Mit kräftigen Zügen holt Thorleiv Vestre die Leine ein, bis eine Reuse aus dem dunklen Wasser auftaucht. Es ist der dritte Korb, den er an diesem Morgen ins Boot hievt. Vestre schiebt seine Wollmütze aus der Stirn und blickt prüfend durch das Geflecht. Ein paar Krebse schnappen mit ihren Zangen langsam ins Leere. Der Rentner hatte auf Hummer gehofft:
"Nein, das sieht schlecht aus. Das sieht wirklich schlecht aus."
Vestre nimmt mit seinem kleinen Glasfaserboot wieder Kurs zurück auf die Durchfahrt neben der Hafenmole. Für ihn ist nichts mehr wie es einmal war auf Utsira vor der norwegischen Küste. Bei der Einfahrt in den Hafen streckt er seine hagere Hand aus dem Ärmel seiner Öljacke und zeigt auf einen heruntergekommenen Betonkasten, der offenbar als Lagerhaus dient. Dort wurde bis Mitte der 90er-Jahre Fisch verpackt und von Utsira in alle Welt verschickt. Vestres letzter Arbeitsplatz.
"Man hätte die Fischerei vorher unterstützen sollen"
Als er geboren wurde, gab es in Norwegen noch 125.000 Berufsfischer. Als er in Rente ging, waren es nur noch 15.000. Vestre vertäut sein Boot an der niedrigen Kaimauer. Es ist das einzige weit und breit.
"Die Fischer lieferten den Fisch, wir verarbeiteten ihn - und so hatten alle Arbeit auf der Insel, auch wenn niemand reich damit wurde. Ich finde, Staat und Gemeinde hätten auf unsere Fischerei besser aufpassen sollen. Als die ersten Fischer hier aufgaben, war es zu spät, dann ging alles schnell den Bach hinunter. Man hätte die Fischerei vorher unterstützen sollen."
Vestre wirft die Krebse wieder zurück ins Wasser und lässt die leeren Reusen im Boot liegen. Morgen will er sie noch einmal auslegen. Die Sache mit den alternativen Energien für mehr Klimaschutz sei auch wichtig, brummt Vestre. Habe ja vielleicht auch mit dem miesen Fang von heute zu tun:
"Man muss sagen, die Wetterbedingungen haben sich stark verändert. So viele Stürme wie heutzutage hat es in meiner Jugend nicht gegeben. Und die Fische ziehen immer weiter nordwärts. Früher war die Südwestküste hier eine Goldgrube für die großen Trawler. Hering und Makrele holten sie hier unendlich viel hoch. Jetzt müssen wir den Fischen immer weiter in nördliche Gebiete folgen, wenn wir sie fangen wollen."
Hagelregen setzt ein, Vestre schlägt die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Niemand solle denken, er sei gegen den Fortschritt:
"Hier rund um das Hafenbecken standen in meiner Jugend Galgen, wie wir sie nannten. Das waren Holzgestelle, auf denen die Fischer ihre Kleidung nach ihrer Rückkehr trockneten. Die war ja damals aus Baumwolle und Hanf. Nylon gab es noch nicht. Die Baumwolle musste regelmäßig imprägniert werden. Als dann die Nylonjacken kamen, war das ein kolossaler Fortschritt. Die Fischer konnten auf einmal länger und öfter rausfahren."
Nicht so viel Tourismus wie erwartet
In gemächlichen Stiefelschritten geht er auf sein Haus zu, das leuchtend weiß an der Hauptstraße liegt. Unter dem Vordach des Eingangs stellt er seine Gummistiefel ab. Sein knochiges, glattrasiertes Gesicht schaut kurz durch die Küchentür. Seine Frau hat frischen Kaffee aufgebrüht. Sie stammt vom Festland. Geheiratet hat Vestre erst mit 57.
Er setzt sich in einen Relax-Sessel und streicht seine dünnen, grauen Haare glatt. Ihm gegenüber, in einem großen Flachbildfernseher läuft stumm ein Langlaufwettbewerb. Im Kaminofen lodert das Feuer. Auf der Fensterbank steht ein kleiner Leuchtturm. Dass seine winzige Gemeinde seit Jahren auf saubere Energieprojekte setzt, statt auf das Meer um sie herum – diese Strategie ist für den alten Insulaner gescheitert.
"Bei der Bürgerversammlung mit dem Energieunternehmen stand einer auf und fragte, ob durch die Wind-Wasserstoffanlage auch Arbeitsplätze entstehen würden. Und da sagten die Verantwortlichen, das könnten sie nicht versprechen. Aber es würden Touristen aus der ganzen Welt angelockt und das sei ja auch gut für's Geschäft. Ein paar Besucher kamen auch, aber nicht so viele, wie ich es mir jedenfalls vorgestellt hatte."
Seine Frau Bjørgunn betritt mit dampfenden Kaffeetassen und geschmierten Broten das Wohnzimmer. Den letzten Satz hatte sie noch gehört. Sie wirft ihrem Mann einen kritischen Blick zu, bevor sie sich auf das Sofa fallen lässt:
"In einer großen Gemeinde kann man offener kritisieren als hier. Hier wird Kritik schnell persönlich genommen. Klar, wir leben auch hier in einer Demokratie. Aber die stößt da an Grenzen, wo im Gemeinderat jeder miteinander irgendwie verwandt ist."