Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz. Geboren 1954 in Rendsburg in Schleswig-Holstein, studierte er Geschichte und Romanische Philologie an den Universitäten Kiel, Freiburg im Breisgau und Rom. Von 1977 bis 1984 forschte er in Rom. Sein Verlag sagt über ihn: "Reinhardt gehört weltweit zu den besten Kennern der Papstgeschichte."
Andreas Main: Herr Reinhardt, was lässt sich von Petrus sagen, also jenem Mann, der in katholischer Tradition als erster Papst bezeichnet wird?
Volker Reinhardt: Gesichertes Wissen ist rar. Die Quellen sind sparsam. Wir wissen einiges über Petrus, bis etwa zum Jahr 48. Er gehört natürlich zum zentralen Bestand der Jünger um Christus. Er spielt auch eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen der ganz frühen Gemeindebildung, verschwindet dann allerdings früh.
Wichtiger ist, was wir nicht wissen. Wir können nicht sicher sagen, dass Petrus in Rom war. Dafür gibt es Quellen des Glaubens, die Jahrzehnte später entstehen, aber keine Quellen des Wissens. Und damit sind wir gewissermaßen an den Wurzeln des Papsttums. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Petrus in Rom war, denn Paulus, der dort war, hätte einen Kollegen und Rivalen, mit dem er oft nicht übereinstimmte, wahrscheinlich erwähnt.
"Kein Papsttum ohne die Annahme, dass Petrus in Rom war"
Main: Zumal das Ganze auch nicht ganz nah ist. Jedenfalls laut Google, was den Päpsten damals noch nicht zur Verfügung stand, sind es 3.500 bis 5.000 Kilometer, je nach Route, von Jerusalem nach Rom.
Reinhardt: Ja und ein einfacher Fischer, was hätte der in Rom, in der Weltstadt, gemacht? Und dafür spricht eigentlich nichts. Im Gegenteil, es spricht eigentlich alles dafür, dass das eine spätere Traditions- und Legendenbildung ist. Aber ist ja eine ganz, ganz wichtige. Ohne diese wissenschaftlich nicht haltbare, aber vom Glauben gestützte Annahme, dass Petrus in Rom war, gäbe es kein Papsttum.
Main: Die Führungsrolle des Petrus von Anfang an, diesen zentralen gedanklichen Stützpfeiler der katholischen Kirche, den durchzusetzen als geschichtlich wirkmächtige Idee, wie ist dieses Kunststück gelungen?
"Diese Zähigkeit macht das Papstamt einzigartig"
Reinhardt: Das ist in der Tat das Erstaunliche am Papsttum. Denn wir haben unter diesen, sagen wir einmal, 267 Oberhäuptern der Kirche ja kaum dynastische Verbindungen. Dass eine Familie zusammenhält und über Jahrhunderte ihre Macht und Größe steigert, das liegt in der Natur des Menschen. Wir haben ganz unterschiedliche Herkunftsländer, ganz unterschiedliche Bildungsgrade, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Interessen.
Aber selbst auf den Tiefpunkten der Geschichte sind alle Päpste letztlich auf die eine oder andere Weise bestrebt, die Größe des Amtes, seinen Radius, die Durchsetzungsfähigkeit seiner Ansprüche zu vermehren. Das ist eine sehr erstaunliche Kontinuität, wobei das Papstamt natürlich auch durch sehr viel Wandel, durch fast unvorstellbare Veränderungen und Verschiebungen gekennzeichnet ist. Aber daran haben alle festgehalten. Also, 16-jährige Knaben, die auf dem Tiefpunkt der Papstgeschichte den Thron Petri bestiegen haben, große gelehrte Päpste, die, wie der zweite Borgia-Papst, eigentlich nur ihre Familie im Sinn hatten, sie haben alle an den Vorrangpositionen des Amtes festgehalten. Und diese Zähigkeit, diese in der Geschichte einzigartige Verkettung und Kontinuität, das macht das Papstamt einzigartig.
"Die allerfrüheste Kirche war eine horizontale Kirche"
Main: Wenn ich diesem ersten Teil unserer Gesprächsreihe den Titel "Petrus und die ersten Päpste" gegeben habe, dann ist das aus Ihrer Sicht, wenn ich Sie richtig verstehe, auch ein wenig Unfug. So verstehe ich auch jedenfalls Ihr Buch. Denn demnach hat es gar keine Päpste gegeben in der frühen Geschichte der Kirche.
Reinhardt: Auf keinen Fall. Also, die allerfrüheste Geschichte zeigt uns – bei den wenigen Quellen, die wir haben – eine mehr oder weniger horizontale Kirche. Es gibt gewiss einflussreichere Persönlichkeiten, die besser predigen, die besonders intensiv Mildtätigkeit üben, aber eine Führungsstruktur, hierarchische Abstufung gibt es noch nicht. Ab der Mitte des 2. Jahrhunderts wird dann auch die Kirche Abbild der antiken Gesellschaft, stufenreicher, hierarchienreicher. Und im 2. Jahrhundert beginnt dann auch der Kampf um die Führungsposition innerhalb der christlichen Kirche, den das Papsttum, zumindest für den Westen Europas langfristig gewonnen hat.
Von Päpsten im Sinne eines zumindest voll entfalteten Machtanspruchs kann man ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vernünftigerweise sprechen. In welchem Maße sich diese immer kühneren Machtansprüche durchsetzen ließen, ja, da gibt es eben sehr große Unterschiede.
Letztendlich klafft fast immer ein großer Widerspruch, eine große Differenz zwischen dem, was die Päpste sein wollen und dem, was sie sind. Aber diese Machtansprüche, die sind um 400, kurz vor 400 mehr oder weniger fertig.
"Angeblich lückenlose Kontinuität"
Main: Es ist ja ein doppelter Machtanspruch. Nach innen als unfehlbares geistliches Oberhaupt, nach außen als Aufpasser und Kontrolleur der weltlichen Herrscher. Inwieweit ist dieser Anspruch im Kern in den ersten drei Jahrhunderten der Kirchengeschichte denn angelegt?
Reinhardt: Der erste Anspruch, Haupt der Kirche zu sein, sehr früh. Das beginnt auch mit den Listen der angeblichen ersten Päpste. Diese Liste wird auch im 2. Jahrhundert erstellt. Also, man untermauert den Anspruch auf Führungsposition mit der Gründung durch Petrus und durch angeblich lückenlose Kontinuität. Darin liegt eigentlich der Führungsanspruch über die Kirche wohl schon beschlossen.
Dass man eine Oberaufsicht über die weltlichen Mächte ausübt, diese Idee, diese Vorstellung und dieser Anspruch kommt im Laufe des 4. Jahrhunderts auf. Am Anfang ist das völlig illusorisch. Kaiser Konstantin ist Herr seiner Kirche, Papst Silvester seine Schattenfigur. Aber je schwächer die Reichsgewalt der Kaiser im Westen wird, desto mehr tendieren die Päpste zu dieser Obergewalt, dieser Oberhoheit, dieser Hegemonie, die natürlich auch in der Idee "Stellvertreter Christi auf Erden" angelegt ist.
"Das Papsttum ist ein ferner Ahnherr des Internet"
Main: Herr Reinhardt, was ist, sagen wir mal, für uns Heutige der relevante Erkenntnisgewinn, wenn wir uns diese vielen Wandlungen und Verwandlungen des Papstamtes anschauen?
Reinhardt: Nun, das Papstamt ist ein Leitmotiv unserer europäischen Geschichte. Seine Wandlungen sind die Wandlungen Europas in zwei Jahrtausenden. Viele wichtige Anstöße hat das Papsttum auch gegeben, etwa im Bereich Medienveranschaulichung, abstrakte Sachverhalte.
Also, das Papsttum ist in gewisser Weise ferner Ahnherr des Internet. Das Papsttum entwickelt neue Kommunikationsformen; und es ist zugleich eben eine faszinierende Studie über den Anspruch, immer so gewesen zu sein, also eine übergeschichtliche Kontinuität zu behaupten.
Die Päpste sehen sich ja letztlich über der Geschichte – sie verwalten die Geschichte bis zum Jüngsten Gericht – und der Tatsache, dass das Papsttum vielleicht stärker als jede andere Institution eben auch von diesen Wandlungen der Geschichte berührt worden ist. Das macht es faszinierend, glaube ich.
"Idee von einer höheren Macht zur Lenkung der Geschichte"
Main: Wenn wir uns die Päpste der ersten Jahrhunderte – die gar keine Päpste waren – anschauen, was ist prototypisch an denen? Ist es das Ringen darum, ob der römische Bischof eine wie auch immer geartete Vorrangstellung hat? Oder was hält diese Päpste der ersten drei Jahrhunderte zusammen?
Reinhardt: Gut, also über die ersten bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts wissen wir schlicht nichts. Das sind mehr oder weniger schattenhafte Namen, die auch nur durch sehr wenige später entstandene Quellen belegt sind. Danach …
Main: Welche Namen fallen Ihnen ein?
Reinhardt: Linus zum Beispiel, der Nachfolger des Petrus. Ein Eleutherius zum Beispiel. Namen, die wir nicht mit historischen Inhalten verbinden können, die wir aus einer später entstandenen Auflistung, Katalogisierung kennen. Theoretisch wäre es auch möglich, dass es sie gar nicht gegeben hat, aber es spricht vieles dafür, dass sie in der Gemeinde Rom in dieser ganz frühen Zeit eine gewisse Rolle gespielt haben.
Aber zurück zu Ihrer Frage. Was hält die greifbaren, die historisch fassbaren Oberhäupter der römischen Kirche zusammen? Eben diese Idee von einer höheren Macht zur, ja, Lenkung der Geschichte eingesetzt zu sein, die Menschen auf ein Jenseits hinzuführen, indem sie eine Ewigkeit gewinnen, die sie auf der Welt nicht besitzen. Und zugleich diese Welt, über die man sich keine Illusionen macht, von der man weiß, dass das Böse dort dominiert, doch letztlich so zu verwalten, dass sie die Schöpfung bewahrt, um es einmal so zu sagen. Das wäre die reine Ideologie.
Natürlich steht dahinter ein grenzenloser Wille zur Macht, der diese Institution auszeichnet. Macht kann eine Institution wie das Papsttum nur dadurch gewinnen, dass man Macht über das Gewissen, damit über die Ängste, die Heilsängste der Menschen gewinnt. Also, das Papsttum wird dadurch mächtig, dass es sich als Sachwalter zwischen Gott und den Menschen positioniert und damit Glaubwürdigkeit gewinnt. Und damit kanalisiert es die Kommunikation zwischen Mensch und Gott und verspricht den Gläubigen: 'Wenn ihr unseren Geboten folgt, dann werdet ihr das heißersehnte Heil gewinnen.‘ Das heißt aber auch, dass man die sündhafte Menschheit verwaltet.
Wenn die Menschen nicht sündig wären, bräuchten sie keine Kirche. Also, das alles hängt aufs Engste zusammen. Angst, schlechtes Gewissen, Hoffnung auf Erlösung durch Christus. Aber der Weg zu Christus führt über den Papst. Das wäre ungefähr die Konstruktion, die das Papsttum mächtig gemacht hat und - ich glaube - bis heute zu einer Schlüsselinstitution Europas macht.
"Päpste und die Oberhoheit über die weltlichen Machthaber"
Main: Und, wenn jene Kirchenleiter der Anfänge, wenn die sich nicht zu echten Päpsten entwickelt hätten, von denen im zweiten Teil unseres Gespräches die Rede sein wird, dann hätte die Kirche wahrscheinlich gar nicht überlebt.
Reinhardt: Das ist schwer zu sagen. Sicher nicht in der jetzigen Form. Denn gerade in den ersten Jahrhunderten gibt es ein starkes Übergewicht an Prestige und Gelehrsamkeit im Osten. Theologisch ist die Ostkirche das erste halbe Jahrtausend des Christentums und noch darüber hinaus führend. Die großen Gelehrten, die das Christentum zu einem Rechtgläubigkeitssystem ausformen bis in die Einzelheiten hinein, sind ja überwiegend in Konstantinopel und Umgebung tätig.
Ohne diese Konstruktion des römischen Vorranganspruchs durch die Petruslegende und dann durch die entsprechende Auslegung der Verse in Matthäus 16 "Ich bin Petrus. Auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen", ohne diese Konstruktion eines Vorrangs hätte sich das Christentum nicht verflüchtigt, glaube ich. Aber es hätte sich ganz anders eingefärbt. Es wäre stärker östlich, stärker griechisch geprägt worden. Aber das sind Spekulationen.
Ob es sich in der Staatenwelt der späteren Jahrhunderte hätte behaupten können, ist auch fraglich. Denn zu diesen beiden Ansprüchen, Herr der Kirche mit uneingeschränkter Rechtshoheit über alle Kleriker, alle Mitglieder der Kirche und Oberhoheit über die weltlichen Machthaber zu sein, kommt dann ja noch ab dem 8. Jahrhundert allmählich ein eigener Staat. Und dann auch schon sehr früh und zeitweise sehr mächtig der Papst als Familienchef, der eben auch die weltlichen Belange seiner Blutsverwandten ausgezeichnet zu fördern versteht.
Volker Reinhard: "Pontifex - Die Geschichte der Päpste"
Verlag C. H.Beck, München 2017. 928 Seiten, 38,00 Euro.
Verlag C. H.Beck, München 2017. 928 Seiten, 38,00 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.