Geht es nach den Publikumsreaktionen, so war diese Inszenierung zweifellos der Flop dieser Saison. Solch ein heftiger Buhorkan wütete in München schon länger nicht mehr. Doch was war geschehen, warum so massive Abwehrreaktionen? Gab es pornografische Orgien? Wurde ein Werk sinnlos zertrümmert?
Nichts von alledem. Christiane Pohle hat lediglich Claude Debussys symbolistische Oper in ein aseptisches Gegenwarts-Ambiente verlegt - die Empfangshalle eines Hotels oder Büros. Neben der Rezeption gibt es mehrere Glastüren, die in eher undurchsichtige Zimmer weiter hinten führen, links steht ein großer leerer Kasten, dort qualmt es aus einer Dachöffnung. Alles Mystische, Verschwommene der Vorlage lässt Pohle beiseite. An diesem ziemlich unsympathischen Un-Ort trifft die nachtschattige Mélisande auf den sich rasch in sie verliebenden Pelléas. Dessen Halbbruder Golaud ist Mélisande eigentlich versprochen, aus Wut kappt er die Spitzen einiger eher mickriger Zimmerpflanzen. Der alte König Arkel schleicht mit einem Stuhl herum und ist eher Witzfigur denn Respektsperson. Alle im Stück vorkommenden Spielorte wie Wald, Grotte oder Brunnen gibt es nicht. Stattdessen zeigt Pohle die Handlung als inneres Drama. Oft singen und sehen sich die Protagonisten nicht an, einmal erscheinen merkwürdige Tierwesen, häufig wandern Statisten auf der Suche nach wer weiß was umher.
Pohles Konzept führt zu erheblicher Ermattung
So entsteht ein sehr künstliches szenisches Gebilde, das in den ersten drei Akten allerdings doch viele Situationen und Emotionen des Stücks adäquat übersetzt, vor allem durch die starke Präsenz der Darsteller. Elena Tsallagova singt Mélisande strahlend klar, mit feinen Spitzen. Elliot Madore ist ein kernig charismatischer Pelléas, Markus Eiche ein wuchtig bedrohlicher Golaud. Auch die kleineren Partien sind durchweg hervorragend besetzt, mit Alastair Miles' satt temperiertem Arkel oder Peter Lobert als Arzt. Letzterer misst zunächst bei sich selbst den Blutdruck, bevor er sich der sterbenden Mélisande zuwendet (zuvor wurde Pelléas von Golaud getötet). Wobei zuwenden bedeutet, singend über ihr Schicksal zu klagen und dabei geradeaus ins Publikum zu schauen. Pohles Konzept ist zwar stringent, führt aber irgendwann doch zu erheblicher Ermattung. In der Pause stöhnte ein ehemaliger bayerischer FDP-Minister lautstark über den Abend und meinte, er bleibe nur wegen der Erfrischungen auf der Premierenparty.
Vielleicht war's doch Absicht?
Regisseurin Christiane Pohle versucht im Grunde ein unsichtbares Theater zu erfinden, das sich nicht um Deutungen der Handlung und Handlungsorte schert, sondern Zustände der Protagonisten fokussiert und analysiert. Leider kommen vor allem im vierten und fünften Akt jedoch arg viele Statisten mit ins Spiel, die offenbar irgendetwas reparieren oder sehr langsam Stühle hin und her bewegen, sich setzen, wieder aufstehen, sich erneut an anderer Stelle niederlassen. Hier wird es dann öfters eher unfreiwillig komisch. Andererseits hat Malte Ubenauf am Regiekonzept mitgewirkt, und der ist langjähriger Mitarbeiter von Christoph Marthaler und Anna Viebrock. Vielleicht war's also doch Absicht?
Als spannenden Kontrast zur zurückhaltenden Szene dirigiert Constantinos Carydis das Bayerische Staatsorchester mit kräftigen Bewegungen, und das Ergebnis ist häufig laut, aber nicht grob, impulsiv, aber nicht ungenau. Statt subkutanem Rausch gibt es sehr direkte, regelrecht haptische Momente. Pelléas-Puristen mag das manchmal zu derb sein. Die von Carydis entfachte, gewaltige Orchestermaschinerie macht gehörigen Eindruck bei den lauten Stellen, aber er achtet auch auf viele zarte, filigrane Details.