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Pendlerverkehr
"Großer Teil der Erwerbstätigen steht kurz vor dem Burnout"

Die Folge des Pendelns seien eine große psychische und körperliche Belastung der Arbeitnehmer, sagte der Mobilitätsforscher Stephan Rammler im DLF. Den flexibilisierten Arbeitsmarkt erkaufe sich die Gesellschaft mit billiger Energie und langen Fahrdistanzen - der Forscher forderte deshalb eine Abschaffung solcher Anreize, etwa der Pendlerpauschale.

Stephan Rammler im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Der Mobilitätsforscher Stephan Rammler am 1.Juni 2016 in Berlin.
    Der Mobilitätsforscher Stephan Rammler (imago stock&people)
    Eine Ursache für das Pendeln sei ein deutsches Leitbild vom Eigenheim mit Auto, ein flexibilisierter Arbeitsmarkt mit häufigen Ortswechseln und die unterschiedlichen Arbeitsorte berufstätiger Paare. Diesen Lebensstil kaufe sich die Gesellschaft mit zu billiger Energie und langen Fahrdistanzen. "Ich bin glücklich, dass dieses Thema in der öffentlichen Debatte angekommen ist", sagte Rammler.
    Zahlreiche Pendler unterschätzten die psychische und körperliche Belastung der täglichen Fahrt von und zur Arbeit. "Es ist psychisch und körperlich anstrengend. Ein großer Teil der Erwerbstätigen steht kurz vor dem Burnout", sagte Rammler. Laut einer aktuellen Studie pendeln 60 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland zur Arbeit.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Christiane Kaess: Vielleicht gehören Sie auch zu denjenigen, die jeden Morgen, vielleicht auch in diesem Moment auf der Straße unterwegs sind, von ihrem Wohnort zum Arbeitsplatz. Und wenn Sie pendeln, dann kennen Sie auch die Nachteile: Stau oder volle öffentliche Verkehrsmittel, Hektik und Anspannung in einem Maß, das sich gesundheitsgefährdend auswirken kann. Davon ist man zumindest bei den Krankenkassen überzeugt. Für Verkehrs- und Bauplaner heißt die zunehmende Mobilität, sich immer mehr mit unsicheren Größen herumzuschlagen. Laut einer Auswertung des Bundesinstituts für Bau, Stadt und Raumforschung pendeln mittlerweile 60 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland vom Wohnort zum Job. Das ist ein Rekordwert.
    – Vor der Sendung habe ich mit dem Mobilitätsforscher Stephan Rammler darüber gesprochen. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob ihn diese Rekordzahl an Pendlern überrascht.
    Stephan Rammler: Nein, hat mich nicht überrascht. Ich bin ja ein bisschen in dem Wissenschaftsfeld unterwegs und forsche dazu. Ich bin eigentlich ganz glücklich, dass dieses Thema endlich mal in der öffentlichen Debatte angekommen ist. Das Pendeln und die aus dem Pendeln resultierenden Stressfaktoren für den einzelnen Arbeitnehmer und die Familien sind so groß, dass wir eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Debatte über das Thema bräuchten, wie wir anders damit umgehen.
    "Benzinpreise sind viel zu günstig"
    Kaess: Auf der anderen Seite könnten wir natürlich sagen, das ist eine natürliche Entwicklung, unser modernes Leben verlangt eben Flexibilität.
    Rammler: Ich persönlich sehe drei Hauptsachen oder drei Themenkomplexe oder Grundkomplexe, die da zusammenspielen. Das ist einmal das, was man als kulturelles Leitbild bezeichnen könnte. Wir haben in Deutschland ein nach wie vor vorherrschendes, sehr stark wirksames kulturelles Leitbild des Wohnens, das man als Eigenheim-Automobil-Kultur bezeichnen könnte. So machen das die Wohnsoziologen zum Beispiel und sagen, na ja, wenn Menschen ein bisschen Wohlstand erlangen, wenn sie in der Mittelschicht sich etablieren, wenn sie überlegen, wie wollen sie wohnen in Zukunft, ein bisschen Spielraum haben, dann werden sie sich wahrscheinlich für das Eigenheim entscheiden. Und das Eigenheim steht meistens nicht mitten in der Stadt, weil ja bekanntermaßen wenig Raum ist, um noch weitere Siedlungsgebiete auszuweisen. Diese Eigenheime stehen meistens in den sogenannten suburbanen Speckgürteln der Städte.
    Kaess: Das ist das Häuschen im Grünen.
    Rammler: Das ist das Häuschen im Grünen. Und klassischerweise hat sich Siedlungsentwicklung früher so gestaltet, dass die großen Eigenheimsiedlungen entlang der großen S-Bahn-Linien entstanden sind oder der Regionalbahn-Linien. Und in dem Augenblick, wo historisch betrachtet das Automobil vorhanden war, ob es nun in den USA war oder etwas später in der Bundesrepublik, war es dann möglich, auf der Basis dieser Verkehrstechnologie auch den dispersen Raum, der nicht mit dem öffentlichen Verkehr bislang erschlossen war oder auch sehr schwer erschließbar ist, generell mit dem Automobil zu erschließen und dann das Eigenheim zu bauen. Und quasi notwendigerweise ist damit verbunden der Automobilbesitz und ein Eigenheimkauf oder -besitz determiniert Automobilbesitz oft über drei oder vier Generationen hinweg.
    Kaess: Das Auto als Ursache. Welche Ursachen gibt es noch?
    Rammler: Nein, das Auto ist keine Ursache. Die Ursache ist der Lebensstil und das Automobil macht diesen Lebensstil historisch betrachtet irgendwann möglich. Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Das Zweite ist ein moderneres Phänomen. Das können wir bezeichnen als die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Wir haben ja nur noch wenige klassische Arbeitsverhältnisse, wo Menschen einmal in einen Job gelangen und dann 30 Jahre später in die Rente gehen und eine relative Stabilität in ihren Lebensverhältnissen haben. Und damit auch Wohnstandort-Entscheidungen relativ sicher treffen können.
    Heute ist es so, dass wir oft Wechsel im Jobverhältnis und der oft auch verbunden ist mit einem Wechsel des Ortes haben, der alle paar Jahre stattfindet. Und in so einer Situation ist es dann oft so, dass Menschen, die ohnehin schon wissen, dass sie demnächst wieder einen anderen Job annehmen müssen und woanders hinpendeln müssen, dann sagen, na gut, dann bleibe ich doch dort, wo ich mich auskenne, wo ich vielleicht schon ein stabiles soziales Umfeld habe. Und versuche, das Ganze mit dem Pendeln abzudecken. Das Ganze wird wiederum ermöglicht durch das Automobil und die wahnsinnig günstigen Energiepreise, die wir dann nutzen können und mit den Autos fahren können. Gemessen an den externen Effekten, das wissen wir ja alle, sind die Benzinpreise viel zu günstig. Auch das ist möglich, dann lange Distanzen zu pendeln.
    Kaess: Und einen dritten Grund sehen Sie auch noch?
    "Großer Teil der deutschen Erwerbsbevölkerung steht kurz vor dem Burnout"
    Rammler: Der dritte ist das, was ich neue Lebensformen nenne, Individualisierung, neuer Lebensstil, Lebensformen. Ein Beispiel ist die Emanzipation der Frau, die Integration der Frau in den Arbeitsmarkt. Wenn Sie eine Situation haben, wo beide berufstätig sind, und dann unzeitig, also nicht gleichzeitig beispielsweise Jobwechsel anstehen; so war das beispielsweise in meiner persönlichen Biografie. Ich habe den Job gewechselt, meine Gattin hatte den Job noch. Es war jetzt nicht zu erwarten, dass sie ihren Job aufgibt und mitzieht dorthin, wo mein Job ist, sondern ich habe dann angefangen, zu pendeln. So ähnlich ist es, glaube ich, bei vielen Biografien und Menschen. Die sozialen Netzwerke oder auch Patchwork-Familien, die dazu führen, dass Kinder vor Ort sind, die man nicht einfach mitnehmen kann, weil andere Väter da noch in der Stadt sind. All diese Dinge führen dazu, dass unser Leben komplizierter wird, und wir erkaufen uns das Ganze zu integrieren mithilfe sehr günstiger Energie und der Automobilität und den langen Fahrdistanzen, die wir uns dann selber zumuten. Und ein großer Teil der deutschen Erwerbsbevölkerung steht kurz vor dem Burnout allein deswegen, weil sie so wahnsinnig lange Distanzen fahren und das Pendeln eben nicht gesund ist.
    Kaess: Aber diesen Stress, Herr Rammler, den Sie ansprechen, nehmen die Menschen den nicht auch gerne in Kauf, um dafür zum Beispiel im Grünen zu wohnen?
    Rammler: Das kommt dazu. Ich glaube, viele überschätzen sich da auch. Viele überschätzen ihre eigene Fähigkeit, das Pendeln über lange Zeiten, über lange Distanzen zu verarbeiten, zu verkraften. Es ist wirklich auch körperlich und psychisch anstrengend. Und dann muss man unterscheiden, welche Pendeldistanzen sind denn eigentlich noch annehmbar und welche nicht. Wenn Sie sagen, 60 Prozent aller Deutschen pendeln, okay: Interessant sind die Langpendler, die Fernpendler, die über 100 Kilometer am Tag pendeln müssen, dafür lange Stunden im Auto sitzen.
    Kaess: Wie viele sind das? Kann man das prozentual sagen?
    Rammler: Das kann ich nicht sagen. Da bin ich jetzt nicht der Statistiker, der die Zahlen alle drauf hat. - Das mag noch angehen, dass man dann aus einer Stadt wie Braunschweig oder Berlin 20 Kilometer rauspendelt und dann wieder reinpendelt am Abend. Schwieriger ist es dann bei den langen Distanzen über 100, 150 Kilometer, oder bei den sogenannten living-together-apart-Modellen, wo wir Lebensstile und Lebensmodelle haben, Familienmodelle, wo die Partner sich nur am Wochenende sehen und dann lange Distanzen mit dem Flugzeug pendeln, zwischen Hamburg und München beispielsweise, oder auch europaweit. Das sind alles Dinge, die mit Hilfe günstiger Verkehrstechnologie, einem sehr gut ausgebauten Verkehrsnetz historisch betrachtet immer besser möglich wurden. Und dazu führen, dass Menschen weniger mit dem Wohnort umziehen als dann versuchen, das mit dem Pendeln zu integrieren.
    Kaess: Die Energiepreise haben Sie angesprochen. Welche Rolle spielen denn Subventionen wie zum Beispiel die Pendlerpauschale?
    Rammler: Na ja, die spielt natürlich eine große Rolle in der Stabilisierung dieses Lebensmodells. Sie hat sich historisch entwickelt. Sie war historisch. Als wir diese ganzen Probleme, über die wir heute reden, Klimawandel, Ressourcen und so weiter, noch nicht hatten, war das ja womöglich auch ein kluger Plan, zu sagen, wir erschließen günstigen Wohnraum außerhalb der Stadt, wir wollen, dass Menschen Eigenheime und Kapital anschaffen, sie sich absichern auch für die weitere Zukunft. Das gehört ja zum Sozialstaat dazu. Das unterstützen wir mit der Pendlerpauschale, dass die Menschen das auch noch darstellen können von ihren damals geringen Gehältern, das Pendeln zu bezahlen, das unterstützen wir staatlich.
    Das hat sich heute zu einer Bremse der Beharrung entwickelt. Jede Art von Nachhaltigkeitspolitik im Verkehr hat jetzt mit diesen etablierten und oft genug auch in die Finanzierungsmodelle der einzelnen Familien eingerechneten Subventionierungen zu tun. Die Pendlerpauschale wird ja von vielen eingerechnet quasi in die Finanzierung eines neuen Lebensmodells, wenn dann ein Haus gekauft wird. In dem Moment, wo das schwierig wird, stehen die dann plötzlich vor dem Problem, was sollen wir jetzt tun. Deswegen ist eine Abschaffung der Pendlerpauschale politisch auch so wahnsinnig umstritten und deswegen so ein großes politisches Thema, an das keiner heran will.
    Kaess: Welche Anreize sollte Ihrer Meinung nach denn die Politik jetzt setzen, um diesen Trend wieder umzudrehen, von dem Sie ja sagen, der ist eigentlich ungesund?
    "Die Pendlerpauschale abschaffen"
    Rammler: Die Politik hat viele Schwierigkeiten, das zu tun, weil sie es dort mit Dingen zu tun hat, die von der Ökonomie kommen, die aus dem Sozialen herauskommen. Wenn Menschen Lebensstile verändern, dann ist das erst mal Ausdruck ihrer Freiheit in einer freiheitlichen Gesellschaft. Wenn sie Patchwork-Familien leben, wenn Frauen anfangen, zu arbeiten, dann ist das ja alles Ausdruck von Freiheit und Emanzipation. Wenn das dann dazu führt, dass Pendeldistanzen größer werden, dann ist das etwas, was der Staat nicht unmittelbar lösen kann und womöglich auch nur bedingt dafür verantwortlich ist. Was er tun kann ist, natürlich Anreize zu setzen oder falsche Anreize zu lassen, die Pendlerpauschale wieder abzuschaffen. Man kann das ja auch ausschleichen, man kann das langfristig ankündigen und sagen, jedes Jahr ein bisschen weniger, dann können sich die Konsumenten darauf einstellen und ihre Lebensmodelle darauf ausrichten. Sicherlich ist auch wichtig eine klügere Standortpolitik, was jetzt Wirtschaftsunternehmen oder Einzelhandel angeht. Das ist relativ unreguliert in meinen Augen. Es wird jetzt nicht unbedingt nach einer Verkehrsgenese Evaluation betrieben.
    Hieße: Man muss mal genau gucken, was passiert eigentlich verkehrlich, wenn ich neue Standorte ausweise. Das wird zu wenig getan in meinen Augen. Große Arbeitgeber, die vorher womöglich dispers in der Landschaft verteilt waren und wo dann Arbeitnehmer relativ in der Nähe waren und nicht so weit fahren mussten, die legen ihre Zentralen zusammen aus Kosteneffizienzgründen, und plötzlich ist ein Arbeitnehmer, der vorher 15 Kilometer fuhr jeden Tag, vielleicht mit dem Fahrrad, in der Situation, 150 Kilometer zu der neuen zentrale des Arbeitgebers zu pendeln. All das passiert, ohne dass das politisch sehr stark beobachtet, reguliert oder gesteuert wird als Spiel der freien Kräfte des Marktes. Und da kann man sicherlich an der einen oder anderen Stelle regulierend eingreifen als Politik und sagen, wir bauen da Leitplanken. Und sagen, es muss doch mal auch geguckt werden, können die Leute da mit der S-Bahn hinkommen, oder wenn ein neuer Standort ausgewiesen wird, bauen wir vielleicht auch eine Regionalbahn-Linie dazu, dass die Menschen zumindest nicht immer gezwungen sind, mit dem Automobil zu pendeln und Verhaltensalternativen haben.
    Kaess: 60 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland pendeln von ihrem Wohnort zum Job. Darüber habe ich gesprochen mit dem Mobilitätsforscher Stephan Rammler. Danke für Ihre Zeit.
    Rammler: Danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.