25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus ist in vielen osteuropäischen Ländern die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit noch in vollem Gang. So auch in Rumänien. Dort gibt es bereits seit Mitte der 1990er-Jahre eigene Institute für die Erforschung von Totalitarismus und Kommunismus sowie ein Dokumentationsarchiv der Geheimpolizei Securitate. Dennoch findet sich in der Bevölkerung noch keine ausgeprägte, selbstkritische Erinnerungskultur. Das betont der Theologe und Leiter des Instituts für die Erforschung der kommunistischen Gewaltverbrechen, Radu Preda.
"Rein anthropologisch-politisch gesprochen droht uns, den Kommunismus zu einer Art Tornado hochzustilisieren, als wäre das eine Naturgewalt gewesen, für die niemand verantwortlich ist - und nach diesem Tornado machen wir uns nicht mehr auf Suche nach Trümmern oder Opfern, sondern schauen nur geradeaus. Diese Art von Verniedlichung der Geschichte und Verkleinerung des Impacts nach dem Motto: Wir haben eine Zukunft, aber was interessiert uns die Vergangenheit, ist höchst gefährlich und giftig."
Preda: Theologie weist über irdische Gerechtigkeit hinaus
Predas Ziel ist es dagegen, eine Erinnerungskultur nicht nur in Form von Gedenkorten oder Gedenktagen zu etablieren, sondern das Wissen um die Vergangenheit als Teil der eigenen Identität zu begreifen, den man nicht verdrängen darf:
"Ich vertrete die These, man kann so eine grausame Periode nicht nur unter dem Stichwort Geschichte lernen. Kommunismus hat zum Beispiel ein Kapitel der rumänischen Literatur bedeutet, hat eine bestimmte Sprache bevorzugt. Man sollte über den Kommunismus in der Musik lernen: Die Art der Propaganda, die über uns gegossen wurde mit Liedern und Hymnen auf das Ehepaar Ceausescu. Das ist also eine Frage, das Thema so zu verankern, dass niemand eine Ausrede haben kann, ich davon nie gehört oder ich wusste das nicht."
Dass mit Preda seit April ausgerechnet ein rumänisch-orthodoxer Theologe die Leitung dieses von der Regierung finanzierten Forschungsinstituts übernommen hat, sieht der 41-jährige Gelehrte durchaus als Vorteil. Schließlich sei es gerade die Theologie, die über eine bloße irdische Gerechtigkeit hinausweise. Sie halte den Wert der Erinnerung an die Opfer hoch:
"Als Theologe kann man schon darauf hinweisen, dass die Justiz nicht nur eine materielle Seite vor Augen hat, nach dem Motto: Was genommen worden ist, wird zurückgegeben. Es geht nicht um eine Rehabilitierung von Verhältnissen, die vor dem Kommunismus geherrscht haben, sondern es gibt auch eine immaterielle Dimension der Justiz: Das heißt, selbst wenn die Leute nicht mehr unter uns sind, selbst wenn ihre Peiniger nicht mehr unter uns sind, sollen wir zumindest mit den Mitteln der Justiz das Recht auf Erinnerung aufrecht erhalten. Es geht um den paulinischen Appell, dass wir nicht vergessen, was die Vorgänger Großes getan haben. Es ist eine Frage der Erinnerung als ethischer Maßstab."
"Kirche war einer der ersten Gegner der Kommunisten"
Die rumänisch-orthodoxe Mehrheitskirche spielt bei der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit eine wichtige Rolle, weiß Preda zu berichten. So unterhält sie ein eigenes, bislang unzugängliches Archiv - und das aus gutem Grund, gebe es doch noch zahlreiche kirchliche Funktionäre, die ihre Karrieren dem Kommunismus verdankten. Außerdem würde manch ein kirchlich verehrter Widerstandskämpfer bei genauerer Betrachtung dunkle Flecken in seiner Biografie aufweisen, etwa Mitgliedschaften in faschistischen Vereinigungen. Insgesamt aber, da ist sich Preda sicher, war die Kirche im Kommunismus Opfer und nicht Täter:
"Der Kirche war natürlich nicht gelegen, dass die Kommunisten an die Macht gekommen sind. Diejenigen, die die Kirche kritisieren, vergessen, dass einer der ersten Gegner der Kommunisten eben die Kirche war - durch ihre Verkündigung, durch ihre Popularität, durch ihre Größe, was jetzt die orthodoxe Mehrheitskirche betrifft. Aus vielerlei Hinsicht war die Kirche eigentlich ein Störfaktor für die Machthaber damals. Deswegen haben sie sich konzentriert, alle Kräfte der neuen Macht, um die Kirche auszuschalten."
Im heutigen Rumänien ist die orthodoxe Kirche laut Preda wieder zu einer festen Größe mit großem gesellschaftlichem Einfluss geworden:
"Die öffentliche Relevanz der orthodoxen Kirche ist natürlich sehr vielschichtig. Es ist zwar richtig, dass die Aufbruchsstimmung der Neunzigerjahre als solche nicht mehr in dieser Intensität da ist, aber das ist auch ein Zeichen der Gesundheit des gesellschaftlichen Korpus. Wahrscheinlich sind wir zurückgekehrt zu einer gewissen Normalität."
Eine Normalität, die allerdings dadurch "außergewöhnlich" ist, dass Kirche und Staat in Rumänien zwar offiziell qua Verfassung getrennt sind, sie aber ein intensives Kooperations-Verhältnis pflegen:
"Ich würde die Beziehung so beschreiben, in dem ich das Beispiel aus Deutschland nehme und über eine "hinkende Trennung" spreche. Es ist doch eine Aufteilung der Aufgaben geistlicher und materieller Art. Weil aber der Bürger und der Gläubige in einer Person innewohnen, muss man sich als Staat und Kirche gemeinsam kümmern um seine Bedürfnisse. Das erklärt, warum zwischen Staat und Kirche kein programmatischer Konflikt besteht, sondern man bemüht sich um eine Zusammenarbeit, die aber die Unterschiede von Staat und Kirche nicht aufgibt."
"Ökumene leidet an gleicher Krankheit wie Demokratie"
Fast 90 Prozent der rumänischen Bevölkerung gehören der orthodoxen Kirche an. Der Anteil der Katholiken beträgt gerade einmal fünf Prozent. Ökumene spielt da nur eine untergeordnete Rolle, weiß Preda zu berichten:
"Die Ökumene ist eine Form, sich als Christ seiner eigenen Identität bewusster zu werden und ebenso bewusster sich den anderen zu öffnen. Aber das braucht Zeit und Raum und kann nur geschehen, indem man anfängt zu rezipieren, was bisher alles geschehen ist; an Dokumenten, an Begegnungen, an symbolischen Gesten. Die Ökumene leidet unter den gleichen Krankheiten wie die Demokratie: Sie wird zu wenig gelebt, aber dafür wird sie immer wieder zitiert als bester Weg, aber auf diesem Weg befinden sich zurzeit immer weniger Leute."
Innerhalb der Orthodoxie gibt es dagegen deutliche Spannungen. So ringen derzeit nicht nur der russisch-orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill und der Ökumenische Patriarch von Istanbul, Bartholomaios, um die Vormachtstellung. Nein, die orthodoxe Welt spiele geradezu verrückt, kritisiert Preda. Jüngstes Beispiel: die Ukraine. Dort drohe durch den Anspruch des russischen Patriarchen Kyrill auf ein orthodoxes Moskauer Protektorat ein neuer innerorthodoxer Konflikt. Das von vielen Kirchenvertretern ersehnte Ziel eines panorthodoxen Konzils scheint dem Theologen Preda daher in weite Ferne gerückt zu sein:
"Egal, wohin man blickt: Die orthodoxen Kirchen haben immer noch eine Agenda voller Themen, die meiner Meinung nach noch vor dem Synod gelöst werden müssen, sonst droht dem Synod der Kollaps, weil alle wichtigen Entschlüsse einstimmig beschlossen werden sollen. Wir haben zu wenig für die Vorbereitungen getan. Es klingt wohl ein bisschen komisch, wenn man bedenkt, dass die Vorbereitung des panorthodoxen Konzils beinah über 100 Jahre andauert. Aber wir haben zu wenig unter uns die Themen ausdiskutiert."