Auch für den Rest der Welt werden die Folgen voraussichtlich gravierend sein, warnen Permafrostforscher. In dem gefrorenen Untergrund sind die Überreste von mehrere Millionen alter Vegetation eingeschlossen.
Das Tauen dieser Biomasse könnte immense Mengen der Treibhausgase Methan und Kohlenstoff freisetzen. Eine Expedition in eine Welt, die buchstäblich zusammenbricht.
"I officially open the 11th Conference on Permafrost. Enjoy the time here in Potsdam!"
Es ist der Morgen des 20. Juni, im großen Saal des noblen Kongresshotels. Wissenschaftler aus aller Welt sind nach Potsdam gereist, um ein Phänomen zu diskutieren, das sich gerade tief im Erdreich entlegener Weltgegenden vollzieht: Im Hochgebirge, in der Arktis und der Antarktis taut der Permafrost. Antoni Lewkowicz, Vorsitzender der Internationalen Permafrost-Gesellschaft:
"Warum ist Permafrost wichtig? Nun: Er zahlt unsere Rechnungen. Aber auch, weil Millionen Menschen auf Permafrostboden leben und vom Permafrost abhängig sind. Westeuropa bezieht sein Gas aus Sibirien, die Pipelines verlaufen durch Permafrost-Gebiet. Infrastruktur steht darauf, und die Kosten steigen erheblich, wenn sich der Permafrost erwärmt und taut."
Um bis zu zwei Grad haben sich die Permafrostböden in den vergangenen 20 Jahren erwärmt. Jetzt bricht für alle, die darauf leben, buchstäblich die Welt zusammen. Lewkowicz:
"Es ist auch wichtig wegen dem Kohlenstoff, der in Permafrostgebieten gespeichert ist. Es geht um eine enorme Konzentration: zwischen 13.000 und 15.000 Gigatonnen, etwa doppelt so viel wie sonst in der gesamten Atmosphäre. Bis zum Jahr 2009 haben wir nicht einmal geahnt, dass wir so ein enormes Problem überhaupt haben - eine unheimliche Vorstellung!"
Die Halbinsel Jamal: Zwischen Nomadismus und Rohstoffexploration
Jamal, Russlands hoher Norden: Der Himmel über der schneebedeckten Tundra ist durchdringend blau, die ersten Strahlen der April-Sonne kitzeln die Haut. Die riesige Halbinsel, die mit der dreifachen Größe der Schweiz ins Nordpolarmeer ragt, genoss bis vor kurzem den Ruf als eine der letzten unberührten Arktis-Regionen des Planeten, und als Refugium der Nenzen, der Ureinwohner Westsibiriens, die hier ihren Rentierherden hinterherziehen. Heute schreibt Jamal andere Schlagzeilen: Von hier aus will die russische Regierung das Öl und Gas der Arktis erschließen. Und die Klimaerwärmung bringt den Alltag der Arktis-Bewohner durcheinander.
Lebensraum von Familien in Gefahr
Tauwetter - und das in der zweiten April-Woche! Hier, im südlichen Teil von Jamal, rechnen die Rentiernomaden eigentlich frühestens Anfang Mai mit Plustemperaturen. Jetzt muss die Großfamilie in aller Eile den Weideplatz wechseln, sonst bleiben die Motorschlitten in Schneesulz und Matsch stecken.
Galina, die Nenzin, folgt mit Kennerblick den flinken Handgriffen ihrer Schwestern, die den Hausrat zusammenräumen:
"Aber das ist doch nicht schnell! Unser Zelt abbauen, das schaffen wir bei gutem Wetter in einer halben Stunde - ach was, 15 Minuten, und das Zelt ist weg!"
Als Zelt und Hausrat fest auf den Schlitten verzurrt sind, rammen die Frauen Pfähle in den Schnee und spannen Seile dazwischen - als Gehege für die Rentierherde, die die Männer gerade zusammentreiben. Sie muss jede Minute eintreffen.
Etwas abseits der Gruppe sitzt Zoja auf einem Schlitten. Das Zelt gehört der Familie ihrer Schwester, sie selbst ist hier nur zu Gast. Ihre eigene Herde hat sie im Winter 2013/2014 verloren - durch einen Schicksalsschlag, der in diesen Monaten viele Nenzen traf. Eigentlich war es nichts als eine Wetterkapriole. Der November hatte eine Wärmewelle und monsunartigen Regen gebracht. Dieser bildete auf dem gefrorenen Boden eine undurchdringliche Eisschicht.
"Mit so etwas hatten wir nicht gerechnet!", erinnert sich Zoja. "Wir standen doch genau an dem Platz, wo wir zum Jahreswechsel immer stehen! Wie hätten wir ahnen können, dass unsere Rentiere dort verhungern! Wenn der Schnee locker ist, dann können sie Moos und Flechten mit ihren Hufen freischarren. Aber in diesem Winter war er wie Beton. Und dann kamen auch noch die Stürme und die Kälte, 40 Grad minus! Die Tiere, die das überlebt haben, sind in alle Richtungen davongelaufen."
"Regen auf Schnee": Dieses Phänomen ist neu auf Jamal. In diesem Winter verendeten auf der Halbinsel über 60.000 Rentiere.
Permafrostböden haben sich zurückgezogen
Die Hunde bemerken das Eintreffen der Herde zuerst: Angetrieben von den Männern auf ihren Motorschlitten preschen über 200 Tiere auf das bereitstehende Gehege zu. Die Reise geht Richtung Norden - dorthin, wo für die Rentiere die Sommerweideplätze liegen. Die Herde von Bruder Jegor weidet das ganze Jahr über im hohen Norden. Er ist extra über 100 Kilometer mit dem Motorschlitten angereist, um der Familie beim Umziehen zu helfen:
"Bei uns gibt es Minustemperaturen von 60 Grad und kälter! Da hältst du deinen Finger raus, und sofort friert er dir ab! Nein, bei uns im Norden bemerken wir von der Klimaerwärmung nicht besonders viel. Obwohl: Der Wind hat merkwürdige Insekten zu uns heraufgeweht. Die beißen und machen die Rentiere verrückt - sehr lästig! Auch neue Vögel kommen jetzt aus dem Süden zu uns. Die schwarze Krähe lebt heute überall in der Tundra. Hmm. Seltsam ist das alles, sehr seltsam."
Was die Nenzen auf Jamal am eigenen Leib erfahren, das ist das Thema zahlreicher Studien - und die zeigen Dramatisches: Weil sich die nördlichen Regionen etwa doppelt so schnell erwärmen wie der Rest der Welt, haben sich die Permafrostböden mit ungeahnter Geschwindigkeit zurückgezogen - in Kanada und Russland beispielsweise um bis zu 100 Kilometer. In Böden, die früher zur Sommerzeit nur bis zu einer Tiefe von zwei Metern aufgetaut sind, lässt sich heute in einer Tiefe von bis zu 30 Metern eine Erwärmung nachweisen.
Gleichzeitig erodieren die Küsten - jedes Jahr durchschnittlich um einen halben Meter. Das hat einen fatalen Nebeneffekt für das Klima, denn in den Permafrostböden sind die Überreste von Jahrmillionen Vegetation eingeschlossen - Biomasse, die von Bakterien zersetzt wird, sobald sie taut, und die Treibhausgase Methan und Kohlenstoff freisetzt.
Wie wirkt sich die Klimaerwärmung aus? Die Internationale Permafrost-Konferenz in Potsdam
"Wir müssen lernen, wie wir den Wandel, den die Klimaerwärmung verursacht, managen können. Damit die Menschen dort und auf der ganzen Welt überleben können. Aber man braucht auch Spaß! Dann kann man sich besser auf das Lösen von wissenschaftlichen Problemen konzentrieren!"
Hans-Wolfgang Hubberten vom Alfred-Wegener-Institut begrüßt von der Videoleinwand 600 Wissenschaftler in Potsdam. Leben und Überleben der indigenen Bevölkerung, Permafrostboden und Treibhauseffekt, Stabilität von Infrastruktur auf tauendem Untergrund - Genetik, Ökologie, Datenfernerkundung: Auf der Internationalen Permafrost-Konferenz präsentiert sich ein Forschungszweig, der seit einigen Jahren geradezu explodiert. Hubberten:
"Langsam haben wir sichere Daten, flächenmäßig verteilt, und auch in immer längeren Zeiträumen. Das ist nicht nur ein Permafrost-Wetter, nein, es ist ein Permafrost-Klima."
Auf dem Potsdamer Telegrafenberg, weitab vom offiziellen Konferenzgeschehen, trifft sich ein Jamal-Arbeitskreis. Leben und Überleben in der sich wandelnden Arktis, ist das Spezialgebiet von Timo Kumpula von der Universität Joensuu in Finnland. Über die Wand flimmern die Satellitenbilder von Jamal:
"Erst gab es nur das Gasfeld Bovanenkovo, dann kamen Nowy Port und der Hafen Sabetta, jetzt sind weitere Gasprojekte geplant. Die Industrie kann zum Spinnennetz werden, das den Herden beim Durchqueren viel Stress bereitet."
Wo bis vor zehn Jahren noch einsame Tundra war, zerstückeln heute Industriegebiete, Fahrzeug-Trassen, Pipelines und Eisenbahngleise die Wanderrouten der Herden. Erdrutsche zerstören angestammte Weideflächen, Flüsse werden zu unüberwindlichen Hindernissen. Und auch das Klimaphänomen "Regen auf Schnee", das im Winter 2013/2014 zahlreiche Nenzenfamilien um ihre Herde brachte, könnte in Zukunft häufiger auftreten.
"Bei den Nenzen", führt Kumpula fort, "gibt es jetzt nur ein einziges Gesprächsthema: Wie wird der Winter? Denn die Tiere müssen ja überleben. Es reicht, dass im Frühjahr das Eis auf breiten Flüssen wie dem Ob zu früh bricht, schon können die Rentiere nicht mehr hinüber zu ihren Weideplätzen. Allein das ist immer ein Problem, wenn der Frühling zu früh kommt."
Als die Mittagspause kommt, schlendern die Grüppchen angeregt plaudernd in Richtung Kantine. Nur der Leiter des Arbeitskreises Jamal, Donald Walker von der Universität Fairbanks, bleibt nachdenklich zurück:
"Ich denke, am Ende haben wir Wissenschaftler eine sehr kleine Stimme - auch wenn wir eine Menge Fördergeld für unsere Projekte bekommen. Aber wenn es um politische Entscheidungen geht ... Ein großer Teil der arktischen Ökosysteme, die wir kennen und lieben, werden verschwinden. Wir wollen das nicht sehen, aber es wird wohl passieren. Ich weiß nicht, wie wir das verhindern können. Die Würfel sind gefallen. Der Wandel wird kommen."
Arktis-Forschung zwischen Tagespolitik und Wirtschaftsinteressen: In Walkers Heimat, in den USA, haben der Klimawandel, seine Ursachen und Konsequenzen, einen jahrelangen Grabenkrieg ausgelöst, der auch unter den Forschern mit harten Bandagen geführt wurde. Als Präsident Barack Obama im Jahr 2015 in Paris den UN-Klimavertrag unterschrieb, da war das für Donald Walker wie ein Meilenstein. Energie sparen, Treibhausgase vermeiden, fossile Rohstoffe im Boden lassen: Was internationale Wissenschaftler seit langem fordern, schien endlich auch in den USA zum anerkannten Staatsziel geworden zu sein. Und doch fördern die Rohstoffkonzerne heute so viel Öl und Gas wie selten zuvor. Walker:
"Sollen wir die Arktis erschließen, oder sollten wir sie nicht einfach in Ruhe lassen? Das Problem ist komplex! Aber irgendwie werden wir uns einen Weg bahnen müssen. Oder es wird uns gehen wie den Fliegen in der Milchflasche, die noch eine Weile atmen und dann alle sterben. Das kann passieren, wenn uns die Sache entgleitet. Kämpfen und diskutieren - das ist die einzige Hoffnung. Was sonst könnten wir tun? Ehrlich, ich habe keine Ahnung."
Damit die Industrieanlagen nicht versinken: Künstliche Kühlung in der Arktis
Es ist Anfang Mai, am Nordende von Jamal. Der Hammer saust nieder, das Schweißgerät sprüht Funken. Der kritische Blick von Bauleiter Sergej Vatschugin von Russlands zweigrößtem Gasunternehmen, Novatek, wandert die fensterlose, 45 Meter hohe Wand hinauf, die mit Rohrleitungen bestückt werden muss. Er steht in der Mitte eines kreisrunden Innenraums. Was aussieht wie eine überdimensionale Konservendose, ist in Wirklichkeit ein Tank für 160 000 Kubikmeter Erdgas. Genauer gesagt: Es ist eine Anlage für die Verflüssigung des Gases.
"Die Betriebstemperatur hier drinnen wird bei etwa 160 Grad minus liegen", sagt Vatschugin. "Um die Kälte zu halten, sind die metallischen Wände mit Nickel versetzt, das Dach besteht aus Aluminium."
Die Großbaustelle von "Yamal LNG" zählt zu den bedeutendsten arktischen Industrieprojekten weltweit. Verflüssigtes Erdgas, "Liquified Natural Gas", kurz LNG: Für Russland bietet das neue wirtschaftliche Perspektiven: Mit dem Gas, das die Energiegroßmacht jetzt im Norden von Jamal fördert, kann es die energiehungrigen Märkte Asiens direkt beliefern, ohne vorher Pipelines bauen zu müssen. In wenigen Monaten werden die LNG-Tanker über einen breit ausgebaggerten Kanal ins tosende Polarmeer stechen, begleitet von Atomeisbrechern, die Schneisen durch das Packeis schlagen. Vatschugin:
"Die niedrigen Temperaturen im hohen Norden sind für unsere Energiebilanz günstig. Für die Verflüssigung von Erdgas braucht man ja Minustemperaturen. Dazu kommt die gute Erreichbarkeit über den Hafen Sabetta, denn für den Warentransport ist der Seeweg am günstigsten."
Draußen erstreckt sich eine Landschaft aus Rohren, Containern, Hebebühnen und Baugerüsten. Hightech in der Eiswüste - in einem Gebiet, das nur per Schiff oder Flugzeug zu erreichen ist, weil die Sumpflandschaft die Asphaltierung von Landwegen über weite Strecken unmöglich macht. Für die Energiebilanz der Gasverflüssigung mag der arktische Standort günstig sein. Den Ingenieuren, die Gebäude und technische Anlagen bis zum Auslaufen der Lizenz im Jahr 2045 stabil halten müssen, sagt Vatschugin, verlangt das Bauvorhaben höchste Leistungen ab. Denn der Untergrund, auf dem es fußt, besteht nur zu 30 Prozent aus Sediment, der Rest ist Wasser - und das taut. So schnell und so tief, dass die bisherigen Erfahrungen mit Bautechniken in der Arktis überholt sind, erklärt Vatschugin:
"Wir stehen hier auf Permafrostboden. Um diesen stabil zu halten, nutzen wir so genannte Themostabilisatoren. Sehen Sie die silbrigen Vorrichtungen dort drüben? Diese sollen den Erdboden kühlen. Zusammen mit den Pfählen, die die Fundamente tragen, werden sie in den Boden gelassen. Gehen wir doch etwas näher heran!"
Dass Gebäude auf sumpfigen Untergrund mit Hilfe von Pfählen in der Permafrostschicht verankert werden müssen, das ist in der Arktis eine Binsenweisheit. Dass jetzt die Permafrostschicht selbst durch künstliche Kühlung stabil gehalten werden muss, das ist neu. Bei Yamal LNG ist das eine Herkulesaufgabe: An die 500 Hightech-Module mit einem Gesamtgewicht von 560.000 Tonnen müssen dauerhaft funktionsfähig gehalten werden, sagt Vatschugin:
"Hier also haben wir so einen Pfahl, sein Durchmesser beträgt 530 Zentimeter. Das Fundament, auf dem die Module stehen, fußt auf diesen Pfählen. Die Tragplatte wird auf die Pfähle aufgesetzt, und darauf stehen dann die Module. Anzahl und Länge der Pfähle bestimmt sich nach dem Gewicht des jeweiligen Moduls. Und die Thermostabilisatoren sorgen für eine dauerhafte Kühlung des Erdbodens."
Was bedeutet es für die Industrieprojekte der Rohstoffindustrie, wenn in der Arktis die tragende Eisschicht kollabiert? Auf der Permafrost-Konferenz in Potsdam ist das ein großes Thema. Denn in manchen Gegenden haben Straßen, Brücken, Eisenbahngleise und technische Anlagen bereits Schaden genommen, berichtet Antoni Lewkowicz, Geografie-Professor an die Universität Ottawa und der derzeitige Vorsitzender der Internationalen Permafrost-Gesellschaft. Stabilität ist das entscheidende Kriterium für die Wirtschaftlichkeit von Bauvorhaben. Und für die Bewohner entlegener Siedlungen ist sie überlebenswichtig:
"Wir haben nur lokale Lösungen, und auch die taugen nur für eine Übergangszeit. Die Methoden, die wir kennen, um den Boden zu kühlen, drücken die Temperatur um etwa ein Grad - und auch das nur in der unmittelbaren Umgebung des Pfahls, der die Infrastruktur im Untergrund verankert. Wir können die Fundamente von Gebäuden durch geschlossene Kühlsysteme (Thermosiphons) stabilisieren - das ist kostspielig, aber es ist möglich.
Manche Erwärmungsszenarien gehen allerdings davon aus, dass sich die Eisschicht bereits innerhalb der kommenden 20 oder 30 Jahre um ein Grad erwärmen wird. So viel Zeit gewinnen wir. Danach sind wir wieder dort, wo wir ohne Kühlsystem gewesen wären."
Methankrater im Permafrost: Normales Naturphänomen oder Folge globaler Erwärmung?
Nicht nur Infrastruktur bricht zusammen. Auch die Erde rutscht, Klippen brechen ab, Küsten erodieren, Seen entstehen, wenn der Permafrostboden taut, berichten die Referenten auf der Konferenz. Nur wenige Vorträge sind so gut besucht wie der von Marina Leibman.
Die Permafrostforscherin am Moskauer Kryosphären-Institut referiert über den Krater von Jamal: ein kreisrundes Loch im Tundra-Boden, das weltweit Schlagzeilen geschrieben hat. Irgendwann im Herbst des Jahres 2013 - ein Jahr nach dem außergewöhnlich warmen Arktis-Sommer von 2012 - muss es sich plötzlich aufgetan haben, nur wenige Kilometer entfernt von den Bohrtürmen des Gasfeldes Bovanenkovo. Kraterdurchmesser: 18 Meter. Kratertiefe: 70 Meter. Volumen des herausgeschleuderten Sediments: über 11.000 Kubikmeter. Methankonzentration innerhalb des Kraters: auffallend hoch, lauteten die Studienergebnisse nach der ersten Expedition. Inzwischen hat sich der Krater mit Wasser gefüllt, seine Wände sind eingebrochen. Marina Leibman:
"Jetzt komme ich zu den Schlussfolgerungen meines Vortrags: Ich sehe die Erwärmung der Erdschichten als Grund für die Kraterbildung. Das in den tiefen Erdschichten eingelagerte Gas ist unter Druck geraten. So kam es erst zu einer Aufwölbung der Oberfläche, und dann zur Eruption. Von Exkursionen, Satellitenbildern und Internet-Bildern wissen wir, dass es auf Jamal weitere Krater gibt. Das führt uns zu der Annahme, dass solche Krater sich bevorzugt an Abhängen, Seen oder Flüssen bilden - also in Gegenden mit durchlässigem Grundeis nahe der Erdoberfläche."
Sind die Krater die Folge eines Naturphänomens, das auf Jamal seit Urzeiten runde Seen entstehen lässt? Oder markieren sie den Beginn einer Periode massenhafter Freisetzung von Methan aus der Tiefe der Permafrostböden? Die russische Permafrostforscherin sitzt nach ihrem Vortrag bei einem Tee im Foyer und zuckt mit den Schultern. Diese Frage kann sie nicht beantworten. Aber sie fürchtet, dass auf der Halbinsel Jamal künftig noch mehr Krater entstehen. Und dass die gewaltigen Eruptionen, wenn sie in besiedelten Gebieten vorkommen, katastrophalen Schaden anrichten - insbesondere in den neu entstehenden Gewerbegebieten.
Sollte dann nicht auch die Rohstoffindustrie ein massives Interesse an der Frage haben, wie, wo und warum solche Krater entstehen? Die Moskauer Forscherin winkt ab. Mit den Vertretern der russischen Konzerne hat sie ihre eigenen Erfahrungen gemacht:
"Stellen Sie sich vor: Da ist ein Krater aufgerissen. Anfangs schien uns das so wichtig zu sein, dass wir neben zahlreichen Fachartikeln auch eine Reihe von Projektanträgen geschrieben haben - an alle, von denen wir dachten, dass es sie interessieren sollte. Besser gesagt: Der Vize-Gouverneur unserer Regionalregierung hat die Anträge verschickt - das alles fand also auf hoher Führungsebene statt. 'Finanzieren Sie unser Forschungsprojekt', lautete unser Vorschlag, 'dann unterstützen wir Sie bei der Untersuchung des Kraters'. Aber die Antwort war nur: 'Danke, aber sowas brauchen wir nicht. Was zu tun ist, wenn einmal ein Krater direkt unter unseren Pipelines aufreißt, darüber denken wir nach, wenn es soweit ist.'"
In der internationalen Wissenschaftsszene gilt die russische Permafrost-Veteranin als Koryphäe. Dass ihre Studien in Politik und Wirtschaft jemals etwas bewirkt haben, das glaubt Marina Leibman jedoch nicht:
"Nein, absolut nicht. Es ist gänzlich unmöglich, auch nur zu irgendeinem Entscheidungsträger durchzudringen. Was Wissenschaftler denken, das will niemand wissen."
Durch zu hohe Temperaturen werden Winterstraßen unpassierbar
Das Feuer lodert in den Nachthimmel, die Hitze drückt in Wellen in die Polarluft. Wie zwei überdimensionale Flammenwerfer ragen die Hochrohre vom Betriebsgelände des Ölfelds auf - ein wahrhaft atemberaubendes Schauspiel, das die geballte Energie der fossilen Rohstoffe im Tundraboden von Jamal ahnen lässt. Das Abfackeln von Methan gilt als wichtige Ursache für die Klimaerwärmung. In Westsibirien ist es bis heute weit verbreitete Praxis.
Auch Viktor, ein Lebensmittellieferant, starrt in die Flammen, sein tief gefurchtes Gesicht flackert in ihrem Widerschein. Der hagere Pensionär hat seinen museumsreifen Transporter am Straßenrand neben dem Eingangsbereich geparkt. Das Ölfeld wurde hier vor drei Jahren aus der menschenleeren Tundra gestampft:
"Nein, da lassen sie niemanden rein! Dort ist alles streng. Sofort kommt der Geheimdienst, und dreht einem jedes Läppchen aus der Tasche um, haben mir die Arbeiter erzählt. Ein Irrenhaus! Jeden Koffer machen sie auf!"
Viktors Ziel in dieser April-Nacht ist die fast 300 Kilometer von seinem Dorf entfernte Gebietshauptstadt Salechard. Der sumpfige Untergrund macht die Asphaltierung der Trasse unmöglich. Dennoch ist sie für hiesige Verhältnisse rege befahren, und sie wird von den Behörden überwacht. Im Frühjahr fährt Viktor solche Wege am liebsten des Nachts, wenn der Frost die beste Chance auf einen festen Untergrund bietet. Doch der Lichtkegel vor der Windschutzscheibe zeigt eine zerfließende Schneelandschaft:
"Die nächsten 80 Kilometer des Weges sind mit Sand ausgestreut. Danach geht der Spaß los: Dann müssen wir weitere 120 Kilometer auf einer Winterstraße fahren - und die besteht aus nichts als aus festgefahrenem Schnee. Wenn es warm ist, zerfließt sie und wird von den Behörden geschlossen."
"Winterstraßen" - so nennen die Bewohner von Jamal alles, was sich per Motorschlitten oder Kraftfahrzeug befahren lässt, sei es ein planierter Pfad oder ein zugefrorener Fluss. Für die entlegenen Siedlungen in der Arktis sind Winterstraßen die Lebensadern, denn bei Plustemperaturen braucht man für den Warentransport einen Helikopter oder ein Schiff.
Die Schlaglöcher sind wie Krater voller Schmelzwasser: Der Transporter schlingert, rutscht und hüpft wie ein Schiff in schwerer See. Nach drei Stunden Fahrt steigt schwarzer Qualm aus der Motorhaube. Immer wieder muss Viktor aussteigen, Öl nachgießen und die Leitungen kontrollieren. Schon säumen die ersten liegengebliebenen LKW den Wegesrand.
"Das ist zu früh für diese Jahreszeit!", sagt Viktor. "Aber was war das auch für ein Winter: Eine einzige Woche lang hatten wir Minustemperaturen von 40 Grad, sonst immer nur lächerliche 20! Früher dagegen waren 50 Grad minus für uns warm. 63 Grad minus wie im Jahr 1981 - ja das nenne ich Winter! Wenn du dann ausspuckst, dann fällt ein Eisbrocken auf den Boden!"
Die Berg- und Talfahrt geht weiter: hartes Bremsen und schwungvolles Anfahren über Stunden. Erst kurz vor Salechard steigt Viktors Laune: Fast geschafft! Doch plötzlich versperrt ein Schlagbaum den Weg:
"Der Weg ist gesperrt Ich muss erst fragen, ob sie mich zurücklassen oder nicht."
Der übermüdete Rentner ahnt Böses: Wird die Winterstraße in diesem Jahr tatsächlich drei Wochen vor ihrer Zeit geschlossen? Der Uniformierte in dem Bauwagen neben der Straße bestätigt die Befürchtung:
"Sie lassen mich nicht zurück. Der Typ sagt: Was interessiert es mich, wie Sie nach Hause kommen?"
Der Schlagbaum öffnet sich: Nach Salechard darf Viktor weiterfahren. Doch um den Heimweg anzutreten, muss er warten, bis der Untergrund neu gefriert. Das kann schon in der kommenden Nacht passieren. Vielleicht aber auch erst im nächsten Januar.
Die Klimaforschung wird politisch
Die Swing-Band spielt auf, und im Abendlicht auf der Terrasse tragen die Köche das Barbecue auf. In Potsdam endet ein langer Kongresstag. Die Gespräche unter den Wissenschaftlern aber gehen weiter - und die Themen an manch einem der elegant gedeckten Tische sind ernst.
Die jüngsten Modellrechnungen zeigen: Zwischen 60 und 200 Milliarden Tonnen an Kohlenstoff könnten bis Ende dieses Jahrhunderts entweichen, das ist der fünf- bis 15-fache Jahresausstoß der gesamten Zivilisation. Ganz zu schweigen von den immensen Mengen an Methan und Giften wie Quecksilber, die der tauende Permafrost freisetzen könnte. Und die Regierungen schauen tatenlos zu - den Beschlüssen des UN-Klimagipfels von Paris zum Trotz.
Was haben all die Prognosen und Warnungen der Wissenschaftler bislang gebracht für den Schutz des Klimas? Sinnfragen wie diese waren in der eingeschworenen Gemeinschaft bislang Privatangelegenheit. In Potsdam finden sie an diesem Abend ein Forum:
"Willkommen bei 'Permafrostforschung und Politik'. Ich freue mich, so viele Interessierte hier im Saal zu sehen, weil diese Veranstaltung sich ja etwas unterscheidet von den anderen. Weil es nicht um Wissenschaft an sich geht, sondern um die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik."
Volker Rachold vom Internationalen Komitee der Arktis-Wissenschaftler hat Referenten aus den verschiedenen Permafrost-Staaten auf die Bühne des Großen Saales geladen. Können sich Wissenschaftler mit ihren komplexen und oft widersprüchlichen Studienergebnissen Gehör verschaffen in der hitzigen Debatte um Rohstoffpolitik und Arktis-Schutz? So lautet das Thema der Diskussion. Aus dem Saal meldet sich ein Zuhörer zu Wort:
"Es ist doch so, dass der Permafrosteffekt alle Bemühungen um die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen zunichtemacht. Wie gehen Sie als Wissenschaftler und Politiker mit diesem Konflikt um?"
Fällt das Bemühen um den Klimaschutz in den Aufgabenbereich eines Permafrostforschers? Die Wissenschaftler haben das Verschwinden der arktischen Ökosysteme dokumentiert, Wechselwirkungen untersucht, Szenarien modelliert und technische Lösungen für lokale Probleme entwickelt. Viele Einzelfragen rund um Ursachen und Konsequenzen des Permafrost-Tauens sind inzwischen beantwortet, sagt Antoni Lewkowicz, der Präsident der Internationalen Permafrost-Gesellschaft. Die wichtigste Antwort aber müssen die Wissenschaftler am Ende der Konferenz schuldig bleiben:
"Wir wissen nicht, was zu tun ist, wir als Wissenschaftler", so Lewkowicz. "Das Grundproblem wird wo auch immer auf dieser Erde erzeugt, aber nicht in den Permafrostregionen. Darum wissen wir nicht, wie wir die Permafrostböden schützen können. Ich kann Ihnen aber meine persönliche Meinung sagen: Ich mache mir tatsächlich keine Sorgen darum, dass der gesamte Permafrost plötzlich abtauen könnte - das dürfte schon aus physikalischen Gründen nicht möglich sein. Nichts von dem, was passiert, wird schnell gehen. Es ist eher so wie bei einem Güterzug: Wenn der sich erst einmal in Bewegung gesetzt hat, dann dürfte es fast unmöglich sein, ihn wieder zu stoppen."
Es sprachen: Susanne Flury, Jochen Langner, Hendrik Stickan, Ilse Strambowski
Ton und Technik: Andreas Fulford
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Christiane Knoll
Ton und Technik: Andreas Fulford
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Christiane Knoll