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Petra Sitte (Die Linke) zum BVerfG-Urteil
"Eine Herausforderung für Opposition und Koalition"

Die Linke sieht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Rechte der Opposition im Bundestag jeden Abgeordneten "in einer persönlichen Verantwortung". Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linkspartei, Petra Sitte, sagte im DLF: "Ich würde das in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik als das Oppositionsurteil bewerten."

Petra Sitte im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin von Die Linke, im Bundestag
    Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin der Partei Die Linke im Bundestag (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)
    Thielko Grieß: Die Oppositionsfraktionen im Bundestag sind zurzeit wirklich klein. 80 Prozent Regierungsmehrheit stehen 20 Prozent Opposition entgegen. Das sind die Verhältnisse in dieser Legislaturperiode. Die Großen haben den Kleinen zwar einige Sonderrechte zugestanden, mehr Redezeit zum Beispiel oder das Recht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Aber die Fraktion der Linken wollte diese Rechte festschreiben lassen, damit die Kleinen künftig nicht mehr von den Zugeständnissen der Großen abhängig sind. Die Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe haben geurteilt, allerdings nicht im Sinne der Linksfraktion.
    Geklagt hatte die Fraktion Die Linke in Karlsruhe und die Geschäftsführerin dieser Fraktion heißt Petra Sitte. Mit Petra Sitte haben wir vor dieser Sendung ein Interview aufgezeichnet. Sie hatte in einem früheren Gespräch hier im Deutschlandfunk sinngemäß gesagt: Wenn das Bundesverfassungsgericht die Rechte der Opposition nicht stärkt, dann wird es nicht ruhig schlafen können, werden die Richter nicht ruhig schlafen können. Also erste Frage an Frau Sitte: Haben sich die Richter mit ihrem Urteil von heute nun schlaflose Nächte eingebrockt?
    Petra Sitte: Ich weiß nicht, ob sie deswegen schlaflos geworden sind oder gewesen sind, aber sie haben sich sehr intensiv mit all unseren Argumenten auseinandergesetzt, und das finde ich schon ziemlich bemerkenswert, dass sie die Zulässigkeit aller Anträge geprüft haben, was im Übrigen positiv ausgegangen ist, dass sie abgewogen haben die Argumente aus der Anhörung. Die war ja auch recht ausführlich und ziemlich tiefgründig.
    Grieß: Sie sind froh, dass es überhaupt zu so einem Urteil gekommen ist und Sie nicht vorher schon nachhause mussten?
    Sitte: Ja. Ich sage mal ein bisschen frech: Zu einem Urteil wäre es ja sowieso gekommen. Aber dass die Begründung noch mal sehr viele Aufgaben und Pflichten, abgesehen von den Rechten gegenüber dem Bundestag beschreibt und gegenüber allen Abgeordneten in ihrer ganz persönlichen Verantwortung als Abgeordnete im Bundestag, das ist ja nicht nur eine Herausforderung für die Opposition, sondern auch für die Koalition.
    Grieß: Nun haben sich die Richter insbesondere auf die Gleichheit der Abgeordneten, jedes einzelnen Abgeordneten berufen, nicht so sehr auf die Institution einer Fraktion oder gar der Opposition. Verkennen die Richter in Karlsruhe die parlamentarische Wirklichkeit, die ja vor allem die Fraktion kennt und das Fraktionsauftreten und nicht so sehr das des Abgeordneten?
    Sitte: Der Gegenstand des Bundesverfassungsgerichts ist natürlich auch eine Verfassungswirklichkeit, die im Bundestag ja zu beobachten ist. Aber zunächst einmal ist das Bundesverfassungsgericht an das Grundgesetz gebunden und das Grundgesetz sieht zwar so einen allgemeinen Grundsatz effektiver Opposition im Sinne von parlamentarischen Kontrollrechten geboten, aber es hat ausdrücklich gesagt, aus der Verfassung lässt sich kein besonderes Recht für die Opposition begründen. Das finde ich jetzt nicht so ganz schön, aber das Grundgesetz ist nun mal genau so und auch nicht ohne Absicht geschrieben und 25 Prozent als Quorum ist jetzt nicht interpretierbar. Das wussten wir. Aber umgekehrt sagt auch das Bundesverfassungsgericht, das haben Sie ja selber gerade gesagt, hier besteht gerade auch die Verantwortung von Abgeordneten. Und unsere Aufgabe würde ich jetzt so fortschreiben, dass ich sage: Wenn solche Gesetze im Bundestag auftauchen wie beispielsweise Tarifeinheitsgesetz, Mindestlohngesetz oder das Gesetz zur Mütterrente, die wir durchweg für normenkontrollwürdig gehalten hätten, weil wir sie für grundgesetzwidrig erachten, dann muss der Appell natürlich auch an die Abgeordneten der Koalition gehen und genau diese Verantwortung, die das Bundesverfassungsgericht dort angemahnt hat, auch von den Abgeordneten wahrgenommen werden.
    Grieß: Wenn Sie diesen Appell richten, dann, vermute ich, verhallt der relativ ungehört unter der Glaskuppel.
    Sitte: Ja.
    Grieß: Würden Sie nicht sagen, dass das Grundgesetz hier einen Konstruktionsfehler hat?
    Sitte: Nicht unbedingt, würde ich mal sagen, weil das Grundgesetz natürlich auch vor einem historischen Hintergrund damals aufgelegt und geschrieben worden beziehungsweise verfasst worden ist. Es ist ja in der Frage der Quoren dann auch schon eine Veränderung beschlossen worden. Aber immer schwebt im Raum bei dieser ganz bewussten Entscheidung Missbrauchsbedenken, und nun ist es ja so: Heute ist zwar auf der einen Seite eine Tür aufgegangen, aber man sagt ja immer, wo eine Tür zugeht, da geht auch eine auf. Und das Bundesverfassungsgericht hat an einer anderen Stelle, die für uns eine neue Option bildet, eine Tür wieder aufgemacht, indem es gesagt hat, wenn Gesetze für verfassungswidrig gehalten werden, dann kann die Opposition durchaus prüfen, ob das auf dem Wege einer Organklage festgestellt werden kann, wenn es uns als Opposition oder wenn es den Abgeordneten, die sich dieser Klage anschließen würden, gelingt nachzuweisen, dass der Bundestag in seinen Rechten sich selbst beschnitten hat.
    Grieß: Das wird tatsächlich erwähnt im Urteil. Da muss man ein wenig blättern, bis man zu diesen Absätzen kommt.
    Sitte: Ja.
    Grieß: Inwieweit wird Ihnen das nützen, dieses Organklageverfahren, Organstreitverfahren?
    Sitte: Indem wir es schlicht und ergreifend ausprobieren. Wir haben zum Beispiel solche Fragen wie Bundeswehreinsätze auf der Basis von Beschlüssen des Bundestages, bei denen wir sagen, die müssen doch trotzdem vor dem Hintergrund von Gesetzen, vor dem Hintergrund des Grundgesetzes auch überprüfbar sein. Es geht ja hier um elementare und um existenzielle Entscheidungen, und die können ja unmöglich über vier Jahre oder überhaupt über den Zeitraum einer so großen Koalition, womöglich über mehrere Legislaturperioden der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts entzogen sein.
    "Das ist für uns Neuland"
    Grieß: Und Ihr Argument wird sein, hier ist das Recht des Bundestages, darüber zu befinden, etwa über den Tornado-Einsatz über Syrien, beschnitten worden? Dieses Recht ist beschnitten worden?
    Sitte: Das prüfen wir jetzt gerade. Das muss natürlich auch schlüssig versucht werden nachzuweisen. Das ist für uns Neuland, das ist Neuland auch natürlich für das Bundesverfassungsgericht. Aber auch die Verfassungsorgane haben ja untereinander Verantwortung und auch Kontrollaufgaben. Das wäre jetzt ein Beispiel, bei denen wir darüber nachdenken. Mithin erwarten wir ja auch andere Gesetze, beispielsweise wenn Frau Nahles jetzt über diese Sozialleistungen und deren Aussetzung befindet, dann muss man dort noch mal schauen. Aber es sind ja bei Gott nicht die letzten Beschlüsse beziehungsweise Gesetze, die der Bundestag verabschiedet.
    Grieß: Sozialleistungen für EU-Einwanderer. Dieses Gesetzesvorhaben, das seit einigen Tagen bekannt ist?
    Sitte: Stimmt, wobei man da auch sagen muss, das ist EU-Recht, das dort mit berührt ist. Insofern ist das noch nicht schlüssig, nur als Überlegung mal so.
    Grieß: Insgesamt ist die Opposition und damit auch Die Linke heute nicht zahnloser geworden?
    Sitte: Nein! Ich würde das jetzt auch schon ein bisschen in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik als das Oppositionsurteil bewerten und dann auch in die Arbeit des Bundestages direkt mit einführen, weil man muss ja auch sagen, wir tun es ja nicht für uns. Es geht ja nicht um Die Linke, um die Opposition schlechthin, sondern wir vertreten ja immer Interessen. Es gibt ja hinter jedem Gesetz unzählige Betroffene.
    Grieß: Sie haben ganz uneigennützig geklagt?
    Sitte: Nein, natürlich nicht. Aber wir haben einen Wahlauftrag und diesen Wahlauftrag wollen wir natürlich mit allen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen nach Grundgesetz, umsetzen. Deshalb haben wir im Hinterkopf immer auch Betroffene. Wenn die jedes Mal vor das Bundesverfassungsgericht oder überhaupt über alle Instanzen klagen müssen, dann dauert das erstens Jahre, es kostet viel Geld und Nerven, und da können wir natürlich stellvertretend auch beispielsweise mit so einer Organklage, die überprüft, ob so ein Gesetz verfassungswidrig ist, wenn die Rechte des Bundestages beschnitten sind, einiges tun für Betroffene.
    Grieß: Petra Sitte, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, bei uns im Deutschlandfunk. Frau Sitte, danke für das Gespräch.
    Sitte: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.