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Philippika gegen die Schnelllebigkeit

"Termini", benannt nach Roms Hauptbahnhof, der Stazione termini, ist der bisher umfangreichste Roman von Dorothea Dieckmann. Das Buch stellt die Geisteshaltungen seiner Protagonisten im Umgang mit der Vergangenheit auf die Probe - in welcher Stadt gelänge das besser als in Rom?

Von Cornelia Staudacher | 25.01.2010
    In ihrem Essay über "Die Erfindung der Vergangenheit" bezeichnet Dorothea Dieckmann die Erinnerung als ein Fundament der Literatur und sagt, "noch, und immer wieder noch, ist das Gewesene nicht zu Ende. Wer mit der Vergangenheit abschließt, hat mit dem Leben abgeschlossen."

    Wie kaum eine andere Stadt ist Rom geeignet, diese These zu belegen. Die Stadt hat sie wie keine andere fasziniert und nie wieder losgelassen.

    "Ich habe dort ein Jahr lang mich durchgeschlagen, habe dort gelebt
    im Kampf mit dieser Stadt, die ja durchaus verschiedene Seiten hat. Ich sage nur R.D. Brinkmann, der hat das wunderbar beschrieben, das Hell-Dunkel, das Schillern, das Ambivalente dieser Stadt, das wirklich Flackernde, Düstere, Helle, dieses Chiaroscuro, das mein Roman ja auch sehr stark aufnimmt. Die zweite wichtige Eigenschaft von Rom ist, dass es die Vergangenheit in einer Weise konserviert und ausstellt, als würden mit diesen riesigen antiken Trümmern die blanken Knochen des Früheren freiliegen. Es ist eine Stadt, die ja nicht umsonst Freud als eine der Stätten der Seelenarchäologie bezeichnet, und hinzukommt, dass es die christliche Hauptstadt des Abendlands ist, ein symbolischer Ort quasi, ich sage einfach mal platt, von Himmel und Hölle, vom Höhlengleichnis bis zu Dante im Grunde dort alles beisammen."
    Da liegt es nahe, diese Stadt zum Fokus eines Romans zu machen, der die Seelenzustände und Geisteshaltungen seiner Protagonisten im Umgang mit der Vergangenheit auf die Probe stellt und auf ihre Wahrhaftigkeit prüft, indem er Einzelschicksale und zeitgeschichtliche Ereignisse miteinander in Beziehung setzt und ineinander spiegelt.

    Drei Lebensgeschichten werden dargestellt: Da ist zunächst Ansgar Weber, ein junger, ehrgeiziger Journalist, der von dem Magazin, für das er arbeitet, nach Rom geschickt wird, um vom Prozess gegen den Naziverbrecher Priebke zu berichten. Erich Priebke war mitverantwortlich für die Morde an 360 Männern in den Ardeatinischen Höhlen im März 1944 und lebte seit Kriegsende unbehelligt in Argentinien, bis er 1995 an Italien ausgeliefert wurde. Als er am 1. August 1996 nach einem dreimonatigen Gerichtsverfahren freigesprochen wird, kommt es in Rom zu heftigen Straßentumulten. Zwei Monate später hebt ein Kassationsgericht den Freispruch auf und verurteilt Priebke zu fünfzehn Jahren Gefängnis. Der Roman spielt in den Tagen während des ersten, mit Freispruch endenden Prozesses, über den Ansgar Weber berichten soll.

    Die beiden anderen Personen, denen Weber begegnet, sind Walter Haymon, ein Kartenleger, Magier und Lebenskünstler, der den Touristen auf der Piazza Navona die Zukunft voraussagt, und Lydia Marin, eine 80-jährige, einstmals berühmte Schriftstellerin, die sich nach einem vorgetäuschten tödlichen Unfall in den Bergen in Rom in die Anonymität zurückgezogen hat.

    Aber statt solche Begegnungen zu nutzen und schriftstellerische Funken aus ihnen zu schlagen, verliert Ansgar Weber mehr und mehr den Boden unter den Füßen und irrt ziellos durch die Straßen und Plätze der Stadt. Schon kurz nach seiner Ankunft an der Stazione termini, diesem kolossalen Travertin-Säulenbau, der 1938 auf Geheiß des Duce errichtet wurde, vergisst er den eigentlichen Zweck seiner Reise, den Priebke-Prozess. Die Tonband-Aufzeichnungen des Gesprächs mit der 80-jährigen Schriftstellerin findet er am nächsten Tag zerfleddert in der Mülltonne ihres Hauses wieder. Und als er schließlich in den Bannkreis des Magiers gerät, fühlt er sich der geschichtsschwangeren, rätselhaften Stadt ausgeliefert wie ein Opfer einer Verschwörung.

    "Ansgar Weber ist so was wie eine blinde Kuh, der mit der Binde vor den Augen diese Stadt durchquert und umringt ist von Figuren, einschließlich dieser wichtigen Figur des Zauberers, die ihm alle etwas zu sagen hätten. Sie sind auch wie ein Reigen miteinander verbunden, jede dieser Figuren hängt mit jeder zusammen. Sie tanzen quasi um ihn herum und er ist nicht imstande, sie zu packen, und dort etwas zu finden, dort zu leben."
    Im Gegensatz zu Ansgar Weber verkörpert Walter Haymon einen intuitiven, künstlerischen Menschen, der dem Leben gegenüber offen und bereit ist, sich überraschen zu lassen. Haymon, ebenfalls deutscher Herkunft, ist nach Rom gezogen, um der Enge seines Elternhauses zu entkommen. Nach dem Tod eines früheren Geliebten, an dessen Hergang er nicht unschuldig war, gewann er gerade dadurch neue Lebenskraft, dass er sich den Zweifeln, Fragen und Schuldgefühlen stellte.

    "Walter erscheint zwar am Anfang als jemand, der in irgendwelchen unwirklichen Sphären lebt, im Grunde aber steht er mit beiden Beinen, beiden Armen, mit dem Kopf, mit dem Bauch im Leben. Also es ist eine höchst lebendige Figur. Und das Schöne am Schreiben ist, dass man mit diesen Figuren ja zusammenlebt. Ich habe die nicht am Reißbrett geplant, sondern ich habe sie losgeschickt und dann geschah es, dass dieser Ansgar sich immer mehr in die Irre bewegte, während Walter immer mehr Leben bekam. Und ich muss fast sagen, dass ich es sehr bedaure, dass ich ihn habe sterben lassen, denn er ist mir als solcher sehr ans Herz gewachsen."

    Die Offenheit der Autorin gegenüber ihren Figuren und die Bereitschaft, sich von ihnen überraschen zu lassen, macht einen wesentlichen Reiz dieses opulenten, thematisch und motivisch überquellenden Romans aus, der durch eine Reihe literarischer, zeit- und kulturgeschichtlicher Referenzen eine zusätzliche Bereicherung erfährt. In einer Sprache, die kunstvoll, aber nicht gekünstelt ist, und einem Stil, der zwischen Pathos und Intellektualität geschickt changiert und über eine hohe Suggestionskraft verfügt , ist es der Autorin gelungen, die Fülle des Stoffs zu bündeln und in eine epische Form zu bringen, die dank ihrer topografischen Genauigkeit und theatralischen Wirksamkeit auch als Vorlage zu einem Film denkbar wäre.
    Je mehr es dem Ende zugeht, umso enger verschmelzen die verschiedenen Erzählstränge miteinander zu einem vielstimmigen Reigen seliger und unseliger, geheimnisvoller Geister einer trügerischen Gegenwart, hinter denen die Suche nach einer wie auch immer gearteten Wahrheit, oder besser: Wahrhaftigkeit als Intention der Autorin aufscheint.

    "Ich habe ja am Anfang des Romans den Gang in die kleine Kirche mit den drei Caravaggio-Bildern beschrieben, wo das Schicksal des Evangelisten Matthäus in drei Bildern geschildert ist. Matthäus ist eben der Prototyp des Zeugen, der für sein Zeugnis sein Leben aufs Spiel setzt und letztlich auch als Märtyrer verliert. Und das ist für mich sozusagen der Inbegriff des Wahrheitssuchers und Wahrheitsbezeugers. Dieser Roman handelt von der Wahrheitssuche oder vom Problem der Wahrheit im durchaus moralischen Sinn. Sagen wir mal, es ist das gute alte Zeugnisablegen, das mir hier als Thema am Herzen liegt. Das betrifft das eigene Schreiben, das betrifft den Komplex des Journalismus, der hier im Zentrum steht, und das betrifft natürlich auch die Figur des Wahrsagers, der eine ganz andere Form der Wahrheitssuche verkörpert, die ins Jenseitige zielt, die mystisch ist, die aber auch in die Tiefe geht, die einen religiösen Aspekt hat. Diese drei Formen der Wahrheitssuche kulminieren in dieser Stadt, die einen sozusagen dauernd in die Irre führt, die einem die Wahrheit bietet, aber vorenthält."
    So wird die zwischen Traum und Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszillierende Stadt mit ihrer inspiratorischen Kraft zu einem Hauptmotiv des Romans: Die Stadt der Bachmann und Wolfgang Koeppens, die Stadt Dantes und Caravaggios, Fellinis und Rossellinis – das letzte Kapitel ist "Rom, offene Stadt" betitelt -, wird zur Bühne eines lebendigen Welttheaters, auf der die Autorin die Bewusstseins- und Gefühlszustände ihrer Protagonisten anschaulich in Szene setzt.

    Atemberaubend die nächtliche "Höllen-Fahrt", die Haymon mit Ansgar Weber auf seinem Motorino unternimmt, die Via Appia Antiqua entlang zu den Unterwelten der Ardeatinischen Höhlen, in deren Innerem der junge Journalist vor die Kamera sensationsgieriger Kollegen gezerrt wird, die ihn zum Ausgang des Priebke-Prozesses befragen wollen. Aber damit nicht genug, stößt er bei seinem Irrgang im Labyrinth der Höhlen noch auf ein anderes Fernsehteam, das ihre temporäre Öffnung als Kulisse für pornografische Szenen nutzt. Das Katakomben-Kapitel in seiner fantastisch-gespenstischen Aura weckt Assoziationen an die Konjunktion zwischen Zauberwelt und Kleinbürgermentalität in den Fantasie- und Nachtstücken E.T.A. Hoffmanns.

    Der Roman ist nicht nur eine fulminante Hommage an die Ewige Stadt am Tiber. Er ist auch eine Philippika gegen die Schnelllebigkeit und mediale Gedanken- und Instinktlosigkeit in einer zu Geschichtsvergessenheit und Oberflächlichkeit neigenden Zeit.

    Dorothea Dieckmann: "Termini". Roman.
    Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 315 Seiten, 21,90 Euro