Das Attentat auf die parteilose Henriette Reker sei ein Grund zu mahnen und seine Stimme zu heben: "So können wir nicht miteinander umgehen". Gerade jetzt müssten Politiker standfest sein und eine Haltung bewahren, betonte der Minister des Innern, für Sport und Infrastruktur in Rheinland-Pfalz.
"Europa muss seiner Verantwortung gegenüber Flüchtlingen gerecht werden"
Trotzdem sprach er sich dafür aus, die Ängste der Bevölkerung ernst zu nehmen. "Wir müssen gesprächsbereit sein", sagte Roger Lewentz im Interview mit dem Deutschlandfunk. Den Vorschlag, im Hinblick auf die Flüchtlingskrise Grenzzäune zu errichten, lehnte Lewentz ab: "Zäune haben uns noch nie geholfen."
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Bettina Klein: Wir sind jetzt am Telefon verbunden mit Roger Lewentz. Er ist Vorsitzender der Innenministerkonferenz, gehört ebenfalls der SPD an, und ist auch Innenminister von Rheinland-Pfalz. Guten Morgen, Herr Lewentz.
Roger Lewentz: Guten Morgen, Frau Klein. Ich grüße Sie.
Klein: Herr Lewentz, wir hatten gestern so ein bisschen die Wahrnehmung, auch aus Nordrhein-Westfalen, Politiker reißen sich an diesem Morgen nicht unbedingt zu diesem Thema um Interviews. Umso besser, dass Sie Zeit für uns haben. Aber mal nachgefragt: Täuscht der Eindruck? Oder wollen manche das vielleicht noch gar nicht wahrhaben, dass wir jetzt in dieser Flüchtlingsdiskussion wirklich den ersten tätlichen Übergriff und einen Mordanschlag gegen eine Politikerin beziehungsweise Kandidatin gesehen haben?
Lewentz: Na ja. Ich finde sogar, dass das gerade ein Grund ist, seine Stimme zu erheben und zu mahnen und zu sagen, liebe Gesellschaft, so können wir nicht miteinander umgehen. Von daher: Als die Anfrage kam, war das für mich eine Selbstverständlichkeit. Aber man ist mehr als erschrocken. Das erschüttert schon, so etwas zu sehen.
Klein: Es bleibt heikel, denn wie will ich als Politiker vermitteln, dass ich die Sorgen der Bürger ernst nehme - das hören wir ja immer wieder -, und gleichzeitig dem Vorwurf begegnen, mich populistisch zu verhalten? Das ist im Augenblick keine einfache Gratwanderung für keinen Politiker.
Lewentz: Ja, die Zeit ist im Moment eine schwierige. Umso mehr muss man mit den Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Ich nutze jede Gelegenheit für öffentliche Veranstaltungen, für rauszugehen, für Gespräche zu führen, wobei nach diesem Messerangriff - das hatten wir zum letzten Mal vor 25 Jahren auf Herrn Schäuble und auf Herrn Lafontaine -, da ist man ja selbst auch schon in einem komischen Gefühl, wenn man in die Menge hineingeht. Und trotzdem: Es kann überhaupt kein Anlass sein, dass man sich abschottet, dass man sich zurückzieht. Wir Politiker müssen mit unserer Verantwortung so umgehen, dass wir uns den Menschen stellen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung.
Klein: Wir hatten heute Morgen auch schon die Frage mit Gerd Landsberg: Ist Personenschutz jetzt auch auf kommunaler Ebene erforderlich für Leute, die dieses Risiko eingehen?
Lewentz: Es ist ja so: Wenn es im Vorfeld Hinweise gibt, dann schützen wir Menschen. Da wo es keine Hinweise gibt, ist die Zahl natürlich bundesweit so groß und so unübersichtlich, dass man gar nicht wissen könnte, wo man anfangen soll. Das ist eine wirklich schwierige Situation und ich hoffe, dass Menschen jetzt innehalten, darüber nachdenken und überall, wo es Hinweise gibt, die auch sofort an die Polizei durchgeben. Da ist einer in meinem Bekanntenkreis, der ist immer radikaler geworden, der redet immer radikaler. Dann muss man durchaus auch den Mut haben, dies weiterzugeben.
Klein: Herr Lewentz, es hat ja nun eine parteilose Kandidatin getroffen, aber eine, die mit Flüchtlingspolitik beschäftigt war und bekannt war für ihre liberale Haltung und dafür, dass sie geworben hat für Verständnis. Wie groß ist denn Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass jetzt diese Einschüchterung funktioniert und Politiker glauben, dass sie mit der Meinung eigentlich nicht mehr an die Öffentlichkeit gehen können?
Lewentz: Ich hoffe, dass diese Gefahr nicht sonderlich ausgeprägt ist. Da muss man schon ein Stück weit auch standfest sein und muss trotzdem für seine Überzeugung eintreten. Das ist unsere Aufgabe, denn wenn wir als Politiker, als diejenigen, die auch Verantwortung tragen, diese Verantwortung nicht mehr wahrnehmen würden im Land, das wäre ja wirklich schrecklich. Und dann wäre es schlecht um unsere Gesellschaft bestellt.
Klein: Aber es ist eine Hoffnung, Ihrer Auffassung nach, denn wenn ich mit Mord bedroht werde, überlege ich mir möglicherweise, ob ich meine Haltung doch ein bisschen anders ausdrücke.
Lewentz: Ich will wirklich hoffen, dass das ein Einzelfall eines Extremisten, eines durchgeknallten Extremisten ist, der diese Gewalt ausgeübt hat, aber eben nicht einem Netzwerk angehört. Dass das nicht gesteuert ist, dass wir, hoffe ich, in den nächsten Wochen und Monaten keine weiteren Angriffe dieser Art erleben müssen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es diese Gefahren gibt, insbesondere dann nicht, wenn eine Stimmung aufgeheizt ist. Und das, was ich von den Pegida-Demonstrationen höre und sehe, diese Schilder, diese Galgen, diese schrecklichen Hetzparolen, da muss man schon sagen, da wird Stimmung angeheizt in einem Maße. Das ist nicht nur unerträglich, sondern da muss auch mit allem, was man hat, dagegen vorgegangen werden.
Klein: Viele, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht nur Politiker, auch Wissenschaftler, auch Kollegen, auch Journalisten sprechen von zunehmenden Zeugnissen der Politikverachtung, auch der Ablehnung des parlamentarischen Systems, die sich ausdrücken in E-Mails und in anderen Wortmeldungen. Wenn das ein etwas allgemeineres Phänomen sein sollte, wie kann Politik damit umgehen, damit fertig werden?
Lewentz: Natürlich bekomme ich auch diese E-Mails, diese teilweise hasserfüllten Aussagen. Teilweise sind es aber auch nur sehr, sehr zugespitzt kritische Aussagen, die einfach Ängste ausdrücken. Und mit diesen Ängsten in der Bevölkerung muss man ernst umgehen, die muss man zur Kenntnis nehmen. Deswegen sage ich, wir müssen das Gespräch weiter suchen, wir müssen gesprächsbereit sein, wir müssen Angebote unterbreiten. Und vor allem, wir müssen eine Haltung bewahren. Und diese Haltung in der Flüchtlingspolitik ist eine schwierige im Moment. Aber es muss eine klare Haltung da sein, die sagt, wenn Menschen nach Deutschland kommen, die zuhause aus Gründen von Krieg und anderen schrecklichen Ereignissen nicht mehr bleiben konnten, die müssen menschenwürdig aufgenommen werden. Das ist eine klare Haltung, die man dann auch zum Ausdruck bringen muss.
Klein: Ich kenne jetzt keine aktuellen Prozentzahlen, aber es gibt ja doch einige Bürger in Deutschland und die sind weit davon entfernt, zu Gewalttätern zu werden, aber die den Eindruck haben, es ist einfach zu viel und wir schaffen es nicht mehr. Gerade die Stimmen gibt es auch aus dem Süden Deutschlands, wo besonders viele ehrenamtliche Helfer unterwegs sind und diesen Eindruck vermitteln. Es muss doch auch inhaltlich eine Antwort gefunden werden, Herr Lewentz, und da stehen auch jetzt verschiedene Vorschläge im Raum, die möglicherweise konkretisiert werden könnten, nämlich zum Beispiel auch die nach einer Grenzsicherung, weil nur so dafür gesorgt werden könne, dass nicht weiter ungehindert immer mehr und immer mehr Menschen zu uns ins Land strömen. Was halten Sie davon?
Lewentz: Ich lehne diesen Vorschlag komplett ab. Zäune haben uns noch nie geholfen. Das ist ein verbaler Schnellschuss, den keiner, der ein bisschen Verstand hat, akzeptieren kann. Wir haben sehr davon profitiert, dass wir ein offenes Europa haben. Wenn ich über Europa spreche, dann muss die Bundesregierung es erreichen, dass Europa insgesamt seiner Verantwortung den Flüchtlingen gegenüber gerecht wird. Das heißt, auch die anderen Länder müssen anteilig Flüchtlinge aufnehmen. Das müssen wir in Europa hinbekommen. Man hält gerne die Hand auf, wenn es um deutsche Subventionen geht. Man muss auch die Lasten mittragen, das ist das eine. Die Gespräche mit der Türkei sind richtig. Und im Inland haben wir natürlich auch noch einen Schwung Hausaufgaben zu machen. Wir in Rheinland-Pfalz werden in diesem Jahr die 40.000 Flüchtlinge deutlich übersteigen, wie es aussieht. Wir haben trotzdem immer noch nur 20 Entscheider des Bundesamtes. Hier ist die Bundesregierung ebenfalls gefordert, diese Situation zu verbessern, dass es Klarheit gibt, dass wir dann, wenn Menschen anerkannt sind, die Verfahren dann auch ordentlich zum Abschluss bringen können. Und dort, wo keine Anerkennung möglich ist, die Menschen auch wieder nachhause gebracht werden. Das erwartet die Bevölkerung auch von uns. Im Übrigen hat uns der Bundesinnenminister versprochen, 40.000 Erstaufnahmeplätze in Verantwortung des Bundes einzurichten. Die sehe ich auch noch nicht. Also es ist auch noch eine Reihe von Hausaufgaben, die in Deutschland oder die von der deutschen Politik erfüllt werden müssen. Dann sehen die Menschen auch, dass sich etwas bewegt.
Klein: Ein weiteres Stichwort ist das der Obergrenzen, die gefordert werden. Und ich möchte Ihnen, Herr Lewentz, kurz mal einen O-Ton Ihres Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel vorspielen. Der ist ungefähr eine Woche alt von einem Parteikongress der SPD.
O-Ton Sigmar Gabriel: "Jeder weiß, dass wir es auf Dauer nicht schaffen werden, jedes Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge nicht nur aufzunehmen, sondern gut zu integrieren. Das weiß jeder. Übrigens weiß das auch Angela Merkel, aber sie spricht es nicht aus!"
Klein: Das ist ein ziemlich klarer Appell an die Bundeskanzlerin, zu sagen, wir brauchen Obergrenzen. Und ein Appell, der aus Ihrer Partei kommt, Herr Lewentz.
Lewentz: Zunächst einmal beschreibt Sigmar Gabriel hier die Situation. Wir rechnen in diesem Jahr damit, dass wir diese Million an Flüchtlingen erreichen, und Sie sehen, was im Land los ist. Und dass er sagt, in den nächsten Jahren kann es jährlich nicht über diese Grenze hinausgehen, weil wir das einfach nicht schaffen können, das kann auch jeder sehen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Das heißt nicht, dass wir uns an die Grenze stellen und dann einzeln zählen, sondern es ist eine Situation beschrieben, was wir leisten können und was wir nicht leisten können. Und ich finde, das ist eine relativ klare Aussage. Aber die Bundesregierung hat sich ja lange, lange gewehrt, von 400.000 auf 800.000 die Zahlen hochzusetzen derjenigen, die in diesem Jahr als Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden. Und wir wissen, dass auch diese 800.000, wenn es so weitergeht wie im September und im Oktober, nicht nach oben reichen werden. Deswegen hat Sigmar Gabriel gesagt, nach allem was er beobachtet - das deckt sich mit unseren Beobachtungen -, ist mehr als eine Million pro Jahr nicht zu schaffen. Ich hoffe, die Zahlen gehen deutlich runter, dass wir nicht Jahr für Jahr in den nächsten Jahren mit einer Million arbeiten müssen, denn auch das haben Sie zurecht beschrieben. Diejenigen, die unermüdlich im Einsatz sind, ganz, ganz tolle Leute, oftmals im Ehrenamt, die werden müde. Die sind langsam an dem Punkt angekommen, sie haben ja auch Familie, sie haben auch einen Beruf, wo dieser Einsatz so nicht mehr geht. Wir rufen nach der Bundeswehr, wir kriegen Unterstützung, aber das ist ein System, das ist sehr, sehr ausgedehnt im Moment und es kann schnell überdehnt werden.
Klein: Also noch viele offene Fragen vermutlich auch an die Politiker der Bundesländer und der Kommunen. Das war heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk Roger Lewentz, derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Lewentz.
Lewentz: Danke, Frau Klein! Schönen Tag! Auf Wiederhören!
Klein: Ebenso.
Klein:
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.