berührung, die einzigartig ist.
Heidnisch und stark patriarchalisch
Das Volk der Tuschen hat viele seiner alten einzigartigen Traditionen bewahrt, sagt Nugzar Idoidze, Direktor des ethnografischen Museums von Omalo. So sind die Tuschen zwar Christen, aber sie haben noch einige heidnische Sitten behalten, etwa die Tieropfer, die sie darbringen, und ihre an der freien Luft stehenden Gebetsschreine, zu denen nur für Männer der Zugang erlaubt ist. Die hiesige Gesellschaft ist immer noch stark patriarchalisch:
"Allen Bereichen unseres Lebens liegt das Prinzip der geschlechtlichen Polarität zugrunde, die binare Opposition: Sowohl in der Architektur als auch in der sozialen Struktur und in den Begrüßungen. Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts haben sich unsere Menschen je nach dem Geschlecht begrüßt: Wenn etwa die Männer die Frauen begrüßten, wünschten sie ihnen Freude. Und die Frauen erwiderten den Männern damit, dass sie ihnen ein langes Leben wünschten. Die Männer begrüßten sich, indem sie einander einen Sieg wünschten: "Gaumardschos", "gamardschoba", "gagimardschos"."
Wir hatten Glück, nach Tuschetien am Tag des Heiligen Georgs, genannt Dgheoba, zu kommen. Dieser Heilige gilt als der Schutzpatron von ganz Georgien. Und aus diesem Anlass wird im tuschetischen Dorf Parsma jährlich ein üppiges Dorffest gefeiert.
Parsma liegt auf 2.100 Metern Höhe. Wir erreichen es nach einer einstündigen Fahrt mit dem Geländewagen über eine Holperstrecke entlang des stürmischen Flusses Didichewi. Doch die Unbequemlichkeiten der Fahrt lassen sich schnell vergessen, wenn sich einem malerische Panoramen mit Festungsruinen und typischen Turmhäusern eröffnen.
Schaffleisch, Chili und selbst gebrautes Bier
Vom Fluss-Tal aus kann man nach Parsma nur zu Fuß hochgehen. Wir sind hier oberhalb der Baumgrenze. Nach einem steilen Aufstieg tauchen wir direkt in die feierliche Atmosphäre ein. Draußen wird in großen Kesseln gebrutzelt und gekocht. Die Tuschen sind ein Hirtenvolk. Und man isst hier viel Schaffleisch und -käse.
Ein Dorfbewohner, David, zeigt mir drei große Töpfe mit Fleischgerichten, die überm Feuer hängen, und erklärt mit Stolz:
"Das hier sind Leber, Magen, Chili-Schoten, Gewürze. Man braucht nur 20 Minuten und fertig! Und das schmeckt!"
Das Bier wurde extra für das Fest gebraut. Ein stämmiger Dorfbewohner, Schota, reicht mir einen Krug und sagt:
"Hier ist unser Bier, genannt aludi. Wir nehmen dafür Schwarzbrot, Weizen und andere Zutaten. Ich verrate Ihnen nicht, wie lange wir das kochen. Doch das Wichtigste ist, dass dieses Bier nur zwei Wochen lang haltbar ist. Die Art zu brauen ist eine reine Berg-Technologie, die schon 200 Jahre alt ist."
Wir erfahren, dass Bierbrauerei und das Kochen von Fleischgerichten an Feiertagen ausschließlich in männlicher Hand liegen. Die Frauen machen nur die Vorspeisen und sie backen Brot und die Brotfladen, genannt Kotory, die mit einer Mischung aus Topfen und Käse gefüllt werden.
Auf dem Berg ist die Sommersaison kurz
Auf der Erde werden lange Tischdecken ausgebreitet, als Bänke dienen einfache Baumstämme. Fünf Familien verlosen jedes Jahr, wer nächstes Jahr auftischen darf. Heute sind es ca. 400 Gäste, etwa die Hälfte von ihnen sind von auswärts, Verwandte, Bekannte, neugierige Touristen. Gesorgt wird für alle und alles ist gratis. Hier kommt die berühmte kaukasische Gastfreundschaft besonders gut zum Ausdruck, sagt Ethnologe Nugzar Idoidze:
"Die Hirtenkultur hat unseren nationalen Charakter geformt. Die Hirten verbrachten 11 Monate auf ihren Wiesen alleine in der Natur. Und deshalb freuten sie sich sehr, wenn sie einen Gast erblickten. Sie waren bereit, mit dem Gast alles zu teilen: ihr Pferd, ihre Kleidung, ihr Essen. Und dies dauerte Jahrhunderte lang an, und daraus entstand unser Charakter, der sehr flexibel ist. Unsere Gesellschaft war immer offen, nicht konservativ, und die Volksdiplomatie war bei uns auf höchster Ebene."
Die 35-jährige Sopo lebt in Tiflis. Wie fast alle ihrer Landsleute verbringt sie nur die Sommerzeit in Tuschetien. Im Winter leben die Tuschen entweder in Alwani, ihrem Heimatdorf an der anderen Seite des Berges, oder in der Hauptstadt. Jedes Jahr kommt Sopo zum Volksfest nach Parsma:
"Dies ist ein Fest für alle. Herzlich willkommen! Leider wohnen wir zu hoch auf dem Berg. Und die Saison hier dauert nur zwei-drei Monate. Man kann nur bis zum 15. September gut hierher reisen. Und dann könnte es schon wieder schneien, sodass man vielleicht gar nicht zurück kann und einen Hubschrauber dafür braucht."
Wer hierher kommt, wird inspiriert
Zur Eröffnung gibt es ein Pferderennen. Fünf Reiter wetteifern darum, wer am schnellsten vom Fluss-Tal hinauf zur Kirche kommt, die hoch am Berg liegt. Dann leitet der Tamada, der Trinkspruchführer, das Fest ein. Wein, Tschatscha und Bier fließen in Strömen und es gibt viel Köstliches und Würziges zum Essen und das vor den atemberaubenden Panoramen.
"Viele Trinksprüche gelten unserer heiligen Heimat. Wir lieben unser heiliges Land, all das hier herum ist unser Stolz. Man entwickelt in diesen Bergen zwangsläufig ein Talent. Viele Menschen, die zu uns hochkommen, sagen, sie werden inspiriert. Liegt man hier nachts im Bett, kommen einem ganz andere Gedanken in den Kopf, göttliche Gedanken. Und man fängt an zu schreiben, zum Beispiel Gedichte."
Das Fest ist im vollen Gange. Es gibt zwei Tafeln, eine für die Männer und eine für die Frauen. Man sitzt streng getrennt voneinander. Man sieht und man winkt einander und man prostet einander zu, aber treffen darf man sich nur am neutralen Gebiet, etwa in der Mitte des Festes, wo getanzt und gesungen wird. Einige Ordnungshüter passen streng darauf auf, dass diese Tradition befolgt wird. Wer die Regeln verletzt, wird mit einem Schwert aus Holz auf den Po geschlagen und an seine jeweilige Seite gewiesen.
Der Ethnologe Nugzar Idoidze erklärt dies wie folgt:
"Diese Tradition dient der Bewahrung des geschlechtlichen Gleichgewichtes. Jede Hälfte, Mann und Frau, stellt einen Wert dar. Es ist wie mit zwei Polen, einem Plus und einem Minus. Man darf sie nicht vermischen. Sonst gibt es Chaos, nichts kann man mehr steuern. Somit helfen wir den Kräften der Natur, eine natürliche Balance aufrecht zu erhalten. Die geschlechtliche Parität liegt in der Erhaltung der Polarität."
Das Dorf Dartlo liegt an einem Berghang und es bietet einen majestätischen Anblick. Dartlo hat viele Turmhäuser, die eine Art Hausfestungen sind. Ihre Bauart ist ungewöhnlich: Sie wurden ohne jegliche Bindestoffe aus Schiefer gebaut. Unten im Flusstal stehen die Ruinen einer Kirche, neben der sich einst die Gemeindeältesten versammelten. Es gibt alte Chroniken, die besagen, in Tuschetien wurden nicht selten Frauen als Gemeindeälteste gewählt. Und es gibt in der tuschetischen Geschichte viele Frauen, die bis heute als Volksheldinnen geehrt werden.
Wie passt das in die patriarchalische Gesellschaftsstruktur hinein? Daraufhin der Ethnologe Nugzar Idoidze:
"Das Hirtenleben läuft wie folgt ab: die Hirten gehen für circa 11 Monate im Sommer auf ihre Alpenwiesen und im Winter in die Wintertäler. Und in dieser Zeit verrichteten die Frauen alle Männergeschäfte. Ihre Brüder und Väter hatten ihnen alles, sogar die Waffenbenutzung beigebracht. Aber auch die Männer konnten alle Frauensachen perfekt verrichten: Sie molken die Schafe, erzogen die Jungs, die ab zehn Jahren mit ihnen auf die Alpenwiesen mitzogen, um zu lernen, sie kochten, putzten und backten Brot. Doch wenn sie nach Hause zurückkehrten, war wieder streng getrennt nach der Männer- und der Frauenhälfte im Haus an den beiden Teilen des Hausfeuers. Und die Geschlechterbalance wurde somit wieder hergestellt."
"Freiheit, die von innen kommt"
Die 23-jährige Mariam Kakhaidse stammt aus Dartlo. Sie lebt in Tiflis und studiert dort Englisch. Jeden Sommer hilft sie im Gasthaus ihrer Verwandten mit. Mariam glaubt, in Tuschetien würden nur freie Menschen leben, sowohl Männer als auch Frauen:
"Unsere Vorfahren waren starke Menschen, die keine fremde Herrschaft duldeten. Sie wollten von niemandem regiert werden, und deshalb kamen sie hierher, um unabhängig und in Freiheit zu leben. Die anderen georgischen Regionen hatten meistens ihre Herrscher. Und wir waren immer frei. Wenn ich in Tuschetien bin, fühlte ich diese Freiheit, die von innen kommt. Es ist ein unvergessliches Gefühl, ganz anders als alle sonstigen Gefühle! Deshalb komme ich so oft hierher, in diese Berge, um diese Freiheit zu empfinden."
Seit acht Jahren unterhält die 60-jährige Natela ein Gasthaus in Dartlo. Mariam und ihre Schwester helfen ihr dabei.
In zwei großzügigen mit handgemachten Möbeln ausgestatteten Zimmern kann Natela bis zu 10 Personen unterbringen. Aus dem kunstvoll eingerichteten Gästezimmer tritt man auf einen schönen geschnitzten Holzbalkon, von dem aus sich atemberaubende Bergpanoramen eröffnen. Als Tourist fühlt man sich hier wie ein König, bloß muss man zum Badezimmer nach draußen gehen.
Natela führt uns in ihre eigene Schlafkammer, wo nur ein bescheidenes Bett steht und zwei Matratzen auf dem Boden liegen. Das Zimmer ist karg und dunkel, denn es hat nur ein paar winzige nicht verglaste Löcher statt Fenster.
"Diese Fenster waren dafür da, damit unsere Männer, die ihre Frauen und Kinder verteidigten, von hier aus auf die Feinde schießen konnten. Unsere Nachbarn aus Dagestan fielen oft hier ein, kidnappten Frauen und Kinder und stahlen das Vieh. Deshalb haben unsere Häuser diese Bauart. Unser Haus wurde vor 500 Jahren erbaut. Und ihr schlaft jetzt oben, in der dritten Etage mit dem Balkon, der erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts hinzugefügt wurde."
Vier Schluchten und eine abenteuerliche Fahrt
Natela hat in ihrem Gasthaus ein kleines ethnografisches Museum, wo verschiedene Alltagsgegenstände und Kochutensilien ausgestellt sind, die ihr Großvater gemacht hat. Alles ist aus Fichtenholz und es sieht eigentümlich aus, denn die Tuschen seien schon immer nur auf sich selbst gestellt gewesen, sagt Natela. Dann erzählt sie eine spannende Geschichte darüber, wie die Tuschen vom georgischen König ein fruchtbares Land jenseits des Berges im kachetischen Alazani-Tal erhielten:
"Im 17. Jahrhundert, als die Türken Tiflis und Kachetien eroberten, gab es einen tuschetischen Helden, Zezwa Gaprindauli, der es geschafft hat, Georgien von den Feinden zu befreien. Und so fragte ihn der König, was er sich für diese Heldentat wünsche. Zezwa sagte, er würde mit seinem Pferd von der Stadt Bachtrioni, wo die Schlacht gewonnen wurde, so lange reiten, bis sein Pferd tot umfällt. All dieses Land solle der König seinen Landesleuten schenken. So ritt er 15 km lang, bis sein Pferd umfiel, und seitdem gehören uns die kachetischen Dörfer Oberes und Unteres Alwani."
Tuschetien besteht aus vier Schluchten, die nur aus dem Zentraldorf, Omalo, erreichbar sind. Eine der schönsten ist die Gometsari-Schlucht. Die meisten Dörfer liegen dort oben am Berghang. Und die Fahrt auf der Straße, die diese Dörfer miteinander verbindet, ist ein Abenteuer.
Man fährt auf einer sehr schmalen kurvenreichen Straße am Berghang, die über 2.000 Metern überm Meeresspiegel liegt. Schaut man nach unten, wird einem schwindlig. Temiri, unser Fahrer, lenkt seinen Nissan-Jeep, wie ein Renn-Auto. Er merkt, wie unwohl wir uns dabei fühlen und tröstet uns:
"Haben Sie keine Angst, ich bin hier geboren, ich kenne hier jede kleinste Ecke. Freilich ist diese Straße zu Pferd besser zurückzulegen. Denn ein Pferd wird von Reflexen geschützt und es weiß, wo es hingehen kann und wohin nicht. Und wenn man sich für eine Sekunde ablenken lässt, ist man tot. Doch wer langsam fährt und auf die Straße schaut, dem passiert nichts."
Wir passieren viele malerische Dörfer, darunter Botschorna auf der Höhe von 2.345 Metern, das das höchste Dorf in Europa sein soll. Viele Dörfer machen den Eindruck, dass ihre Einwohner sie ganz verlassen haben. Um in einige Dörfer zu gelangen, muss man vom Berghang steil heruntersteigen.
Sommerleben ohne Errungenschaften der Zivilisation
Im hübschen Dorf Iliurta riecht es schön nach Kondari, dem wilden Thymian, aus dem sich ein aromatischer Berg-Tee machen lässt. Vor der schönen weißen Kirche sitzen wir unter einem alten Baum auf einer Bank und genießen den sagenhaften Anblick der hohen mit Wäldern bewachsenen Berge an der anderen Seite der Schlucht.
Und dann werden wir in das einzige Haus eingeladen, das derzeit bewohnt ist. Es ist die Familie von Guliko, einer Musiklehrerin aus Alwani. Das Haus unterhalb der schönen weißen Kirche gehörte den Vorfahren der Familie. Alle Fenster sind behangen mit aromatischen Berg-Kräutern, die zum Trocknen aufgehängt wurden. Das weißangestrichene Haus besteht aus zwei Räumen und einer großzügigen Terrasse, die mit schönen Ornamenten ausgeschmückt ist.
Beim Kaffeetrinken singen uns Nanas Kinder, zwei Mädchen und ein Bub, tuschetische Lieder vor und sie spielen Panduri, eine lokale Gitarren-Art.
Nanas Tochter, die 14-jährige Tinatin, die Panduri spielt, erzählt, wie sehr sie die Ferien in ihrem Heimatdorf genießt, obwohl hierher keine Errungenschaften der Zivilisation vorgedrungen sind.
"Ich liebe mein Dorf und meine Kirche. Und ich schätze unsere Menschen und unsere Feste sehr. Ich freue mich jedes Mal auf den Sommer hier. Wir gehen Himbeeren, Erdbeeren und wilden Kondari sammeln, wir spielen Karten, üben unsere Musikinstrumente, singen und besuchen unsere Freunde in anderen Dörfern. Es ist uns nie langweilig. Ich kann mir mein Leben ohne Musik, ohne Panduri und ohne Tuschetien nicht vorstellen."