Peter Kapern: Wenn ich Ihnen die folgende Anmoderation vor zwei Jahren vorgelesen hätte, dann hätten Sie mich wahrscheinlich für einen Verschwörungstheoretiker gehalten: Der amerikanische Geheimdienst speichert jeden Tag Milliarden von Handy-Nutzerdaten weltweit. Die Spione speichern Telefonnummern, Gerätenummern, die Nummer der SIM-Karten und den Aufenthaltsort. Das besagen neue Enthüllungen aus dem Fundus von Edward Snowden, die seit gestern die Runde machen. Experten gehen nun davon aus, dass diese erfassten Telefone, soweit es sich um Smartphones handelt, jederzeit per Schadprogramm in eine Abhörvorrichtung oder eine ferngesteuerte Kamera verwandelt werden können. Ziel der NSA und der mit ihr verbündeten Geheimdienste sei es, jedes Handy jederzeit an jedem Ort der Welt orten zu können, so der "Spiegel" gestern.
Internet-Daten werden weltweit erfasst, Daten über Flugreisen, über Banküberweisungen und nun auch noch Handy-Daten. Am Telefon bei uns ist Viktor Mayer-Schönberger, Professor am Internet Institute der Universität Oxford. Guten Morgen!
Viktor Mayer-Schönberger: Guten Morgen!
Kapern: Herr Mayer-Schönberger, hat Sie irgendeine dieser Enthüllungen der letzten Monate so sehr überrascht wie die Heerscharen der Ahnungslosen überall, unsere Redaktion mal eingeschlossen?
Mayer-Schönberger: Nein, es hat mich nicht grundsätzlich überrascht, obwohl ich sagen muss, dass mich der Umfang der Datensammlung und die Professionalität, mit der hier herangegangen ist an das Problem, schon ein wenig überrascht hat. Aber grundsätzlich war ich nicht überrascht, das habe ich gewusst.
Kapern: Wenn Sie der Umfang überrascht hat, dann erklären Sie uns doch mal, wie ein Geheimdienst solche Datenmassen handhabbar macht. Wie können die Schlapphüte aus solchen Datenbergen überhaupt noch etwas Verwertbares herausfiltern?
Mayer-Schönberger: Das ist genau der entscheidende Unterschied zur Vergangenheit. Auch in der Vergangenheit haben die Geheimdienste sehr viele Informationen gesammelt, aber in der analogen Welt wurden diese Informationen dann einfach abgelegt – so ein bisschen, wie es die Stasi auch gemacht hat. Das brutal andere im Zeitalter der digitalen Daten ist, dass man diese Daten auch nahezu in Echtzeit auswerten kann. Die NSA hat dazu riesige Daten-Center errichtet mit Hunderttausenden von Servern, und die können nicht nur die Informationen, die sie gespeichert haben, sehr rasch wiederfinden, sondern sie können diese Informationen zu großen Profilen, großen sozialen Netzwerkprofilen zusammenbauen und damit Verhalten von Menschen vorhersagen.
"Hier geht es um eine neue Qualität"
Kapern: Sie sprechen von Profilen, von sozialen Profilen, die da erarbeitet werden. Ist das erst möglich, seit nicht nur aus einem Bereich Daten gesammelt werden, beispielsweise Daten über den Internet-Verkehr oder den Handy-Verkehr, sondern seit mehrere Daten-Pools zur Verfügung stehen? Ich habe ja eingangs gesagt, dass die Geheimdienste auch verfügen über Reisebewegungen, Informationen von Fluggesellschaften, oder über den Bankenverkehr. Besteht darin das Grundproblem?
Mayer-Schönberger: Ja, die Zusammenführung von unterschiedlichen Datenbeständen ist schon etwas, was ein viel genaueres Bild erlaubt. Aber das alleine ist noch weniger "problematisch", denn das würde uns ja nur möglicherweise näher an Orwells Überwachungsstaat bringen. Nein, hier gibt es eine neue Qualität, und die neue Qualität ist nicht mehr nur zu wissen, was jeder in der Vergangenheit getan hat, sondern aus der Vergangenheit die Zukunft vorhersagen zu können, zum Beispiel zu glauben, vorhersagen zu können, ob ich heute bei Rot über die Ampel gehe oder nicht, ob ich ein illegales Verhalten an den Tag legen werde und mit welcher Wahrscheinlichkeit, und dann auf einzelne Menschen zuzugreifen, sie zu verhören, vielleicht sogar ins Gefängnis zu stecken, nicht für das, was sie getan haben, sondern nur für das, was der Algorithmus vorhersagen wird, sie vielleicht tun werden.
Kapern: Das müssen Sie uns noch genauer erklären. Wie sage ich zukünftiges Handeln voraus auf der Grundlage von Daten, die ja doch die Vergangenheit oder bestenfalls die Gegenwart betreffen?
Mayer-Schönberger: Da stellt sich grundsätzlich heraus, dass Menschen relativ gut vorhersehbar sind in ihrem Verhalten, dass, wenn wir bestimmte Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben in der Vergangenheit, auch damit zu rechnen ist, dass wir uns auf eine bestimmte Weise in der Zukunft verhalten werden. Und was die Amerikaner nun tun, was der NSA nun tut, ist: Er schaut, wie bei Terroristen ihre Sozialkontakte ausgestaltet sind, wie viele Sozialkontakte sie haben, wie diese Sozialkontakte wieder mit anderen Sozialkontakten in Verbindung stehen etc. Man nennt das die Auswertung der Netztopologie seiner Sozialkontakte. Und dann, wenn man das ermittelt hat, wie so ein Profil für einen klassischen fundamentalistischen Terroristen aussieht, dann sucht man in der Datenbank danach, wer denn noch so ein ähnliches Profil hat, selbst wenn er bisher noch gar nicht aufgefallen ist, und der- oder diejenige kommt dann in das Visier der Ermittler und wird dann möglicherweise verhört oder noch stärker bestraft. Hier geht es in Wirklichkeit darum, zukünftiges Verhalten vorherzusagen und Menschen dafür verantwortlich zu machen nicht für das, was sie getan haben, sondern nur für das, was, noch einmal gesagt, der Algorithmus vorhersagt, sie tun werden. Und das ist hoch problematisch, weil es eben immer nur mit einer Wahrscheinlichkeit arbeitet.
Kapern: Was genau würde das bedeuten, wenn so etwas nun flächendeckend Einzug hält?
Mayer-Schönberger: Das würde bedeuten, dass wir uns mit großen Schritten in eine Gesellschaft bewegen, die so funktioniert wie im Hollywood-Film "Minority Report", wo die Menschen aus dem Verkehr gezogen werden aufgrund einer Vorhersage, die der Staat über ihr zukünftiges Verhalten macht. In einzelnen Bereichen funktioniert das in Amerika schon. Zum Beispiel die Frage, ob jemand in Amerika auf Bewährung freikommt oder nicht, aus der Haft entlassen wird vorzeitig, wird schon mit so einer Big Data Analyse gemacht.
Kapern: Professor Viktor Mayer-Schönberger vom Internet Institut der Universität Oxford. Das Gespräch haben wir vor einer guten Stunde aufgezeichnet.
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