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Patricio Pron: „Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf"
Eine geglückte Mischung aus Erzählung und Reflexion

Der Vater ist krank, der Sohn kehrt aus Deutschland nach Argentinien zurück. Daheim taucht er ein in Bilder und Erinnerungen der Vergangenheit. Das Argentinien der Militärdiktatur wird wieder lebendig. Ein aus Sicht unseres Rezensenten ebenso gelungenes wie vorzüglich ins Deutsche übertragenes Buch.

Von Martin Grzimek |
    "Kinder sind die Detektive ihrer Eltern, die sie in die Welt entlassen, damit sie eines Tages zu ihnen zurückkehren und ihnen ihre Geschichte erzählen, die ihnen selbst erst so verständlich wird. Sie sind nicht ihre Richter, weil sie Eltern, denen sie alles, ihr Leben, verdanken, nicht wirklich objektiv beurteilen können, aber sie können versuchen, Ordnung in ihre Geschichte zu bringen, ihren Sinn frei zu legen, (...) und diese Geschichte dann sorgsam im Gedächtnis zu bewahren."
    "Kinder sind die Detektive ihrer Eltern..." – das ist gewissermaßen das Programm, der Leitfaden des ersten Romans des 38jährigen argentinischen Autors Patricio Pron, dessen Titel "Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf" bereits auf ein Thema hinweist, das die jüngere Literatur Argentiniens wesentlich bestimmt. Es ist das Thema jener Generation politisch engagierter Menschen, die nach der Bekämpfung oligarchischer Strukturen im Land Mitte der 70er Jahre von einer brutalen Militärdiktatur zerschlagen wurde. Wer von ihnen das Land nicht verlassen konnte, dem drohten Verschleppung und Tod.
    Das "Verschwinden" von Andersdenkenden noch weitgehend unaufgeklärt
    "... gefoltert, vergewaltigt, zerstückelt, aus Flugzeugen geworfen und im Meer ertrunken, rücklings erschossen oder durch Schuss in den Nacken oder, sehenden Auges, in den Kopf."
    Bis heute ist das so genannte "Verschwinden" von Intellektuellen und Andersdenkenden in großen Teilen unaufgeklärt, bis heute demonstrieren die Mütter der Verschwundenen in Buenos Aires gegen das Verschweigen barbarischer Machenschaften der Militärdiktatur. Namhafte Autoren wie Eloy Martinez oder Elsa Osario haben diese Schicksale in ihren Romanen dargestellt, oft aus der Sicht der unmittelbar Betroffenen. Mit Patricio Pron meldet sich nun eine Stimme der Nachfolgegeneration zu Wort, nicht auf der Suche nach den Vermissten, sondern nach jenen, die diese Zeit der Folter und Unterdrückung überlebten, die Suche der Söhne nach dem Selbstverständnis ihrer Väter. Die Geschichte der Grausamkeiten und der Willkür ist zwar nicht vergessen, aber auch nicht mehr unmittelbar gegenwärtig, eine Geschichte aus zweiter Hand sozusagen, gleichwohl jedoch noch immer verstörend und belastend. Wie der Autor ist der Erzähler in dem Roman 1975 geboren und hatte eine mehr oder wenig behütete Kindheit, indem ihn die Eltern aus dem politischen Geschehen und der alltäglichen Bedrohung heraushielten.
    So setzt sich der Vater immer zuerst ins Auto und startet es. Erst nachdem er also gewiss sein kann, dass nächtens keine Bombe angebracht wurde, darf auch der Sohn einsteigen, um in die Schule gebracht zu werden. Trotz solcher Beschütztheit bleibt in den Kindern die Unruhe jener Jahre zurück und kann auch nicht von der späteren neoliberalen Politik, die "einen Großteil der Argentinier in den neunziger Jahren ins Elend gestürzt" hatte, aufgefangen werden. Daher verlässt der Erzähler das Land, um in Deutschland, genauer gesagt in Göttingen, Romanistik und Germanistik zu studieren. Acht Jahre bleibt er in Deutschland, acht schwierige Jahre, in denen er mit Depressionen kämpft, oft voll gepumpt mit Tabletten, die ihm nach psychiatrischen Behandlungen verschrieben werden, ihn dumpf und empfindungslos machen und ihm die Erinnerungen rauben.
    Rückkehr und Wellen der Erinnerung
    Aus diesem Zustand der Orientierungs- und Heimatlosigkeit wird er durch einen Anruf herausgerissen: Sein Vater wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, anscheinend dem Tode nahe. Voller Sorge, den Vater verlieren zu können, ohne mit ihm noch gesprochen zu haben, kehrt der Erzähler nach Argentinien zurück ins elterliche Haus zu seiner Mutter, zu seinen beiden jüngeren Geschwistern und zu dem mit dem Tode ringenden Vater. Diese Rückkehr wird nun von Wellen der Erinnerungen begleitet, von einer durch die Antidepressiva verzögerten Wahrnehmung der Gegenwart und zugleich durch ein fast hypnotisches Interesse daran, seine eigene Geschichte und die seines Vaters wenigstens bruchstückhaft aufzuarbeiten.
    "... die Generation meines Vaters war zwar anders gewesen, aber etwas an dieser Verschiedenheit bildete auf seine Weise einen Berührungspunkt, einen durch die Zeiten reichenden und uns trotz allem verbindenden Faden, und war erschreckend argentinisch: das Gefühl, in der Niederlage vereint zu sein, Väter und Söhne."
    Erinnerungsbilder, alte Fotografien, das elterliche Haus mit seinen Gegenständen und Büchern, die Erzählungen der Mutter und der Schwester und eine Sammlung von Zeitungsnotizen über einen Kriminalfall, fein säuberlich geordnet in einer Mappe auf dem väterlichen Schreibtisch, bilden nun den Hintergrund der Aufarbeitung der Vergangenheit, sind das Material des Detektivs, um den Fall "Wer war mein Vater?" aufzuklären. Zu erwarten wäre also eine Rekonstruktion und Investigation der Vergangenheit, hauptsächlich der 70er Jahre, zu erwarten wäre, eine Kriminalgeschichte mit der genauen Verfolgung von Tätern und Opfern.
    Geschickte Wahl: die offene Form des Berichts
    Und genau dies verbietet sich Patricio Pron und wählt dagegen äußerst geschickt die offene Form des Berichts, einer geglückten Mischung aus Erzählung und Reflexion, Beobachtung und Selbstbeobachtung. Was viele andere Romane zu diesem Thema geleistet haben: die Tragik der Geschichte und der in sie verstrickten Figuren und Menschen voller Empfindlichkeiten nachzustellen, um am Ende eine in sich geschlossene Erzählung vorzulegen, - dieses allzu Glättende des Widerspenstigen durch eine fiktive, literarische Form, durchbricht der Erzähler/Autor in der Differenzierung seiner Mittel:
    "Als ich die Fotos aus der Hand legen wollte, ... begriff ich zum ersten Mal, dass es nun an uns war, uns Kindern der in den siebziger Jahren jungen Generation, die Vergangenheit unserer Eltern aufzuklären, als wären wir Detektive, und dass, was wir heraus bekämen, einem Kriminalroman ähneln würde, ... aber mir wurde auch klar, dass es nicht in Frage kam, ihre Geschichte im Stil eines Kriminalromans zu erzählen oder ... dass man ihre Absichten und Kämpfe verraten würde (...), weil die Auflösung der meisten Krimis dem Leser gefällig ist, damit er (...) sich in der Überzeugung in die reale Welt zurückbegeben kann, dass das Verbrechen gebannt ... ist ... und die Welt außerhalb des Buches sich an den gleichen Prinzipien von Gerechtigkeit orientiert wie das erzählerische Werk und daher nicht in Frage gestellt werden darf."
    Mit der offenen Form, die Patricio Pron für seinen ersten Roman gewählt hat, in dem sich durchdringenden Nebeneinander von Erinnerungen, Empfindungen, Berichten, Dokumenten, Fotografien, von Geschichten, Träumen und Nachdenken hat er für sein Sujet der Vergangenheitsbewältigung ein überzeugendes, interessantes und sensibles Buch geschrieben über eine dunkle Zeit der argentinischen Geschichte, mit der sich auch noch seine eigenen Nachfahren auseinandersetzen werden müssen. In dem Roman "Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf" von Patricio Pron finden sie einen Weg dazu, den es sich lohnt weiter zu verfolgen, wie es allemal von hohem, auch literarischem Gewinn ist, diesen von Christian Hansen vorzüglich übersetzten Roman zu lesen.
    Patricio Pron: "Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf". Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 2013, 220 S., 18,95 Euro.