Musik: Joseph Haydn
Eine unglaubliche Innigkeit hat das Haydn’sche Streichquartett in der hölzernen St. Elisabeth-Kirche mitten in Pärnu. Obgleich – oder vielleicht gerade weil in den Straßen vor der Tür das nächtliche Partyleben tobt und eine Menge Motorräder mit knallender Fehlzündung vorbeirauschen. Die Zuschauer umfangen das Signum Quartett förmlich mit ihrer Aufmerksamkeit, die Musik erklingt wie in einer Blase konzentrierter Inspiration.
"Das ist das Besondere am Pärnu Festival", strahlt Florian Donderer. Der erste Geiger des Signum Quartetts und der Kammerphilharmonie Bremen kommt seit dem allerersten Festivaljahr 2010 in die estnische Küstenstadt, zum Festival der Dirigentendynastie Järvi. Donderer ist auch der Konzertmeister des Pärnu Festival Orchesters.
"Das Festivalorchester ist der Kern, da spielen die Musiker, die Paavo im richtigen Leben, sozusagen kennengelernt hat und mit denen er auch persönlich eine musikalische Beziehung hat. Er ist ein unglaublich offener und sozial begabter Mensch. Wenn man als Musiker im Orchester etwas anbietet, dann springt er sofort darauf an. Und gleichzeitig ist das hier für die estnischen Musiker ein fester Termin, hier trifft man sich auch als Jugendorchester schon. Wir Gäste unterrichten auch, angebunden an dieses Festivalorchester gibt es auch ein Akademieorchester, dann sind hier Dirigierstudenten, die Dirigierorchester sind Jugendorchester."
Musikalisches Sommerfest der Generationen
Aus ganz Europa sind Musiker nach Pärnu gekommen, um Teil eines Sommerfestes der Generationen zu werden. Viele von ihnen sind Esten, die im Ausland arbeiten. Andere haben sich von deren Begeisterung anstecken lassen. Und die estnische Musikszene konzentriert sich für zwei Wochen sowieso in der kleinen Küstenstadt, wo die Familie Järvi ein Fenster in eine ideale Musikwelt öffnet. Paavo Järvi:
"Pärnu ist ein magischer Ort für uns, ein kleines Paradies. Denn es hat viele Qualitäten, die ein Festivalort braucht. Es ist eine kleine Stadt, es ist ein schöner Ort und es hat einen guten Konzertsaal. Wir nennen Pärnu die Sommerhauptstadt von Estland. Es gibt Strände, eine sehr entspannte Atmosphäre und für uns als Familie hat es auch einen sentimentalen Wert, denn wir sind alle hier aufgewachsen. Meine Großmutter ist hier geboren. Ich verbinde die schönsten Momente meiner Jugend mit Pärnu. Dies war ja ein geschlossenes Land und die Menschen durften ja nur innerhalb der Sowjetunion reisen. Estland hatte den westlichsten Ruf unter den Sowjetstaaten. Und das Klima ist im Sommer angenehm, viele ältere Menschen reisten lieber hierher als auf die Krim oder ans Schwarze Meer. Mit David Oistrach bin ich Ruderboot gefahren. Und Dmitri Schostakowitsch bin ich in Pärnu begegnet, als ich sieben Jahre alt war."
Kampf gegen das Vergessen
Sein Vater Neeme Järvi war in den 1960er-Jahren Chefdirigent des heutigen Estnischen Nationalorchesters, wurde vielfach ins Ausland eingeladen und brachte Werke estnischer Komponisten, etwa von Arvo Pärt zur Uraufführung. Er fiel in Ungnade bei der kommunistischen Partei, 1980 ging die Familie in die USA und kehrte nach der Perestroika zurück, sagt Paavo Järvi. Heute kämpfen die Järvis gegen das Vergessen der Sowjetzeit und dafür, die estnische Kulturszene zu stärken.
"Wir brauchen hier jeden, der Erfahrung hat und sie mit anderen teilen möchte. Denn das ist eines der Probleme mit jeder Art von Wissen: Es ist heute vielleicht mehr denn je im Internet verfügbar, aber es erreicht Sie nicht, wenn Sie nicht einen Grund haben, danach zu suchen. Wenn dagegen jemand sagt: Ich erinnere mich… Schostakowitsch hat mir dies gesagt und Leonard Bernstein das. Oder während der Sowjetzeit habe ich das und das erlebt. Dann schaffen Sie einen ganz anderen Zugang zu dieser Information. Deshalb ist jemand, der zum Beispiel als Solist persönliche Erinnerungen hat an die Arbeit mit den Berliner Philharmonikern oder einem Komponisten wir Arvo Pärt, als Konzertmeister. Dann hat er unglaublich viel mitzuteilen. Das erfährt man nicht aus Büchern, sondern nur aus erster Hand."
Dirigierkurs mit Paavo und Neeme Järvi
Der wichtigste Teil der Järvi-Akademie und damit das Herzstück des Pärnu Festivals ist der Dirigierkurs, bei dem junge Dirigierende mit einem Studentenorchester arbeiten und Paavo und Neeme Järvi mit auf der Bühne stehen und immer wieder eingreifen. Während dieser Meisterkurse sitzt das halbe Festivalorchester im Zuschauerraum, denn auch die Stimmgruppenführer wichtiger Orchester in Mailand, Bremen, London wollen an der langjährigen Erfahrung der beiden teilhaben. Neeme Järvi hat 1955 bis 1960 im damaligen Leningrad studiert und die größten Nachkriegsdirigenten persönlich kennen gelernt.
Dirigieren ist mehr als wild mit den Händen wedeln
Niemand macht sich eine Vorstellung vom Dirigieren! Dirigieren ist nicht nur den Takt zu schlagen. Es ist vielleicht so wie Malen. Man muss sehr aufmerksam sein und mit den Händen zeichnen, aber auch mit dem Ellbogen, dem Handgelenk. Von den jungen Leuten weiß niemand, wie man beim Dirigieren den gesamten Oberkörper benutzt. Sie denken, wenn man mit den Händen wedelt, wild und stark, dann machen sie etwas richtig. Das Publikum denkt auch: Ja, das ist dirigieren. Aber das ist ein Missverständnis. Dann sehen junge Leute mich und denken: Was ist das denn für eine Art zu dirigieren? Hier ist meine Antwort: Dirigent ist ein Beruf, für den man sein ganzes Leben lang lernt. Und zwar von großen Vorbildern. Ich habe zu Sowjetzeiten am Leningrader Konservatorium studiert. Ich bin historischen Dirigierpersönlichkeiten begegnet. Bruno Walter, Otto Klemperer, Fritz Stiedrich, dann dem russischen Dirigenten Malko und vielen mehr. Alle große Meister der alten deutschen Dirigierschule. Nur, wer zu den Konzerten der Großen wie Bruno Walter und Otto Klemperer gegangen ist, der ist auch ein großer Dirigent geworden."
Musik: Neeme Järvi dirigiert Joseph Haydn
Musik vom Kopf ins Herz
Neeme Järvi zählt ohne Frage dazu. In diesem Jahr ist das Pärnu Festival ganz dem 80. Geburtstag des Maestros gewidmet. Das Eröffnungskonzert mit der Streicherphilharmonie aus Tallinn, die fast komplett auch im Festivalorchester sitzt, zaubert den Zuschauern und jedem einzelnen Musiker ein glückliches Lächeln aufs Gesicht. Neeme Järvi:
"Es geht um die Kunst, mit dem Orchester zu kommunizieren. Die Musiker sollen mich nicht anlächeln, weil ich ein netter Typ bin. Darum geht es nicht. Viele Dirigenten möchten gern nette Typen sein, grinsen ständig ins Orchester – völlig unnötig. Wenn man sich aber tief in das Musikmachen einfühlt, dann lächeln alle automatisch – weil es so wunderschön ist. Haydn oder Mozart – oder dieses Stück von Rääts. Es ist hochrhythmisch, jeder ist zutiefst involviert. Und beim wunderbaren Haydn – ich zeige nur ganz wenig, und die Musiker reagieren sofort. Diese Art der Kommunikation mit dem Orchester ist notwendig, nur so kann man Kunst machen. Atmen und Phrasieren. Dann geht die Musik von hier – nach hier. Vom Kopf ins Herz."