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Ostukraine
Verzweiflung an der Frontlinie

Mit 30 Schusswechseln pro Tag sind die Kämpfe an der Frontlinie in der Ukraine wieder auf ihr trauriges Normalmaß herabgesunken. Für jene, die in der Kampfzone leben, geht das Grauen weiter. In der Stadt Awdijiwka leiden vor allem die Älteren. Sie trauen sich nicht, woanders noch einmal von vorne anzufangen.

Von Florian Kellermann |
    Ein Kämpfer des ukrainischen Rechten Sektors steht in einem beschädigten Gebäude in Awdijiwka.
    Ein Kämpfer des ukrainischen Rechten Sektors steht in einem beschädigten Gebäude in Awdijiwka. (dpa-Bildfunk / AP / Evgeniy Maloletka)
    Eine Straße im Südosten von Awdijiwka, von hier ist es nur wenig mehr als ein Kilometer bis zur Frontlinie. Sie liegt direkt hinter einem kleinen Hügel. Immer, wenn die Kämpfe aufflackern, dann sind die kleinen, einstöckigen Einfamilienhäuser hier in der Lermontow-Straße direkt in der Schusslinie. Dann fliegen "Kügelchen" durch die Luft, wie die Anwohner die Patronen aus den Maschinengewehren nennen. Oft gehen hier aber auch Geschosse mit großem Kaliber nieder:
    "Direkte Treffer, wir kriegen immer wieder direkte Treffer ab. Schauen Sie, in und um unser Haus herum sind mehrere Granaten eingeschlagen. Es zieht die Geschosse an wie der Honig die Fliegen. Zum Schutz vor Splittern haben wir Spanplatten vor die Fenster gestellt, aber auch die sind jetzt teilweise zerborsten."
    Warten auf den nächsten Einschlag
    Natalija Mykolajiwna führt durch ihr Haus. Was einmal das Wohnzimmer war, gleicht heute von innen einem Schuppen. Die Tapete hängt in Fetzen von den Wänden, der Putz ist von der Decke gebrochen und hat die Holzdielen freigelegt, an einer Stelle ist ein großes Loch. Dahinter: der graue Nachmittags-Himmel. Alle Blumen seien ihr erfroren, erzählt die 76-Jährige. Aber wenigstens wohne ihr Enkel noch bei ihr, sagt sie und rückt ihre blaue Strickmütze zurecht:
    "Ich lasse dich nicht im Stich, Oma, sagt er. Er arbeitet in der Kokerei am anderen Ende der Stadt. Wenn er abends um neun Uhr von der Bushaltestelle nach Hause geht, dann muss er sich immer wieder hinlegen oder hinter eine Mauer ducken, weil in der Nähe geschossen wird. Diese Erfahrung hier wünsche ich niemandem."
    Das Foto zeigt Natalija Mykolajiwna, eine 76-jährige Frau aus dem ostukrainischen Awdijiwka. (Yulia Samus)
 
    Um ihr Haus vor Granatsplittern zu schützen, hat Natalija Mykolajiwna Spanplatten vor die Fenster gestellt. (Yulia Samus)
    Zwei Zimmer haben sich Oma und Enkel notdürftig eingerichtet, bis zum nächsten Einschlag. Natalija Mykolajiwna kann sie nur mit einer Kerze zeigen, weil der Strom vor wenigen Tagen ausgefallen ist. An der rohen Wand hängt ein großer Teppich. Wenn es knallt, lege sie sich unter das Bett, erzählt die Rentnerin, denn Keller gibt es auf ihrer Seite der Lermontow-Straße nicht. Zu nahe sei das Grundwasser.
    Wie durch ein Wunder ist bisher niemand verletzt worden in der Straße. Wohl auch deshalb, weil viele schon geflüchtet seien, sagt ein älterer Herr auf der anderen Straßenseite:
    "Der Krieg hat alle auseinandergetrieben. Meine Kinder sind in Kiew. Die Nachbarn aus dem Haus da vorne sind nach Russland ausgewandert, die dahinter auch. Vor allem die Jungen sind weg. Die meisten sind jetzt in Russland."
    Der ältere Herr, Michail Iwanowytsch, hat eine Grubenlampe mit einem großen Akkumulator umhängen - wegen des fehlenden Stroms. Der 67-Jährige ist ehemaliger Bergmann und damit besser gestellt als andere Rentner: Er bekommt über 100 Euro im Monat. Durch die Inflation der vergangenen Jahre ist das aber längst keine stattliche Summe mehr. Dass ihm wie allen Ukrainer eine Kriegsabgabe abgezogen wird, empfindet Michail Iwanowytsch als Hohn:
    "Die werden für den Krieg auch noch bezahlt, die ukrainischen Soldaten, die hier stationiert sind. Als ich gedient habe, habe ich drei Rubel bekommen, das hat genau für Zahnpasta, für Schuhkreme und für Briefumschläge gereicht. Aber die kaufen Wodka und Bier. Sie bekommen wirklich Geld!"
    "Der Maidan ist Schuld am Krieg"
    Blick durch ein zerstörtes Fenster auf einen Panzer der ukrainischen Armee in der Stadt Awdijiwka in der Ost-Ukraine.
    Ein Panzer der ukrainischen Armee in der umkämpften Stadt Awdijiwka. Der Krieg habe alle auseinandergetrieben, sagen manche. (AFP / Alexeij Filippov)
    Der Rentner macht kein Hehl daraus, dass er nicht viel hält von der Ukraine. Seiner Ansicht nach ist der Maidan Schuld am Krieg - also die Proteste gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, die vor drei Jahren blutig zu Ende gingen.
    Man hätte die Demonstranten schon ganz am Anfang vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, prügeln sollen, meint er. Dann wäre es nie zum Zerwürfnis mit Russland gekommen.
    Zwei ukrainische Soldaten, die durch die Straße laufen, sind entsetzt von solchen Sprüchen. Die Demonstranten seien für die Demokratie eingetreten, sagen sie, bei den prorussischen Separatisten auf der anderen Seite der Front könne keiner ungestraft so schimpfen, sagen sie.
    Auch wenn das stimmt, die Menschen an der Frontlinie überzeugt es nicht, auch nicht Natalia Mykolajiwna:
    "Das ganze Leben haben wir doch für die Ukraine gearbeitet. Und jetzt? Als humanitäre Hilfe bekommen wir Hühnerknochen und Leber, die das Verfallsdatum überschritten hat. Als ob wir Schweine wären. Womit haben wir das nur verdient?"
    Gegen 16 Uhr sind von Ferne wieder die ersten Schüsse zu hören. Erst nur Maschinengewehre, dann schlägt irgendwo eine Granate ein. Natalia Mykolajiwna und die anderen in der Lermontow-Straße gehen jetzt lieber nicht mehr nach draußen. Sie fragen sich: Wo bleibt der Waffenstillstand, von dem immer wieder geredet wird?
    "Ich glaube nicht mehr daran. Ich bin 1940 geboren, im Krieg, und im Krieg werde ich wohl auch sterben."