Dirk Müller: Darüber wollen wir nun sprechen mit Osteuropa- und Ukraine-Kenner Ewald Böhlke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag.
Ewald Böhlke: Einen wunderschönen guten Tag Ihnen.
Müller: Herr Böhlke, "Wir haben damit nichts zu tun", sagt der russische Außenminister Lawrow. Wir haben ihn eben hier im Deutschlandfunk im O-Ton gehört. "Wir haben damit nichts zu tun!" Glauben Sie ihm?
Böhlke: Das kann man nicht. Im Augenblick ist die Denkkultur im Prinzip relativ klar definiert. Russland hatte schon in der Krim gesagt, man habe nichts damit zu tun, mit den sogenannten Soldaten, die da ohne Abzeichen durch die Gegend liefen. Und es ist klar, es waren russische Soldaten. Und diese Voraussetzung führt dazu, dass man natürlich jetzt in der Ostukraine sehr genau hinhört. Sie haben ja Ihre Korrespondenten vor Ort. Die sollten sich bei den Youtube-Videos genau anschauen, wie die Soldaten sprechen. Da gibt es ganz einfache Kriterien zum Beispiel. Da gibt es Kriterien, dass man in bestimmten Regionen nur bestimmte Begriffe benutzt, wie zum Beispiel, wenn Soldaten auf einmal sagen, die jeweilige Zivilbevölkerung in der Stadt soll, bitte schön, an die Bürgersteige gehen. Das wird in St. Petersburg ganz anders gesprochen als zum Beispiel im russischen Teil der Ukraine oder in Moskau. Daran merken Sie deutlich, da sind auch Menschen dabei, die aus St. Petersburg kommen.
Müller: Also sollten wir Sprachwissenschaftler dort hinschicken?
Böhlke: Eigentlich müsste man das machen. Dann wüsste man genau, dass diese Leute nicht alle aus der Ostukraine kommen.
Müller: Sie, Herr Böhlke, waren neulich in der Region. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Böhlke: Mein Eindruck ist mehrfach. Erstens: Wir haben Gott sei Dank noch keine Verbindung zwischen diesen paramilitärischen Gruppierungen, die drin sind, und der Mehrheit der Bevölkerung. Das ist im Augenblick der Vorteil, den man hat. Ich hoffe, dass durch bestimmte militärische Auseinandersetzungen jetzt nicht etwas geschaffen wird, was man vielleicht in der Absicht gar nicht hatte, nämlich dass die Mehrheit der Bevölkerung sich auf einmal mit solchen separatistischen Strömungen verbindet. Das wäre das Kreuzgefährliche, was wir eigentlich erreichen können. Deshalb bin ich auch sehr entsetzt darüber, dass auf der ukrainischen Seite das als Anti-Terror-Kampf bezeichnet wird. Ich finde, wir sollten diese Begriffe sehr, sehr sorgsam prüfen, ob das die richtigen Begriffe sind, mit denen wir die Situation, die da in der Ostukraine entstanden ist, auch beschreiben, denn Anti-Terror-Kämpfe hatten wir bis jetzt auf El Kaida bezogen.
Müller: Aber war das nicht gegen die Milizen, gegen die paramilitärischen Milizen gerichtet, die Regierungsgebäude besetzen, die Gewalt anwenden, die schießen, die getötet haben?
Böhlke: Richtig! Da gibt es genau den Punkt. Hier müssen wir sehen, dass paramilitärische Milizen natürlich in der Westukraine und in der Ostukraine da sind, dass die Ausbildungslager für diese Milizen einige Jahre schon da sind. Und wir müssen natürlich sehen, dass diese paramilitärischen Milizen eine eindeutig klare Linie haben. Sie werden immer sehen: Es geht eine sehr organisierte militärische Einheit als Erstes rein. Danach kommen die sogenannten älteren Vertreter, die dann, sagen wir mal, die Fahnen hissen und so weiter, also die sogenannten Volksmilizen. Und dann kommen die Medien. Das ist immer jedes Mal ein Dreischritt, den können Sie jedes Mal beobachten eigentlich. Insofern da an dem Punkt, bitte, genau hingucken, deshalb bin ich so präzise an dem Punkt, damit wir genau sehen, was passiert da. Und da sind die Indizien klar: Es ist russischer Einfluss vor Ort.
Müller: Sie sind im Osten der Ukraine gewesen. Sie haben gerade Ihre Beobachtungen in Teilen geschildert. Sie haben vor allem auch ein Gefühl für diese Situation bekommen. Wir sind ja häufig dabei, die rationale Analyse ganz nach oben zu stellen, aber es gibt ja auch ein Bauchgefühl, das heißt, das, was man empfindet, was man sieht, was man hört, was man spürt. Wenn ich Sie als Kronzeuge jetzt hier in unserem Gespräch benutzen darf, wenn Sie russischstämmig wären im Osten der Ukraine, wären Sie dann auch für Russland?
Böhlke: Nicht unbedingt. Die Mehrheit der russischstämmigen Bevölkerung oder der russischsprachigen Bevölkerung – das muss man ja immer unterscheiden; wir verwechseln das immer mit unserem Nationalismusbegriff – ist, denke ich, ganz zufrieden, dass sie in der Ukraine lebt. Das ist eigentlich noch eine Situation, wo ich sagen würde, es ist eine Minderheit, die im Kern eigentlich in Richtung Russland marschiert. Das kann durch Eskalation, durch die völlige Verelendung, durch die völlige Anarchie im Alltag sich sehr, sehr schnell ändern, das haben wir gesehen. Und das ist genau meine Sorge, die eintritt, nämlich dass dann das Russischstämmige Halt sucht, wo gibt es den großen Beschützer. Und dann gibt es die Orientierung nach Russland. Noch ist die Situation nicht da, aber sie kann in den nächsten Tagen entstehen.
Müller: Bleiben wir beim Kronzeugen. Würde das stimmen, wenn ich bessere Sozialleistungen haben will, wenn ich bessere Wirtschaftsleistungen haben möchte, eine bessere Wirtschaftsperspektive, bin ich dann mit Russland bessergestellt?
Böhlke: Im Augenblick scheinbar kurzfristig ja.
Müller: Also Krim nachvollziehbar?
Böhlke: Krim ist ein Ausdruck dafür. Ich denke mal, mittelfristig wird es ein großes Jammern geben.
Müller: Die Regierung in Kiew – Sie waren im Osten des Landes -, kommt die dort an, gibt es die, wird die ernst genommen?
Böhlke: Nein, in keinster Weise. Und der Grund ist relativ einfach. Wenn Sie sich den Wahlkampf von Julia Timoschenko anschauen, wenn Sie sich die Gespräche der Regierungsmitglieder anschauen, dann sprechen die oft mit ihren eigenen Leuten, aber sie gehen nicht ran an die Bevölkerung. Es gibt das nicht, was ich seit Wochen fordere: runde Tische. Und das ist das eigentliche Drama, dass praktisch die Sprachlosigkeit der Mehrheit immer noch da ist. In einer Umbruchsituation muss man dafür sorgen, dass diese Sprachlosigkeit aufhört und die Mehrheit unterschiedliche Formen von Sprache findet. Und dafür wären runde Tische wunderbar. Die Regierung will es nicht, die Gouverneure, die von der Regierung eingesetzt sind, wollen es nicht. Man ist immer noch im oligarchischen System befangen und dadurch ist diese diffuse Situation im Alltag da.
Müller: Das ist jetzt nicht besonders originell, was ich sage; ich sage es trotzdem. Ausgerechnet in der Krise ist die Regierung, auf die es ankommt, in der größten Krise?
Böhlke: Ich habe den Eindruck, aus der Perspektive der Ostukraine ja, weil sie ganz bewusst nicht das macht, was man eigentlich machen muss, nämlich alle Kraft darauf wenden, vom Alltag der Menschen her zu kommen und zu sagen, was müssen wir tun, damit wir gemeinsam eine Zukunft in der Ukraine haben, das ist die eigentliche Frage. Und was kann jeder einzelne dazu beitragen, ob in Donezk, in Charkiw oder [Red. nicht verstanden] wo auch immer, was kann er konkret tun. Und ich denke, es gibt viele Menschen, die gerne was tun würden wollen, bloß sie werden nicht gefragt. Die Politik redet über die Köpfe hinweg.
Müller: Herr Böhlke, Sie kennen nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland. Wer könnte ein Vermittler, ein Ansprechpartner sein, den beide Seiten akzeptieren?
Über Ewald Böhlke
Ewald Böhlke ist Wissenschaftler. Er studierte bis 1989 in Berlin Philosophie und promovierte im Anschluss. Im Anschluss durchlief er verschiedene Lehrtätigkeiten und wissenschaftliche Anstellungen. Seit 2013 leitet Böhlke das Berthold-Beitz-Zentrum in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sein Spezialgebiet sind Themen rund um die osteuropäischen Staaten und die Szenariotechnik. Dazu publizierte er zahlreiche Schriften.
Ewald Böhlke ist Wissenschaftler. Er studierte bis 1989 in Berlin Philosophie und promovierte im Anschluss. Im Anschluss durchlief er verschiedene Lehrtätigkeiten und wissenschaftliche Anstellungen. Seit 2013 leitet Böhlke das Berthold-Beitz-Zentrum in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sein Spezialgebiet sind Themen rund um die osteuropäischen Staaten und die Szenariotechnik. Dazu publizierte er zahlreiche Schriften.
Böhlke: Das ist eine ganz, ganz schwierige Frage. Ich habe über Wochen immer wieder die OSZE dafür ins Spiel gebracht, weil sie neutral ist. Und wir haben alle 57 Staaten darin gemeinsam da. Und die leisten mittlerweile eine sehr, sehr gute Arbeit. Ich denke, die OSZE ist der richtige Ort, um das zu tun. Ich würde nicht auf die UNO gehen, wie es im Augenblick vom ukrainischen Präsidenten gefordert wird. Ich würde auf die OSZE setzen, weil es geht um die Frage der europäischen Kultur und der europäischen Orientierung Russlands. Das ist die zentrale Frage. Wenn wir diese Frage im Blick haben, dann ist die OSZE der richtige Vermittler, weil Russland sonst nach Asien abschwappt. Das war ja im vorhergehenden Beitrag auch zu hören. Das muss eigentlich, wenn man so will, nicht im Interesse der Europäer sein. Wir müssen ein Interesse haben, dass Russland seine europäische Orientierung bewahrt.
Müller: Sie sagen, nicht die UNO, auch weil sie nicht neutral ist?
Böhlke: Ja. Die UNO ist A zu weit weg und B, da sind die Einflusssphären durch den Sicherheitsrat, durch andere Dinge wieder ganz andere. Deshalb bin ich eher orientiert an der Frage, Russlands europäische Orientierung steht jetzt gerade auf dem Spiel. Und deshalb die OSZE. Wir müssen konkreter werden! Konkreter: Was heißt das im Umgang zwischen Staaten in der europäischen Welt. Das ist der zentrale Punkt, um den es geht, und nicht Allgemeinfragen von Krieg und Frieden und so weiter zu diskutieren.
Müller: Bei uns im Interview der Osteuropa- und Ukraine-Kenner Ewald Böhlke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören nach Berlin.
Böhlke: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.