"Das war der 7. Januar 2002, der schlimmste Tag in meinem Leben. Das war ein Schockzustand, der sich auch körperlich ausgewirkt hat, ich habe am ganzen Körper gezittert, ich habe Schweißausbrüche gehabt, weil in diesem Moment eine ganz große Zukunftsangst auf mich zukam."
An diesem 7. Januar 2002 erfährt die damals 36-jährige Jutta Vehling, Mutter von zwei kleinen, gerade mal dreijährigen Kindern, dass ihr Mann bald sterben wird. Seine ständigen Kopfschmerzen, seine Lethargie, die sie in letzter Zeit so genervt hat, es hat alles eine Ursache, sagen die Ärzte: Er hat Krebs - in der Lunge, auch schon im Gehirn. Zweieinhalb Monate später ist ihr Mann tot. Eine Familie gerät in den Ausnahmezustand.
"Es gab Zeiten, da kamen die Kinder weinend aus dem Schlafzimmer: 'Mama, möchte auch sterben, ich möchte zum Papa.' Das hat mich erst mal völlig geschockt, aber ja, das konnte ich ja verstehen. Ich hatte ja ähnliche Gedanken. "
Strategie für die Alltagsbewältigung
Die Verzweiflung droht sie völlig zu lähmen. Da entwickelt sie fast unbewusst eine Strategie, die ihr zunächst Halt gibt: Sie formuliert Sätze, die sie sich manchmal vor dem Spiegel stehend aufsagt.
"Ich habe mir irgendwann einen Satz formuliert, wo ich gesagt habe: Jutta, dir und deinen Kindern geht es gut. Wir sind soweit gesund, ich habe ein prima Umfeld gehabt, Freunde, Nachbarn, die mich sehr unterstützt haben, das hat mir sehr viel Mut gegeben, weiter zu machen. "
Doch irgendwann hilft auch diese Selbstbeschwörung nicht mehr.
"Ich habe auch Zeiten gehabt, da ging es mir so schlecht, ich fühlte mich so lebensunfähig, dass ich ziemlich heftig darüber nachgedacht habe, meinem Leben ein Ende zu bereiten.
Der Gedanke: Was ist mit deinen Kindern – den habe ich mir dann selber beantwortet: Du bist so lebensunfähig, du hast deine Kinder ja auch so erzogen, das heißt, die werden auch lebensunfähig, also nimmst du sie mit. Das war ein Punkt, wo ich dann gedacht habe: Hallo, da kommt ja gar keine "Nein"-Stimme in mir, da kam kein Widerspruch."
Gefühle ausleben hilft
Sie hat immerhin noch Kraft genug, einen Arzt aufzusuchen. Seine Diagnose lautet Depression und er verschreibt eine Psychotherapie. Die erweist sich als hilfreich, sie kommt aus dem Tal heraus. Sie gründet eine Selbsthilfegruppe für jung verwitwete Menschen. Jutta Vehling kann seitdem beobachten, dass zwar viele Betroffene mit der Zeit wieder Fuß fassen, manche schaffen es jedoch nicht. Sie werden psychisch krank, genau wie sie. Jutta Vehling vermutet:
"Dass es sehr häufig vielleicht auch ein bisschen damit zu tun hat, dass die ihre Gefühle gar nicht ausleben. Wo gehen die Tränen denn hin? Das sind doch Stresshormone. Wenn ich die runterschlucke, wo bleiben die denn? Die müssen mich doch unweigerlich krank machen."
Wohin das führt, hat sie am eigenen Leib erlebt. Doch mit dieser Phase hat sie endgültig abgeschlossen. Sie hat sogar wieder einen neuen Lebenspartner gefunden.
"Ich habe manchmal in schlechtes Gewissen, so was zu sagen. Aber ich habe heute sehr viel mehr Lebensfreude als früher."